Interviewerin: Martina Pfeiffer

"'[…] Wir haben doch unsere Träume und Hoffnungen nicht, um sie in uns zu begraben. In unserem Inneren sterben sie nämlich irgendwann, wenn wir sie nicht nach draußen tragen. Wir sollen dieses Lied, das uns am Anfang aller Tage in die Seele gepflanzt wurde, tatsächlich singen und den Klang in die Welt hinauslassen. Doch was mache ich, wenn ich keine Stimme mehr habe? Oder nicht weiß, wie ich sie zum Klingen bringe?'" (S. 32). Julia, die das eben Gelesene sagt,  werden wir bei fortschreitender Lektüre des dialogstarken Romans Der Himmel muss warten näher kennenlernen. Ebenso Hatice, Alex, Jan, Hakan und Holger. Zuanfangs ist die Protagonistin Maria Parker noch gänzlich in ihren negativen Denk- und Gefühlsmustern befangen. Im Handlungsverlauf des Buches aber reifen in Maria neue, lebenszugewandte Überzeugungen. Sandra Reichert versteht sich mit ihrem Buch als Mutmacherin.

In "Der Himmel muss warten" macht die  Protagonistin Maria Parker Erfahrungen, die ihre bisherige negative Weltsicht verändern. Wodurch wird das angestoßen?
S.R.: Nun, die Verbundenheit sowie Nähe zu Menschen, die sie berühren ist ein wesentlicher Faktor auf dem Weg. Deren Entscheidungen werden dann zum Katalysator ihrer eigenen inneren Prozesse.

Intensive Gespräche mit Menschen ihres Vertrauens bedeuten für Maria, ich zitiere: "Das Gefühl, Boden unter den Füßen zu gewinnen. Eine Ahnung von – Hoffnung, von Verbundenheit, Vertrautheit, sogar Mut für die – Zukunft." Ein unbändiges Interesse am anderen Menschen erwacht, so lese ich ihren Roman. Echte Zuwendung tritt an die Stelle belanglosen Palavers: Begreifen Sie selbst Leben als Mit-Sein und Werden-Können?
S.R.: Unbedingt. Darin liegen für mich unauslöschlich Hoffnung und der Zauber, gar Potenz des Lebens als Lebendiges. Zärtlichkeit auch in kommunikativen Gesten des miteinander Mensch-Seins und der feste Glaube an Blochs Prinzip Hoffnung, daran, das alles, was noch nicht ist, noch werden – sein kann – ich halte das gerade in Zeiten von Krisen für eine überlebenswichtige Perspektive und Haltung. Unabdingbar für menschliche Existenz. Ich schöpfe daraus immer wieder Mut und Kraft.

Wir haben uns beim ersten Treffen über Hannah Arendt unterhalten. Sie sagten, diese Philosophin war wegweisend für Ihr eigenes Denken und Schreiben. Wichtige Begriffe bei Hannah Arendt sind Freundschaft, Dankbarkeit und Dialog. Inwieweit hat das etwas mit Ihrem Roman zu tun?
S.R.: Es sind ja diese Komponenten, die auch Maria zurück ins Leben führen. Die Erfahrung von Verbundenheit, von Anteilnahme, die sogar Vergebung ermöglicht und freundschaftlicher Liebe oder liebevoller Freundschaft, die ihr in der kurzen Zeit doch auch für sie unleugbar zuteil werden. Alles über Dialoge mit den Mitpatient:innen, dem Klinikpersonal sowie der Gespräche mit sich, wie wir sie im Tagebuch begleiten. Auch dies, das Selbstgespräch, ein elementarer Baustein in Hannah Arendts Denken: Die Einsicht, dass wir bis zum Schluss vor allem mit uns selbst sind und leben, vor uns selbst bekennen, Zeugnis ablegen sowie Verantwortung übernehmen müssen: für das, was wir getan sowie unterlassen haben. Maria entdeckt durch diese Begegnungen auch sich neu – etwas, was sie endlich als Geschenk dankbar anzunehmen lernt. Dank dieser Gespräche und daraus resultierender Emotionen wird erst der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein überhaupt erfahrbar: Wer authentisch mit dieser Welt und anderen verbunden ist, sich zeigt und gesehen, erkannt wird, sich dabei angenommen fühlt, kann allein mit sich doch nicht mehr einsam in der Welt sein. So wirken wir einander wie Anker und Leuchttürme, die sich in der Welt und auf Kurs halten – auch bei Nebel und Sturm trotz aller Untiefen.

In der Mitte Ihres Buches – sicher nicht von Ungefähr in der Mitte – platzieren Sie die Bezugnahme auf den Film "Der Club der toten Dichter". Und damit auf Walt Whitmans Gedicht: "Oh Captain, my Captain!" Brauchen wir Leitfiguren, um hoffen zu können?
S.R: Für mich kann ich das bejahen. Es liegen Trost in dem Wissen, dass andere vor einem existentiell an Ähnlichem gelitten haben, verzweifelt, gar gescheitert sind. Und auch, dass es mancher Seele vor einem gelungen ist, all das zu überwinden und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen von Glück zu gestalten. Die Erinnerung daran, dass Erfahrungen von Schmerz und Verzweiflung zur menschlichen Existenz gehören, sie jedoch nicht das Ende der Geschichte sind, ist für mich Anlass, auch Quelle neuen Mutes; unverzagt weiter. Sie haben völlig recht mit der Vermutung keiner Zufälligkeit der Platzierung dieser Referenz. Mir gaben sowohl der Film als insbesondere auch das zitierte Gedicht das Gefühl von Heimat in dieser Welt, von Verbundenheit und dem Gefühl, ein – wenn auch winzig winzig kleiner – Teil von etwas Großem zu sein, an dem ich Anteil habe. Dieses Gefühl der absoluten Verzweiflung, der scheinbaren Ausweglosigkeit in Anbetracht von Monotonie und Einsamkeit in einer Welt, die einen mitunter mitsamt Träumen verlacht und sich anscheinend nicht um Individualität schert wie im Gedicht festgehalten – und die Erinnerung daran, dass diese Erfahrung so alt ist wie die Menschheit selbst und es dabei selbstredend darum geht, stand zu halten; sich in seinen Farben zu zeigen, zu strahlen und dem zu folgen, wonach das eigene Herz sich sehnt, ruft und verlangt. Jede Stimme zählt; jede ist einzigartig, nach jeder hatte das Universum Sehnsucht.

Würden Sie ein bisschen aus Ihrem "literarischen Nähkästchen" erzählen? Von der Ideenfindung, über meinetwegen den Plot und die Erzählperspektive – bis zum Verlagskontakt, wenn das Manuskript fertig vorliegt?
S.R.: Die Idee lag in Form der ersten Seite seit Jahren in meiner Schublade. Damals noch auf der Schreibmaschine geschrieben. Anfang 2021 arbeitete ich noch als Lehrkraft in einer Berliner Grundschule und durfte anerkennen, mich auf dem Weg in die nächste große psychische Krise zu befinden. Ich zog die Reißleine, kündigte und widmete mich zum ersten Mal konsequent meinem Traum: dem vom Schreiben. Der Plot war dem jetzigen sehr ähnlich, beinhaltete jedoch Slapstick-Elemente. Diese haben meine Figuren mir Stück für Stück ausgeredet. Überhaupt ist Schreiben ein auf vielen Ebenen kreativer Prozess: Die Protagonist:innen führen ja ein eigenes Leben, haben ihre Vorstellungen von der Geschichte und davon, wie sie sich vermittelt wissen wollen. Hört man nicht hin und respektiert das, verstummen sie. So wurde es einerseits ernster, dafür auch wärmer, näher, unmittelbarer – sie vertrauten sich mir immer mehr an. So kam auch der Humor in die Geschichte, nach dem ich oft gefragt werde. Es sind meine Figuren; ich kann da nichts für, ich habe sie einfach erzählen lassen. Sie wollten sowohl ihren Schmerz aber vor allem ihre Hoffnung teilen. Mit dieser haben sie auch mein Leben bereichert. Denn während mir Bekannte zu Beginn wortwörtlich vom Vorhaben abrieten, weil ich „weder Verlag, noch Agentur oder beachtliche Fangemeinde“ hätte, könne das – also ich – nur scheitern.
Ich nahm das als Motivation. Während ich selbst als Depressionsbetroffene auch das Imposter-Syndrom kenne, galten Limitationen von außen für mich meist als besondere Motivation und Ansporn. Also schrieb ich weiter; bewarb mich um das Recherchestipendium der Berliner Senatsverwaltung, erhielt es – die Frist für das Arbeitsstipendium hatte ich verpasst aus Angst, mein Exposé wäre zu schlecht; nahm an einem Salzburger Literaturwettbewerb teil und gewann. Darüber fand mich dann der Verlag. Ich erzähle diese Geschichte vor jeder Lesung: um Mut zu machen und Menschen als Beweis dafür zu dienen, dass man seinen Träumen auch gegen und trotz Zweifel, Zweifler und Widerstände erfolgreich verfolgen kann.

Ein Vorbild für Ihr Schreiben ist, wie Sie im Vorgespräch gesagt haben,  die Nobelpreisträgerin Toni Morrison. Toni Morrison wiederum, nach ihren Vorbildern gefragt: da fallen als erstes die Namen Jane Austen und Leo Tolstoi. Sind wir  Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen?
S.R.: Immer! Wir lernen von denen, die vor uns kamen und waren. Und: ohne Lesen kein Schreiben. Dabei bleibt wichtig, die eigene Stimme zu finden. Hier hilft nur üben, üben, üben, also schreiben, schreiben, schreiben und: lesen. Zu Abizeiten war ich tief von Hegel beeindruckt und habe seitenlange Sätze formuliert. Immerhin grammatikalisch korrekt, was meinen Deutschlehrer beeindruckte. Jedoch war ich so verliebt in das Formulieren ellenlanger Schachtelsätze, dass ich die Vermittlung von Bedeutung, insbesondere die explizite Begründung darüber verlor. Für mich stand alles in und zwischen den zahlreichen Zeilen. Das wiederum hat mich die Uni und eben insbesondere die Lektüre von Autor:innen wieder überwinden, ablegen lassen und mich gelehrt, was einen literarischen Text zu einem ästhetischen macht. Neben aller Technik, die also Handwerk ist und die man erlernen kann, bleiben Kreativität, die Interaktion mit den Figuren und ein eigener Stil – das bleibt Magie.

Eine private, vielleicht sogar intime Frage: Gibt es für Sie eine literarische Schlüsselstelle, die Sie in Ihrem Leben schon über lange Strecken begleitet?
S.R.: Mehrere. Um ein paar in der Reihenfolge zu nennen, in der sie in mein Leben traten: Albert Schweitzers Freiheit, Dorothy Parkers Resumee, Stillers Tortenschuss, der Beginn von Toni Morrisons Recitatif und der Schluss von Charlotte Perkins Gilmans Yellow Wall-Paper.

Bleiben wir beim Privaten: Welche Lektüre lag zuletzt bei Ihnen auf dem Nachtkästchen? Dürfen wir das erfahren?
S.R.: Elif Shafaks Die vierzig Geheimnisse der Liebe

Bevor ich mich dann ganz herzlich bei Ihnen bedanken darf, noch die eine Frage, Sandra Reichert: Welche/n Autor/in hätten Sie gerne in Ihrem Freundeskreis?
S.R.: In alphabetischer Reihenfolge: Annie Ernaux, Astrid Lindgren, Hermann Hesse, James Baldwin, Mareike Fallwickl, Max Frisch, May Ayim und Michael Ende. Dürfte es nur einen Namen geben: Hannah Arendt.

Sandra Reichert, Jahrgang 1979, geboren in Nauen, kam 1984 über Umwege nach West-Berlin. Sie studierte Philosophie an der FU Berlin,  u. a. bei Peter Bieri, auch bekannt als Pascal Mercier. Sie erwarb Abschlüsse in  den Fächern Anglistik, Germanistik sowie Amerikanistik an der HU Berlin. Ihre Schreibwut ließ sie an Texten zu Nationalismus, Heteronormativität und Fragen zur Verbindung nach Nation und Körpern aus. So entstanden deutsche und englische Beiträge für zahlreiche Onlinemagazine. S.R. erhielt das Recherchestipendium der Berliner Senatsverwaltung und gewann im Februar 2022 mit ihrem Manuskript „Wenn dich der Himmel nicht will, versuch’s in der Hölle“ den Literaturwettbewerb des Literaturhauses Salzburg. Im September desselben Jahres erschien ihr Debüt unter dem Titel „Der Himmel muss warten“ im Müry Salzmann Verlag.  Neben Lesungen, wie  im Rahmen des ilb 2022 und auf verschiedenen Berliner Kleinkunstbühnen, kooperierte sie mit dem Berliner Vivantes Klinikum  und dessen Anlaufstellen Soulspace sowie Fritz am Urban. Beides sind Interventionszentren für junge  Menschen in Krisensituationen. Zuletzt verfasste sie Gastkommentare für Zeit online zum Thema Bildung online (03/2023) und für den Berliner Blog Hauptstadtmutti (01/2023).