"Künstliche Intelligenz - die Kunst hat eine neue Spielwiese"
Essay von Markus Feiler
Den Pinsel eintauschen gegen Zeichen-Pens und Grafiktabletts? Faszination an KI-basierenden Text-zu-Bild-Generatoren wie Midjourney, DALL-E oder Stable Diffusion? Sobald Künstliche Intelligenz ins "Spiel" kommt, zeitigt dies erhebliche Auswirkungen auf die Bildende Kunst und die gesamte Kreativbranche. Spannende Fragen, die Feilers Essay im Nachgang provoziert: Ist es in Anbetracht der in der Künstlichen Intelligenz angelegten Potenziale und Risiken nicht hohe Zeit verbindliche Kategorien neu zu evaluieren, die den Menschen sowohl existentiell als auch im Kontext der Kunst betreffen – Bewusstsein, Geist, Intelligenz, Urteilsvermögen, freier Wille, Empathie, Intuition und Kreativität? Welche Rolle übernimmt dabei eine selbstbestimmende, eigenschöpferische KI? Muss uns die Omnipräsenz der KI und der Vormarsch der künstlichen Kunst Angst machen? Mit einem Plus an Eigenfantasie, gepaart mit kritischer Medienkompetenz und verantwortlicher Weitsicht wohl nicht. Markus Feilers essayistische Ausführungen und seine Plausibilierungen wirken der Auffassung von KI als Blackbox entgegen. Der Konzeptkünstler lenkt den Blick auf die zukunftsfähigen Synergien, die zum Teil jetzt schon am Werk sind, ohne dabei einem Innovations-Overload zu huldigen.
Hörtext und Sprecher: Markus Feiler
Briefe handverfasst – Alles andere als angestaubt
Zum Welttag des Briefeschreibens Zeilen von Clara Wieck und Robert Schumann
"[…] ich habe nur einen Sinn: für Dich […] Hassen könnt ich, wer Dir grollt, doch auch lieben, wer Dir wohl will; alles in Dir, alles durch Dich! […] Auf die 2te Sonate freue ich mich unendlich, sie erinnert mich an viele glückliche und auch schmerzhafte Stunden […]" (Clara Wieck an Robert Schumann, 02. März 1838). Briefe – heutzutage ein wirksames Mittel gegen Hast und Schnelllebigkeit sowie gegen eine Schreib"kultur", die sich an der Oberfläche bewegt. Das schnell Hingesetzte geht in Führung. Und doch haben Briefe die Geschichte der Menschheit begleitet und Einfluss auf sie genommen: auf Krieg und Frieden, Kunst und Kultur. Brisantes Gedankengut, vertrauliche Absprachen oder auch heimliche Liebesaffären – dem Papier vertraute man sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Das Schreiben per Hand scheint intime Hinwendung zu beinhalten und Augenblicke der Erleichterung zu verschaffen. Der Brief war und ist etwas Besonderes. Was macht das Briefeschreiben so apart? "Mehr als Küsse", sinniert der Dichter John Donne, "vereinen Briefe Seelen". Den Welttag des Briefeschreibens hat der amerikanische Künstler, Fotograf und Autor Richard Simpkin am 1. September 2014 ins Leben gerufen. Clara Wieck wurde am 13. September 1819 geboren. Ihr 205. Geburtstag steht also bevor. Der frühe Briefwechsel zeigt die Zartheit der ersten geknüpften Bande zwischen zwei herausragenden Talenten der Musikgeschichte. Eine Vielzahl von Briefen sollte folgen. Diese sind in der Schumann Briefedition in mehreren Bänden gesammelt. Geheiratet hat das Paar am 12. September 1840. M. Pfeiffer
Text: Briefwechsel von Clara Wieck und Robert Schumann, Juli 1833
Sprecher/in: Gudrun Thiem und Ernst Belschner
TaFF-Theater im Labsaal Lübars, Partner des Kulturring im BFD
Vom Suchen und Finden der eigenen Gangart
Kornelia Boje liest aus "Gesang der weißen Wände" (Roman)
"Verdammt Esther, hör auf mit der ewig Unfertigen, Unvollendeten, ja, ja, ja, du bist unvollendet, ich bin unvollendet, wir alle sind unvollendet und das muss auch so sein. Wer würde sich denn sonst um all das bemühen, aus dem Kreativität entspringt, aus dem Liebe entstehen kann, aus dem heraus sich die Welt überhaupt noch dreht? Du bist arrogant, auch dir selbst gegenüber, ja, Esther, selbstgerecht und maßlos, ja das bist du! Nimm dich hin, wie du bist, hör auf zu lügen […] Unfertig, unvollständig, unvollendet! Vollendet! Schuberts Unvollendete ist vollendet! […] (S. 46)
Tagtäglich gehen wir unzählige Schritte und haben schon fast die Wertschätzung dafür verloren, was es heißt, Fuß vor Fuß setzen zu können, ohne den geringsten Schmerz. Es sind sorglose Schritte, weil gedankenlos. Esther hat von Geburt an einen Wirbelsäulenschaden. 124 Tage Liegegips, Gipskorsett, die Knochentransplantation ein Reinfall – Esthers Hoffnungen, sich bewegen zu können wie andere junge Frauen, zergehen. Ihre Selbsteinschätzung, deswegen "unvollendet" zu sein, belastet ihre Beziehung. Allen Widrigkeiten zum Trotz macht sie ihren Weg und arriviert als Journalistin. Ihr Freund Sebastian, nach einem Autounfall verletzt, gibt die Karriere als Solist in der Musik auf. Der Gedanke, der Mensch als solcher bleibe, so sehr er sich bemüht, doch immer "unvollendet", zieht sich leitmotivisch durch Kornelia Bojes Buch. Für diese Erkenntnis, die sich gegen jeden Perfektionismus als überzogenen Anspruch an sich selbst wendet, schafft die Autorin im Romanverlauf eine Akzeptanz. M.Pfeiffer
Text: "Gesang der weißen Wände" (Roman)
Autorin und Sprecherin: Kornelia Boje
Wo die Risse verlaufen, wo sie sich schließen
Roswitha Schieb belichtet 30 deutsche Lebensläufe
Eine junge Frau, Jahrgang 1990, erzählt im Kulturzug Berlin-Breslau, sie habe als einzige Deutsche in Warschau an einem internationalen Workshop teilgenommen. Die Zusammenarbeit ist freundschaftlich. Aber als sie in der Gruppe eine KZ-Gedenkstätte besichtigt, tut sich eine unsichtbare Wand zwischen ihr und den anderen auf, gehöre sie doch zu diesem grauenvollen Volk der Täter, das sei nicht zu überbrücken oder zu überspringen. Diese Verlautbarung ist dem Buch: "Risse – 30 deutsche Lebensläufe" vorangestellt. Roswitha Schieb rückt Einzelschicksale – Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft – ins Blickfeld, beginnend mit der "Vorgeschichte" über die NS-Zeit bis in die Phase des Kalten Krieges und die Nachwendezeit. Die "Risse" in der Historie Deutschlands lassen sich auch heute ausmachen. Die Autorin deckt die Denkmuster und den Sprachgebrauch der Ewiggestrigen auf und rückt ins Bewusstsein, welche geistigen und rhetorischen "Schablonen" diese abrufen. Ziel der Sensibilisierung: Das Verantwortungsbewusstsein befördern für eine Gestaltung der Zukunft, die mit der Vergangenheit geschuldeten "Rissen" umzugehen weiß und sie – in der Kunst und lebenspraktisch – so gut es geht schließt. Roswitha Schieb, 1962 in Recklinghausen geboren, studierte Literatur- und Kunstwissenschaft in Köln und Berlin. Sie lebt als freie Buchautorin in Borgsdorf bei Berlin. R.S. publizierte u.a. zum Thema Mittelosteuropa sowie zur Kunstgeschichte und zu berlinspezifischen Themen.
Florales Geflüster
Zu Johann Wolfgang von Goethes 275. Geburtstag
Sich der Natur zuzuwenden heißt bei Johann Wolfgang von Goethe sich zu besinnen. Goethes botanische Studien sind auf das geistige und künstlerische Leben bezogen. Blüte und Frucht sind dem Dichter die Erfüllung des Geisteslebens. "Gefunden" (1813) verblüfft durch stilisierte Naivität. "Nichts zu suchen" ist der Sinn. Das Gedicht steht in bewusstem Gegensatz zur gelehrten Systematik der Naturforscher, man denke etwa an Carl von Linné. Der wiederum hatte die wissenschaftliche Nomenklatur in der Botanik eingeführt. Bei Goethe bleibt das Blümlein namenlos. Das lyrische Ich tritt als die Natur Erfahrender auf, für den eben diese sinnliches Erleben ist, nicht Forschungsobjekt im Labor und nicht naturkundliches Sammelstück in Vitrinen. Ganzheitliches statt zergliederndes Denken – dafür steht Goethes Gedicht. Die Blume, die zum Menschen "fein" spricht: der sie findet und ihre Stimme hört, gräbt sie im Wald – ohne sie zu brechen –, bedachtsam "mit allen den Würzlein“ aus und pflanzt sie wieder. Gibt ihr einen neuen Platz, zwar in der Nähe eines "hübschen" Hauses und damit im Einzugsbereich der Menschen und ihrer Kultur, und doch fernab aller Geschäftigkeit. Damit das Blümlein sich seiner Natur gemäß entfalte, immerfort zweige und Blüten trage. Naturbewahrendes, ökologisches Denken, lange bevor dies überhaupt gesellschaftlich diskursfähig werden sollte. M. Pfeiffer
Johann Wolfgang von Goethe: "Gefunden" (Gedicht)
Sprecherin: Kornelia Boje
Die geschärfte Sicht auf Unseresgleichen
Zum 100. Todestag Joseph Conrads: Lesung aus "Taifun" (Roman)
"Den Federhalter im Mund blickte er durch die offene Tür, und in diesem Bildausschnitt sah er zwischen den teakhölzernen Türpfosten all die Sterne am schwarzen Himmel in die Höhe fliegen. Der ganze Haufen flog hoch und verschwand; was zurückblieb, war eine schwarze Fläche mit weißen Flecken, denn das Meer war so schwarz wie der Himmel und so weit man sehen konnte mit Schaum gesprenkelt. Die Sterne, die durch das Rollen geflohen waren, kamen mit dem Rückschwung zurück und stürzten in ihrer glitzernden Vielzahl herunter, nicht wie feurige Punkte, sondern zu kleinen Scheiben vergrößert, die in hellem, feuchtem Schimmer funkelten. Einen Augenblick beobachtete Jukes die fliegenden Sterne, dann schrieb er: »Acht Uhr abends. Dünung wird immer höher. Schiff arbeitet schwer und nimmt häufig Wasser über Deck. Luken der Kulis für die Nacht gesichert. Barometer fällt weiter.« Er unterbrach seinen Eintrag und dachte bei sich: »Vielleicht hat das ja gar nichts zu bedeuten.« Aber dann beendete er entschieden seinen Eintrag: »Alle Anzeichen eines bevorstehenden Taifuns.«"
Mit nicht einmal 17 Jahren macht Jósef Teodor Konrad Korzeniowski den Schritt in eine andere Kultursphäre, wird vom "Land"-Mann zum Seemann. Als Schriftsteller wird er sich des Englischen bedienen, was nicht seine Muttersprache war. Seereisen hatten Joseph Conrad nach Südamerika, Australien, Südostasien und Afrika geführt und seine Sicht auf das Dasein und Unseresgleichen in einer Weise geschärft, die ihn befähigte, auf unexaltierte Art und in kühler Diktion ebenso kunstvoll wie einnehmend zu erzählen. Der Roman "Taifun" (1902) zeigt dies beispielhaft. Der Autor des Bestsellers "Das Boot", Lothar-Günther Buchheim, räumt ein, Conrad sei sein Lehrmeister gewesen. "Seine Sätze klingen aus einer anderen Zeit her in die unsere der Riesentanker und Containerschiffe herein. Und doch sind sie mir, über die trennenden Zeitläufe hinweg, aus der Seele gesprochen – sie rühren mich an." Am 03. August 2024 jährt sich Joseph Conrads 100. Todestag.
Text: Taifun (Roman), Verfasser: Joseph Conrad, Deutsche Übersetzung: Martin Regenbrecht, Sprecherin: Katharina Zeilinger
Andrea Chudaks Histörchen von Malör(chen) im Zeichen des Notenschlüssels
"Keine Sorge, wir machen das zum ersten Mal!" (Lesung)
Das klappt ja wie geschmiert – zunächst, aber in der Folge läuft's anders als geplant. Dann wieder ist von vornherein der Wurm drin und es kommt einiges zusammen. Wenn "Murphys Gesetz" bei der musikalischen Darbietung durchschlägt, sind die quietschenden Pedalen des Flügels, Wackelkontakte in Leuchten am Notenpult und vertauschte Notenblätter noch das Geringste. Andrea Chudak, die bei "Hanns Eisler" in Berlin Gesang studiert hat, erzählt Anekdoten über Musizier- und Sangesfreuden, mit einer guten Prise von allerhand Unvorhergesehenem gewürzt, in: "Keine Sorge, wir machen das zum ersten Mal!". Sei es Schuberts "Ave Maria" in der Kirche der italienischen Gemeinde Charlottenburg-Wilmersdorf und damit im Ambiente des Sakralen, als die Sopranistin nach zahlreichen Wirrnissen einen Einsatz gibt, den in dieser Form keiner auf der Rechnung hatte. Sei es der Abend, an dem sie die Opernarie der Leonore aus Beethovens "Fidelio" im sächsischen Langenbernsdorf anstimmt und den verduzten Tonmeister mir nichts, dir nichts stimmgewaltig in Gesangsvortrag und Bühnengeschehen einbindet. Oder die nichtsahnende Vermittlung zu einem Show-Wettbewerb im Tempelhofer Nachtclub "La vie en rose": Zwischen nackten Hula-Hoop-Girls, Travestiekünstlern und einer sich im Champagnerglas räkelnden Dame erklingt aus dem Munde der jungen Musikschulabsolventin "Das Veilchen" von Wolfgang Amadeus Mozart. Sie in bodenlanger schwarzer Konzertrobe und nicht gerade tiefenentspannt. Doch versprochen, alles nimmt ein gutes Ende! M. Pfeiffer
Autorin und Sprecherin: Andrea Chudak
Technische Realisation: Studio P4
Andrea Chudak und ihr Mann Stefan Roberto Kelber werden im Projekt "Begegnungen Wort-Wörtlich" den Interview-Reigen des Jahres 2025 im Januar eröffnen. Die Autorin liest am 11. Februar 2025 um 19 Uhr in der Veranstaltungsreihe „Baumissimo!“ im Kulturhaus Baumschulenweg aus ihrem Anekdotenband.
In Verführungsdingen unschlagbar
Zum Welttag des Witzes: Thilo Bock und das Berliner Weiße-Geheimnis (Lesung)
Granatapfel, Jasminblüten und Piña Colada verleihen der Berliner Weiße fremdartige Geschmacksnoten. Waldmeister oder Himbeere als Schuss in der gutbürgerlichen Seelenstütze ist die klassische Variante. Köstlich, die Anekdote, wie der verführerisch moussierende "Champagner des Nordens" Frankreich und Deutschland in der Historie zusammenbringt: Nämlich Jean Regnier, Offizier im fünften napoleonischen Kürassier-Regiment, mit dem Bierkutscher Heinrich Schulze und dessen reizendem Töchterchen Liselotte aus Moabit. Dieses gut gehütete Familiengeheimnis über seine Vorfahren hört der Ich-Erzähler an seinem 12. Geburtstag. Zu diesem Termin darf er mit Vatern, gemäß der Familientradition, seine erste obergärige Weiße mit Schuss genießen. Delikat, was man hier en passant erfährt. Die folgeträchtige Verbandelung mit den Franzosen - frankophiler geht's nicht! Wer da nun genau in Verführungsdingen unschlagbar ist – Liselotte, Vaters ganzer Stolz, der schmucke Offizier Jean oder die prickelnde Berliner Bierspezialität, damals noch ohne süßen Schuss, das bekommt man nur über gespitzte Ohren heraus. M. Pfeiffer
"Das Berliner Weiße-Geheimnis", in: Dichter als Goethe, Satyr Verlag Berlin
Verfasser und Sprecher: Thilo Bock (Autor und einer der Berliner "Brauseboys")
Und plötzlich hast du einen Amphitryon neben dir
Kostüm- und Bühnenbildnerin Olga Lunows bleibende Theatermomente
Kostüme und Bühnenbild im Theater sind beredt. Mit ihnen werden Aussagen getroffen, noch bevor die Agierenden den Mund auftun. Sie charakterisieren die Figuren, verraten Ungereimtheiten und können auf innere Konflikte verweisen, die sich verbal kaum oder nur versteckt kundtun. Fundiertes Wissen in Kunst- und Kulturgeschichte, in Stil- und Milieukunde, gute Fremdsprachenkenntnisse, zeichnerische und musische Begabung sowie vertiefte Menschenkenntnis – all diese Fähigkeiten braucht es, um für die Aufführung als Kostüm- und Bühnenbildnerin zu wirken. Fast 25 Jahre arbeitete Olga Lunow zusammen mit der Vagantenbühne Berlin und der Tribüne Berlin sowie dem Gerhard Hauptmann-Theater in Zittau. Über Jahrzehnte hat sie Kostüme und Bühnenbilder entworfen, u.a. zu Shakespeare, Georg Büchner, Ödon von Horvath, Tennessee Williams, Arthur Miller, Martin Walser und zuletzt auch zu Daniel Kehlmann. Eine Ausübung ihres Berufs ohne intensive Auseinandersetzung mit dem Stück ist für Olga undenkbar. Bei den Inszenierungsgesprächen war sie immer dabei, machte Vorschläge, diskutierte mit. Da ging es schon mal beinhart zur Sache. Die Schauspielkunst bewundert Olga ganz besonders und so gestaltet sie nicht nur, sie erlebt auch selbst bleibende Momente, wenn die Akteure neben ihr sich in einen Amphitryon oder eine Alkmene verwandeln. Die gebürtige Berlinerin weiß Einiges darüber zu erzählen, wie sie den Glanz vergangener Epochen im Theater wiederaufleben ließ, warum man sie oft auf Flohmärkten antreffen konnte und wir erfahren, welches das gewagteste Bühnenbild war, das sie je entworfen hat. Olga Lunow, die sich nunmehr ganz aufs Malen verlegt hat, ist schon voller Vorfreude auf die Lange Nacht der Bilder – ihre persönliche Bühne.
Concept Art: Dem "Dahinter" auf der Spur
Zen, der Zufall und andere Wegbegleiter des Konzeptkünstlers Markus Feiler
Ein Blitz durchzuckt den Himmel, alles zurück auf Null, und die Welt zeigt sich dem Auge neu. Die Concept Art lenkt die Aufmerksamkeit auf den geistigen Blitz, es geht ihr um ein Offenlegen, ein Erkennbarmachen. Diese Kunstrichtung, vielfach als Anti-Kunst bezeichnet, vollzieht eine Verlagerung auf den Geistesblitz – auf die Idee und den gedanklichen Prozess, der zum Kunstwerk führt. Eben dieser wird in seinen Abläufen nachverfolgt, freigelegt und unter Einsatz von regelbasierten Verfahren dokumentiert. Serielle und damit repetitive Muster lassen sich so sichtbar machen, aber auch Regelabweichungen. Die Idee, bei allem Plan den Zufall ins kreative Spiel hineinzuholen, kann ebenso erfasst und beschrieben werden. Was mittels Wiederholung und Variation zur Präsentation gelangt, ist etwas Immaterielles. Wenn das moderne Kunstwerk auf seine Materialhaftigkeit verweist, dann geht Konzeptkunst noch einen Schritt weiter, indem sie auf das "Dahinter" hinauswill, welches erst zu einer bestimmten Materialauswahl und zur Gestaltung führt. Der Bewusstseinsakt wird zum Eigentlichen und zum Überhaupt der Kunst. Der Konzeptkünstler Markus Feiler, 2005 von Hessen nach Berlin gewechselt, spricht im Interview über die für ihn wichtigen Künstler wie u.a. Jonathan Meese und Neo Rauch. Die Zen-Philosophie – in welchem Umfang wirkt auch sie in Feilers Kunst hinein? Wer zuhört, erfährt mehr. Seit September 2021 ist Markus Feiler aktives Mitglied des Kulturrings in Berlin.
Der Raum für die Aufnahme des Podcasts, im Kunstforum B1 in Schöneberg, wurde uns dankenswerterweise von Bernhard Lückfeldt zur Verfügung gestellt.
"Auf der Galerie": Schärfer sehen mit geschlossenen Augen
Zum 100. Todestag Franz Kafkas
Ein Sehen, das die Schranke zwischen Schlaf- und Wachzustand aufhebt, darauf verweist Franz Kafkas Ausspruch "Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen". Die Leserschaft des 1916/17 entstandenen Textes "Auf der Galerie" kommt nicht umhin, gesicherte Wahrheiten als vermeintliche zu durchschauen. Und das als wahr zu erkennen, was der (Alp-) Traum offenbart. Dieses Kurzprosastück, bestehend aus zwei Abschnitten mit je einem einzigen Langsatz, handelt von der Kunst des schönen Scheins und – im Gegenzug – von einer Kunst, die den Blick auf den schmerzlichen Urgrund der Existenz lenkt, ohne Verbrämung. Kafkas doppelbödige Parabel ist von verstörender Intensität, unmöglich auf eine einzige Auslegung zu verkürzen. Ein gleichnishaftes Erzählstück über Macht und Gewalt. Über das Aufbegehren des Einzelnen, der sich von den anderen "Zirkusbesuchern" separiert. Über die Ohn-Macht, das Nicht-Wahrhaben-Wollen und die Heuchelei. Die beklemmende Prägnanz in der wechselseitigen Durchdringung von Hypothetischem und Faktischem macht den Prager "Traumrealisten" Kafka literarisch auffällig, wenn nicht gar einzigartig. M. Pfeiffer
Keiner fürs unterhaltsame "Nur mal so"!
Dem Theatermann George Tabori zum 110. Geburtstag
In Taboris Glosse "Liebe deine Kritiker wie die sich selbst" geht es um die Schwierigkeit, Sympathie für seinen Henker aufzubringen. Im Ernst: Wie kann man Leute lieben, die angeblich der Kunst verbunden sind, die aber ungemütlich werden, wenn das, was sie auf der Bühne sehen, nicht deckungsgleich ist mit dem, was sie in ihrem Kritikerhirn vorverfasst haben. Auch mit der von manch einem Kritiker geforderten "Werktreue" braucht Tabori keiner zu kommen – das ist für ihn, als ob man einen Klassiker in den Kühlschrank lege. Tabori liebäugelt damit, auch bei "Klassikern" neue Bezüge zu entdecken, eigene Deutungen ins Spiel zu bringen und Verbindungen zur Gegenwart aufzuzeigen. Am 24. Mai 1914 in Budapest geboren, wächst George Tabori zweisprachig auf (ungarisch-deutsch), später schreibt er in englischer Sprache. Von seiner jüdischen Herkunft erfährt er als Kind zunächst nichts. Seine stilistischen Mittel in Auseinandersetzung mit der düsteren deutschen Vergangenheit werden später Schwarzer Humor und das Groteske sein. Kontroversen durchaus vorprogrammiert. Stets weigerte er sich, "Regisseur" genannt zu werden; das Wort fand er zu autoritär, und diese Gesinnung habe nichts mit Theater zu tun. Die Bezeichnung "Spielmacher" hielt er für eher angemessen. Im Juli 2007 ist der Theatermann mit 93 Jahren in seiner Wohnung am Schiffbauerdamm verstorben, in unmittelbarer Nähe seiner letzten Wirkungsstätte, dem Berliner Ensemble. In allen Phasen seines Lebens waren diesem Weltbürger Nationalismus und Rassismus ein Gräuel. Prägnant sein Bekenntnis, sein liebstes Wort in der deutschen Sprache sei: Mensch.
Verfasserin und Sprecherin: Martina Pfeiffer
Gedichte in der digitalen Welt
Lyriklesung mit Clara Cosima Wolff und Diana Röthlinger
Hintergrund und Interviews
Clara Cosima: "Suche nach Sand"
"Der klassische Kanon beginnt sich aufzulösen, es entstehen neue Stilgemeinschaften, es gibt (hoffentlich) nicht mehr nur die eine hochkulturelle Ausrichtung […] wenn ich KI benutze, weil mir selber gerade nichts einfällt, macht es mir keinen Spaß. Wenn ich eine Idee habe, die ich ausprobieren möchte, ein bestimmtes Anliegen, passiert meist etwas Witziges, was mein Schreiben anregt."
Clara Cosima Wolff, geboren 1993 in Hagen, lebt in Hannover. Sie schreibt Lyrik, Essays und übersetzt Gedichte. In Hildesheim studiert sie Literarisches Schreiben und promoviert im Forschungsprojekt Poetry in the Digital Age in Hamburg. C.C.Wolff ist Teil des Kollektivs lyrika, Mitherausgeberin des panoptic magazines und Teil des Übersetzungskollektivs Die Kolleginnen. Darüber hinaus ist sie Preisträgerin der Hannoverschen AutorInnenkonferenz 2022 und Finalistin des Open Mike 2022.
Clara Cosima zu ihrem Gedicht: "Hier hat es mich interessiert, den Prozess des Schreibens mit ins Gedicht zu holen und seine Machart nicht zu verstecken: das Textmaterial entstand größtenteils aus der Googlesuche über die verschiedenen Kategorien wie News oder Shopping {…[ Ich mag auch den flüchtigen Blick auf etwas, der häufig eine Schräge bereithält, der ich dann im Schreiben folgen kann."
Cello: Albrecht Mai | Sound: Clemens Mai
Diana: "ob ich rangehen will, fragt mich das Haustelefon"
"Synästhetisch erlebe ich Gedichte des digitalen Zeitalters als multisensorischer, vielleicht auch als eckiger, weniger linear, dadurch: formbarer. […] Wir bedienen uns, ebenso wie der Algorithmus, ausschließlich dessen, was wir bereits kennen. Originalschöpfung ist ein Mythos. Ob ich die Bausteine zusammensetze oder es der K.I. überlasse, spielt keine große Rolle. Jedes intelligente System ist zu Kreativität fähig."
Diana Röthlinger, 1999 in Minden geboren, studiert Geschichte und Philosophie in Bielefeld und arbeitet frei beim Hörfunk. In Lyrik und Prosa beschäftigt sie sich mit Körperlandschaften, Landflucht und einer Neuen Niedlichkeit.
Zum Haustelefon in ihrem Gedicht sagt Diana:
"Das Haustelefon hat mit Sicherheit Charakter. Das Haustelefon mit Sicherheit nicht. Das Haustelefon ist warm. Das Haustelefon müsste man vorm Kuscheln in den Ofen legen. Das Haustelefon ist ein Körper. Das Haustelefon ist ein Surrogat. Das Haustelefon ist meine Partnerin. Durch das Haustelefon höre ich meine Partnerin. Das Haustelefon ist ein Mensch. Das Haustelefon ist ein Haustelefon."
Der hohe Wert von Wahrheit und Kritik
Michael Erbach über seinen Weg vom Volontär zum Chefredakteur und Buchautor
Der Thüringer Michael Erbach begann seine journalistische Laufbahn zu DDR-Zeiten mit einem Volontariat bei der Bezirkszeitung Suhl, "Freies Wort". Das sich anschließende Journalistikstudium in Leipzig lieferte ihm das handwerkliche Rüstzeug für die Karriere in seinem absoluten Traumberuf. Ab 1984 ist er Nachrichtenredakteur bei BNN ("Brandenburgische Neueste Nachrichten", später PNN "Potsdamer Neueste Nachrichten"). Noch vor der Wende wird er deren stellvertretender Chefredakteur, ab 1992 dann Chefredakteur und blieb es 20 Jahre. 1998 erhielt Erbach den begehrten Wächterpreis der deutschen Tagespresse. Eines der Interviewthemen ist die journalistische Praxis in Vor- und Nachwendezeiten. Für die Erzählung "Jonas" über einen Jungjournalisten zwischen Anpassung und Revolte wurde Michael Erbach 1990 mit dem Hans-Marchwitza-Literaturpreis gewürdigt. Die Erzählung fand unter dem Titel "Die Glosse" Eingang in Erbachs 2021 erschienenen Erzählband Schwarzer Hund am Meer. Die Geschichten werfen drängende Fragen auf: Wie handeln wir, wenn das Leben uns folgenschwere Entscheidungen abverlangt? Wie gehen wir damit um, wenn sich dramatische Veränderungen abzeichnen? Haben wir die Courage, uns darauf einzulassen? Was geht in uns vor, wenn wir gezwungen sind, etwas zu tun, woran wir im tiefsten Innern zweifeln? Wie weit kann und darf Kompromissbereitschaft gehen? Die Erzählungen sind, was Zeit und Ort betrifft, konkret situiert. Dennoch lassen sich die von Michael Erbach literarisch entworfenen Konflikte als grundsätzliche innere Spannungspotenziale erfahren – unabhängig von räumlichen und zeitlichen Koordinaten.
Hauchfeiner Organza und schimmernde Lasuren
Lotte Günther setzt beim Color Field Painting Akzente jenseits des Gang und Gäbe
Geht da gerade die Sonne glutrot unter? Lodert ein Feuer? Schimmern silbrige Wellen? Bei aller Abstraktion löst die Farbfeldmalerei von Lotte Günther eine emotionale Bewegung aus, als würden wir etwas Konkretes sehen oder uns daran erinnern. Um eine starke Farbigkeit zu erzielen, stellt die Künstlerin ihre Farben teilweise selbst aus Pigment und Binder her. Lasierend aufgetragen, verbleibt die Leinwand unter der Kolorierung sichtbar. Wenn L.G. dann auf dem darübergelegten Organza malt, entstehen feine Bläschen und dadurch Binnenzeichnungen. Der bearbeitete Stoff intensiviert die Farbkraft der darunter liegenden Malschicht. Das in die Komposition integrierte, bemalte Gazegewebe schimmert unterschiedlich, je nach dem Einfallswinkel des Lichts. Durch die Verbindung mit Organza springen die Korrespondenzen zwischen Flächigkeit, Oberflächenstruktur und Tiefe hin und her. Die monochrome Farbigkeit von Lotte Günthers Keramiken verbindet sich mit changierendem Satin. Im Januar 2024 war die Kunstschaffende artist in residence in Australien. Malerei und Installationen bildeten einen Schwerpunkt ihrer dortigen Arbeit. Angestoßen durch die Blue Mountains und die Bushwalks in Down Under tritt im Oeuvre der gebürtigen Heidelbergerin die Fotografie als eigenständige Ausdrucksform hinzu. Aussicht auf tolle Gespräche in Lichtenbergs Langer Nacht, in der HB55 Kunstfabrik!
www.lotteguenther.de
Jahrtausendgenie und Zeitgenosse "for all time"
William Shakespeare wird 460
Ingeniöser Verbal Artist, Ausloter von Seelenschlünden, verzückter Sänger, Narreteifürsprecher, Auskundschafter irriger Wege von Gewaltherrschern und Machtaspiranten, gleichzeitig Einblickgeber in Intrigen und Raffinements aller Art, stets auf Tuchfühlung mit den höchsten wie den niedrigsten Beweggründen menschlichen Tuns und Lassens. Was ist William Shakespeare eigentlich nicht? Einem unerschöpflichen Sinnüberschuss in den Tragödien, Komödien, Romanzen und der Lyrik Shakespeares verdankt es sich, dass sie nach über 400 Jahren das Publikum von heute im Innersten berühren. Shakespeare ist der ewige Zeitgenosse, sein Werk hat Geltung "for all time!", wie schon Ben Jonson rühmte. Shakespeares Welt erscheint uns eigentümlich bekannt. Denn ausgemachte Schurken, Einfaltspinsel, die wir belächeln, hohle Geschwätzigkeit, verblendeter Despotismus, Tand und Trug wie auch nichtssagende Tändeleien im Gegensatz zu wahrer Liebesverbundenheit, dabei immer wieder auch komödiantischer Übermut, finden sich nicht bloß an der Schwelle zur frühen Neuzeit und bei den Elisabethanern. Sich künstlerische Freiheiten gegenüber dem Geschmacksreglement der gesellschaftlich Ranghohen zu nehmen, macht den Volksdichter und Humanisten Shakespeare aus. Das flirrende Spiel mit Identitäten, die Fahndung nach Ähnlichem im scheinbar Anderen trifft die menschliche Existenz in ihrem unwandelbaren Kern ebenso wie in ihren Maskeraden. Shakespeares dichterische Kleinode, auch sie sind vergänglichkeitsresistent und bedeutungsschwingend. Das wirre Weltgeräusch verwandeln sie in betörende Sinnstrukturen und wohltönende Klangmuster. Die Huldigung des/r Geliebten, dem/r durch das Schlusscouplet des Sonetts "Shall I Compare Thee To A Summers Day?" Ewigkeit verliehen wird, kann zugleich als Preislied auf die Überzeitlichkeit von (Shakespearischer) Kunst gelesen werden: "So long as men can breathe or eyes can see/So long lives this and this gives life to thee."
M. Pfeiffer
William Shakespeare, Sonnet 18: "Shall I Compare Thee To A Summer's Day?"
Englisches Original, Sprecherin: Redell Olsen
Deutsche Übersetzung von Dorothea Tieck, Sprecherin: Katharina Schultens, Haus für Poesie
Deutsche Übersetzung von Stefan George, Sprecher: Matthias Kniep, Haus für Poesie
Technische Realisation: Kevin Nagel, Haus für Poesie
Musikmontage: Kulturring in Berlin
Konzept, Gedicht- und Musikauswahl, Skript, Podcastbegleittext und Koordinierung: Martina Pfeiffer, Kulturring in Berlin.
Dieser Podcast ist ein Gemeinschaftsprojekt beider Einrichtungen
Zum Weltglückstag: Wenn die Glücksfee anklopft …
Johann Peter Hebels Fingerzeig zur Nutzung goldener Gelegenheiten
Man stelle sich vor, mitten im prosaischen Alltag taucht eine wundermächtige Glücksfee auf und stellt den perplexen Menschenwesen die Erfüllung von drei Wünschen in Aussicht. Wer hat schon das Glück, die Bekanntschaft einer echten Fee zu machen? In Johann Peter Hebels Geschichte "Die drei Wünsche" stattet ebendiese übernatürliche Helferin ihren Besuch einem Paar ab, das zwischen Jetzt, Früher und Irgendwann lebt. Die Option auf drei Wünsche wird gewährt – und schon beginnen die Zwistigkeiten. Im Redegespinst lösen sich Worte aus den Mündern, die so nicht gemeint waren. Oder doch? Jedenfalls wirkt der Wortzauber. Statt der Wünsche, auf die man sich nicht einigen kann, werden die Verwünschungen wahr. Die goldene Gelegenheit bleibt ungenutzt, das Desaster ist komplett. Nicht etwa "Glück auf" heißt es nun, sondern: Chance vertan, Glück zu! Und ganz zum Schluss gibt Hebel der – hoffentlich klügeren – Leserschaft dann doch einen möglichen Schlüssel zum Glück an die Hand. Für den Fall, dass die Glücksfee anklopft.
Verfasser: Johann Peter Hebel
Sprecher: Martin Wimmer
Den Dingen auf den Grund gehen und dem Menschen auf die Schliche kommen
Zum Gedächtnis an Georg Christoph Lichtenberg
Arthur Schopenhauer macht aus seiner Bewunderung für den Selbstdenker Georg Christoph Lichtenberg keinen Hehl. Friedrich Nietzsche nennt dessen Aphorismen eines der fünf Bücher der deutschen Prosaliteratur, die es verdienten, wieder und wieder gelesen zu werden. Der Aphorismus: "ein Universum in einem Wassertropfen" bezeichnet der Schriftsteller Martin Kessel diese Verschmelzung von persönlicher Lebenserfahrung mit philosophischem Gehalt. 1765 beginnt Lichtenberg mit seinen "Sudelbüchern", die er bis 1799 fortführt: Glossen, Fragmente, Aperçus – seine "Milchstraße von Einfällen". Als Experimentalphysiker und Literat hat er beide Anlagen in sich, die auch seine Aphorismen kennzeichnen: teils akribisch-kühl und zergliedernd, dann wieder temperamentvoll-polemisch, oftmals satirisch. Der Favorit von Albert Einstein und Karl Kraus bedient sich durchweg einer unkompliziert klaren Sprache. Von ebensolcher Schlankheit ist sein Denken und so lässt er sich gar nicht erst ein auf das Verfassen philosophischer Monumentalwerke. Vorschnelle Urteile, das Pochen auf Tradition und Sitte wie auch Attitüden jeglicher Art nimmt er mit Ironie. Das aufklärerische Ideal in Form der Toleranz gilt ihm als Leitgedanke. Ein Tabubrecher mit moralischem Ethos. Ein Hoffender ohne den Hang zur Illusion. Sogar auf dem Mond hat Lichtenberg durch einen nach ihm benannten Krater seine Spur hinterlassen. Im Kosmos der Schrift ist der Begründer der deutschen Aphoristik eine feste Instanz. Georg Christoph Lichtenberg verstarb vor 225 Jahren am 24. Februar des Jahres 1799.
Sprecher/in: Gudrun Thiem und Ernst Belschner
TaFF-Theater im Labsaal Lübars, Partner des Kulturring im BFD
Kindern mehr Meuterei erlauben
Autorin Anna Maria Praßler feiert die Kraft von Kindern, die Welt zu verändern
Die Kindheit als Urzustand paradiesischer Unschuld, gar als Goldenes Lebens- und Zeitalter? Mitnichten. Schablonenhafte, eindimensionale, blutleere Figurenzeichnung in der Kinderliteratur – weit gefehlt! Mit den kleinen Heldinnen und Helden Schritt zu halten, damit hat so manch Erwachsener seine liebe Mühe. Warum, das erfährt man bei der Kinderbuchautorin Anna Maria Praßler. Die settings ihrer Kinderbücher in der Großstadt oder im Dorf – das können Dachböden, Treppenhäuser, Hinterhöfe oder Baumhäuser sein – atmen bisweilen die Drunter- und Drüberatmosphäre der Villa Kunterbunt. Orte, an denen die einengenden Normen der Erwachsenen nicht greifen: "Kinder brauchen solche Räume. Sie brauchen sie auch als Möglichkeitsräume in Büchern. Als ein Angebot, lesend unterschiedliche Identitäten auszuprobieren, sich spielerisch in ganz andere Kontexte zu setzen und sich alles zu erlauben." Die Autorin bevorzugt wahrhaftige Figuren mit Ecken und Kanten, lässt das Anders- und Unverstandensein zum Thema werden, wenn Erwachsene sich kurzerhand über die Meinungen und Bedürfnisse von Kindern hinwegsetzen und ihnen so die Herausbildung einer eigenen Haltung verwehren: "Ich muss sagen, ich freue mich über jedes Kinderbuch, das wirklich den Aufstand probt." Es ist eine Gratwanderung: Einerseits Kindern nicht die heile Welt vorzugaukeln. Andererseits sie durch die Welt, so komplex und widersprüchlich sie ist, partnerschaftlich zu begleiten. "[…] Die Wirklichkeit schont Kinder nicht – Geschichten bieten die Möglichkeit, besser damit umgehen zu können, etwas zu verarbeiten, Gesprächsanlässe zu schaffen; natürlich müssen wir sensibel mit solchen Themen umgehen, behutsam […]" (A.M.Praßler)
Zirkus ade – und was nun?
Lesung mit Anna Maria Praßler: "Rettet Omas Boa: Mein Zirkus, das Dorf und ich" (Kinderbuch)
"Unser Feuer lodert und wirft sein Licht in die Stockdunkelheit. Immer wieder sieht man Autoscheinwerfer, ganz klein irgendwo, aber sonst nur uns. Mit heißen Gesichtern, die so glänzen und strahlen und glücklich aussehen, dass du dein ganzes Leben lang nirgendwo anders mehr sein willst […] Einzelkind im Zirkus, das geht eigentlich gar nicht. Nur bei mir. Weil Papa wieder gegangen ist. Er war von privat und kam mit dem Zirkusleben nicht klar. Zum Geburtstag schreibt er mir immer, und ich ihm auch." (S. 15 f.)
Menschen wohnen in Häusern, wo sonst. Princess wohnt erst neuerdings in einem Haus. Vorher wusste sie nicht wie es war, sesshaft zu sein. Denn Princess kommt vom Zirkus und kennt nur das Leben in einem Wohnwagen, zusammen mit ihrer Mama. Nach einem Streit mit dem Zirkusdirektor, Onkel Sergio, ist dieser Lebensabschnitt schlagartig zu Ende. Im ersten Kapitel schildert Princess rückblickend das eindrückliche Beisammensein der großen Zirkusfamilie am Lagerfeuer. Wie Princess nach dem Verlassen des geliebten Zirkus neue Freunde im Dorf findet, was die anfängliche Außenseiterin mit ihnen erlebt und wieso die Sache mit Omas verschwundener Schlange so wichtig wird, dass "Omas Boa" sogar im Titel auftaucht – Ich-Erzählerin Princess beweist, dass Kinderliteratur ein spannendes Feld sein kann, nicht nur für die junge Leserschaft, sondern auch für Erwachsene. Wer reinhört, könnte versucht sein, den ganzen Kinder-Roman zu lesen.
Anna Maria Praßler, Rettet Omas Boa: Mein Zirkus, das Dorf und ich, Leipzig 2023
Ersonnenes mit dichtem Wahrheitsgehalt
Podcast-Lesung mit Bettina Hartz: Rot ist der höchste Ernst (Roman)
"Und da, ganz plötzlich, kam es, kam es über mich, die Stimmen wie ein leiser Wind, der mich ergriff, das Licht durchsichtig und voller Geheimnis, die Schatten tief, von lockender Schwärze. Die Verwandlung begann. Ich war in einen Traum versponnen. Ich ging über Dächer, sah in den Mond. Ich flog. Und da war ein Satz und ein zweiter, und ich nahm Stift und Papier und schrieb, aber es hörte nicht auf, und ich setzte mich an den Tisch und sah aufs Papier, sah es kaum, denn ich schrieb, schrieb wie getrieben, schrieb immerzu, wo ich saß und stand." (S. 62)
Wer schreibt, blickt unverwandt in sich und lässt etwas erstehen, das – sobald es sich in ein Sprachkunstwerk verwandelt – das Mark hat, zu überdauern. Ersonnene Geschichten, so "dicht" an Wahrheitsgehalt, dass sie das wahre Leben übertreffen. Den Hintergrund von Bettina Hartz' Roman bilden die Balkankriege in Kroatien und Serbien (1991–1995). Milena, die weibliche Hauptfigur und Erzählerin, ist aus Ex-Jugoslawien nach Berlin geflohen. Die Protagonistin – sie ist Schriftstellerin – erfindet sich einen fiktiven Gefährten, Dialogpartner und Geliebten: Hans. Über diesen imaginativen Prozess ist Milena zunehmend imstande, sich von den erlittenen Kriegstraumata freizuschreiben. Ihr Triumph: "[…] denn wenn auch der Sonnenstrahl weitergezogen, das Papier verloren, das Krachen des Schusses verklungen war, das Feld verbrannt, der Schrei verstummt, der Satz blieb und in dem Satz meine untergegangene Welt, ich selbst." (S.65) Rot ist der höchste Ernst, Graz-Wien 2022. Interview mit Bettina Hartz: "Es kann mit einem Knall beginnen oder auch ganz leise anheben": Autorin Bettina Hartz über Erzähleinstiege und den Sound von Geschichten.
Das Endliche trägt Züge des Unendlichen
Anlässlich des Caspar David Friedrich-Jahres 2024: Interview mit Kristin Giertler und Thomas Kornmann
Mit der Romantik wird das Innere des Menschen vollends als Schöpfungsmacht etabliert. Die Bildwelten Caspar David Friedrichs, des "Mystikers mit dem Pinsel" (P.D.A. Atterbom) stehen für den Aufbruch in eine neue Zeit. Von der Imitation führt der Weg hin zur Freisetzung einer imaginativen Kunst. Die Landschaft wird zum Schwingungsraum, zur Chiffre für Seelisches. Sie spiegelt ein inneres Gestimmtsein: Sehnsüchte, Hoffnungen, Wünsche, Einsamkeit, Trauer und Angst. Der Bergwanderer in der typischen Rückenansicht als Zeuge des Erhabenen. Der gebürtige Greifswalder formuliert die verschärfte Subjektivität romantischer Malerei: "Jedem offenbart sich der Geist der Natur anders. […] Keiner ist Maßstab für alle, jeder nur Maßstab für sich und für die mehr oder weniger ihm verwandten Geister." Kristin Giertler und Thomas Kornmann (siehe Foto) haben ein Theaterstück über Georg Heinrich Crola und dessen Frau Elise geschrieben. Als junger Mann, von 1825 bis 1828, war Crola Malerschüler von C.D. Friedrich in Dresden. Die Schauspieler Giertler und Kornmann berichten im Interview, gestützt auf ihre Recherchen in Ilsenburg und Wernigerode, über die Crolas als Künstlerpaar der Romantik.
https://parktheater-edelbruch.net
Ein Wolf, der keine Kreide frisst
Gerald Wolf setzt satirische Highlights im Rückblick auf 2023
Haltung - Humor - Hirn: Diese drei großen H's stehen fürs politische Kabarett; so hieß es bei der Gala zur Verleihung des deutschen Kleinkunstpreises im Februar 2023. Seit zwei Jahrzehnten ist Gerald Wolf verhaltensauffällig, im besten kabarettistischen Sinne. Politik findet er irre witzig. Es mit der von ihr angebotenen Real-Satire aufzunehmen, ist mit Sicherheit ein höchst amüsantes, wenn auch hartes Stück Arbeit. Jede Menge Ampelzoff und Ampelbashing gab's 2023. Die Ampel – Vernunftehe und Notgemeinschaft, mehr nicht? Wir hoffen sie fällt nicht aus, die Ampel. Aber trotzdem: Blinkt's da für den Kabarettisten gefährlich? Die verbalen Verzögerungsstrategien von Ampelboss Olaf – für die einen Ausweis von Unvermögen, für die anderen ausgeklügelte Staatskunst. 2023 – wir erinnern uns: Welche Kröten mussten wir schlucken? Die Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik wurde laut und massiv. Sind vielleicht in der politischen Landschaft neben den Problembären auch mal Problemlösungsbär*innen in Sicht? Wolf stimmt auf viele Politgrößen satirische Töne an, darunter auch eine "cum grano salis" zu nehmende Hymne auf Sahra Wagenknecht. Bis zur überdeutlichen Kenntlichkeit vorgeführt findet sich im Wolf-Programm u.a. Oppositionschef Friedrich Merz mit seiner Friderizianischen Brandmauer gegen die Erhöhung des Bürgergelds. Und auch Karl Lauterbach, Christian Lindner, Robert Habeck und last but not least Kanzler Olaf Scholz bekommen ihr Fett weg. Was ist da alles anzukreiden, Herr Wolf?
Der Raum für die Aufnahme des Podcasts, im Kunstforum B1 in Schöneberg, wurde uns dankenswerterweise von Bernhard Lückfeldt zur Verfügung gestellt.
Zum Advent mit dem "Nussknacker" auf und davon
Wer die Sinne dafür öffnet, dem wird das Wunderbare zuteil
Was wäre, wenn Spielsachen ihr eigenes, geheimes Leben hätten und Schlag Mitternacht lebendig würden? Genau das passiert in E.T.A. Hoffmanns "Nussknacker und Mausekönig". Nach einer turbulenten Schlacht gegen den Mausekönig entführt der Nussknacker die kleine Marie in seine Welt: zum duftigen Rosensee mit den goldschuppigen Delfinen, die Muschelwagen ziehen; zu kolibrifedergeschmückten Pagen und dem sternbesäten Marzipanschloss. Maries unbeirrtes Vertrauen in eine Wahrheit, die rational nicht erklärbar ist – das gibt dem Nussknacker seine wahre Identität zurück. Hoffmanns Märchen (1816) diente als Vorlage für Tschaikowskis Ballett "Der Nussknacker". Sowohl das erzählerische als auch das musikalische Werk verleiht der Weihnachtszeit eine phantastische Note, wenn es in den stillsten Stuben und den dunkelsten Ecken anfängt zu wispern, zu rumoren und zu funkeln.
Text: E.T.A. Hoffmann "Nussknacker und Mausekönig"
Sprecherin: Helga Linke. Mit freundlicher Unterstützung von www.kaho-berlin.de
Textbearbeitung: Martina Pfeiffer
Lyrik zum Hinhören und Aufhorchen
Dichtkunst mal ...: Spoken Word & Poetry Slam
Tabea "Die Wasser"
"Wenn ich Texte für die Bühne schreibe, dann spreche ich sie mir schon während des Schreibprozesses immer wieder vor […[ Mein Körper, meine Stimme, meine Kleidung, meine Haltung werden Teil meines Textes. Am schönsten ist es, wenn zwischen diesen Bestandteilen ein gefühlter Einklang entsteht. Ein guter Teil davon ist Tagesverfassung und Zufall."
Tabea Farnbacher (*1996) schreibt Lyrik, Prosa und Kolumnen. Sie ist Bundespreisträgerin junger Autor*innen 2018. Seit 2016 tritt sie als Poetry Slammerin auf, war 2018 Finalistin der deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam. Sie ist Mitglied der feministischen Lesebühne „Aufruhrgebiet“ und des Kollektivs „Verschwende deine Lyrik“. 2021 erreichte sie mit Gedichten den 2. Platz beim KURT-Literaturpreis Hannover. Für das Kammerorchester Ensemble Ruhr schrieb und performte sie die Texte zu dem Programm „Da verschob sich die Ruhe“ (2022). Sie ist Online-Kolumnistin für das Magazin "Psychologie Heute" und schreibt über ihre Arbeit als Psychotherapeutin in Ausbildung.
"Ich achte darauf, wer im Publikum mich anschaut, wer berührt ist, wer mir begegnet. Es geht mir um Verbindung […] Alles, was aufeinander antwortet, interessiert mich."
Die Wasser
Tabea Farnbacher
Ganz am Anfang war das Wasser
Noch vor jedem Wort, vor jeder Zeit
Und dort, wo die Welt die tiefste Stille barg
Schliefen die Wassergöttinnen den Ursprungsschlaf.
Die Herrscherinnen der Fluten ruhten
In der ewigen Kühle in sich
Namentlich die Göttinnen der Flut, der Strömung,
des Sturms, der Flüsse, der Bäche, der Dämpfe, der Tropfen und des Regens,
die Göttinnen des Schnees, des Eises und der Tränen,
Die Göttinnen der Seen, des Teiches und der Meere,
im Herzen des Urozeans zu Wasser vereint.
Man unterschied weder nach Ort noch Jahren
Es war dunkel – und hell – zugleich.
Über allem lag eine Ewigkeit aus grauem Blau
Und die Meeresgöttin Nammu sah im Traum
Ein tief tönendes Wasserreich,
mit Geräuschen statt Stille
mit Schwimmhäuten so leicht
dass sie Flügel sein könnten
das Ende des Traumes war fast erreicht
da verschob sich die Ruhe
zum ruhigsten Gefühl
die Sehnsucht zog ein
und die Göttin der Meere,
wollte wagen, sie selber zu sein
sie sehnte Grenzen herbei
und sah sich selbst als Urgewalt, als Lebensraum
Und so wurde sie zur Urgestalt, zum Anfangstraum
Aus Sehnsucht wurde Verlangen
und aus Verlangen Wille
Kälte schnitt scharf durch die Stille
Und Nammu zerriss sich in Wasser und Eis,
in Süß- und Salzwasser,
warm und kalt.
Sie schuf sieben Kontinente
Ozeane trieben auseinander
Und es entstanden Strudel so stark
Das sie Felsen zu Sand zerrieben
Die Meere rissen aneinander,
Und die Göttinnen des Wassers wachten auf
Aus Bergen brachen Quellen hervor
Flüsse strömten durch braches Gebiet
Tau benetzte Steingebilde
Regen trommelte auf Wassermassen
Geysiere schossen aus dem Boden
Schnee legte der Welt einen Mantel um
Der Golfstrom entstand und brachte das Wetter
Tränen benetzten alles Lebendige
Und Stürme rissen Landmassen ein
Erst als die Wasser erwachten
Erwachte die Zeit
Die Wasser riefen die Welt an
Und die Welt war so weit
Energie formte Zellen
Und Zellen das Leben
Wale zogen wie dunkle Wolken
Durch die Tiefen dahin
Quallen schwebten vornehm umher
Algen tanzten zur Strommelodie
Und die Flossenschläge der Fische
Wurden zur Seesinfonie
Die Göttin der Meere war Königin geworden
Und ihr Reich war das Ende der Farbherrschaft Blau
Es war fischschuppenorange und korrallenrosa,
es war walhautgrau und wasserpflanzengrün
es war lichtdurchflutettürkis und dunkelheitsblau
es war das Ende und der Anfang zu gleich
Sie schmückte ihre Haare mit Kronen aus Schaum
Und erzeugte Strudel des Lebendigen
Und die Fische, die kleinen und die wendigen,
schwammen wie Traumpartikel umher
hier unten, in der Tiefe, war man weniger schwer
Luftblasen funkelten wie Edelsteine
Und den Ort allen Lebens nannte man Meer.
Nammu streichelte die Strände und Küsten
Sie umarmte die Felsen und liebkoste den Wind
Und als die Kinder des Meeres vollkommen waren
Da fand sie sich selbst als Horizont zu klein
Da ließ sie sie atmen
und gab sie an Land.
Die neugeborenen Meereskinder
atmeten Luft und tranken das Wasser
Sie machten Feuer und nutzten die Erde
Sie fanden Gedanken und kosteten Glück
Sie wurden wie Nammu zu Wesen
Und sie gebaren sich eigene Kinder
Und ihre Bäuche wurden zu Meeren
Schwerelos und federgleich
Schwebten sie in Friedlichkeit
Die Geräusche wie gefiltert
Die Lichter leicht gedimmt
Am Anfang sind wir Wasserwesen
Die Finger sind noch kleine Flossen
wir haben keine Kiemen
Und atmen doch nicht Luft
Geboren aus dem Leibe einer Königin
Ein Feststoff im Wasser,
ein Fels in der Brandung
nicht Fisch aber Fleisch
taumeln wir von Wasser in Luft
und ein erster Schrei
erklingt in der Welt
Und so taumeln wir
Halb Mensch und Halb Wasser,
wir tragen in uns
zwei ruhige Ströme
Aus Süßwasser und Salz
Blut und Speichel und
Tränen und Schweiß
In uns waren die Wasser
Wieder vereint
Das Ende des Traumes war fast erreicht
da verschob sich die Ruhe
zum ruhigsten Gefühl
und die Sehnsucht zog ein
nach Feuer und Wissen,
nach eigenem Heim
und wo vorher Wald war
war später Stein
und wo vorher Tier war
trat Stille ein
Boote zogen durch die Häfen,
Motoren dröhnten überall,
Tanker vergossen schwarze Tränen
Die Wolken weinten sauren Regen
Und Vögel trieben mutlos dahin
Man vergaß die Göttin des Meeres
Und erfand die Göttin des Geldes
Und man arbeitete, statt zu wünschen
Und man hetzte, statt zu ruhen
Und man wollte, statt zu wissen
Und die Lüfte wurden staubig
Der Smog war überall
In der Krone der Göttin des Meeres
Steckte das Plastik und verfilzte ihr Haar
Man ließ Netze unter ihre Haut
Und beutete ihre Meereskinder
Und Nammu wollte sie strafen doch
Ohne ihr Wasser vertrockneten sie
sie wollte sie wieder zu sich nehmen
Doch in ihren Fluten ertranken sie
Und Nammu war so traurig,
dass sie einsam wurde
Und Nammu war so traurig,
dass sie weinen wollte
Und sie rief die Göttin der Tränen
Und es gab einen salzigen Regen
sie riefen die Stürme, die Dämpfe,
den Regen, die Fluten, den Strom
wir werden wieder wir sein, sprachen sie,
die Wasser.
Und die Wasser erfassten
Was sie fassen konnten
Gletscher lösten sich zu kalten Tränen
Polarkappen brachen zu traurigem Staub
Meeresspiegel erklommen die Inseln
Und Tsunamis bissen der Welt die Ränder ab.
Sie nahmen mit, was sie einst gaben
Das Leben, die Luft und das Korn
Sie nahmen mit, was sie zurückbekamen
Den Müll, das Öl und den Zorn
Ganz am Anfang war das Wasser
Noch vor jedem Wort, vor jeder Zeit
Ganz am Ende war das Wasser
Nach den Menschen, nach dem Streit
sie gaben,
sie kamen,
sie nahmen,
denn sie waren
die Wasser
Miedya "Ichbotschaften"
"nimm dir alle zeit. die es braucht/heißt/ ich gebe dir all meine hoffnung. bis es reicht "(Gedichtzeile aus: "Ich-Botschaften, die niemand gewaltfrei hören wollte")
Miedya Mahmod (dey/dem; keine Pronomen) lebt, schreibt und arbeitet im Ruhrgebiet. Dey ist seit 2016 aktiv als Spoken Word-Artist, mittlerweile auch kuratorisch tätig u.a. für den Ringlokschuppen Mülheim und gründete die feministische Lesebühne »Aufruhrgebiet« mit. 2017 folgte die Einladung zum Treffen Junger Autor*innen ins Festspielhaus Berlin, 2022 die Teilnahme an den Open Poems des Haus für Poesie. Seit 2018 leitet Miedya Schreibwerkstätten & Spoken Word-Workshops. Dey interessiert sich für digitale & kollektive Autor*innenschaft, fluide (Mehr-)Sprachlichkeit, Politik & Poesie, deren heutige (Ir)Relevanz und Andere(s).
"wenn wir du sagen meinen wir nicht immer/ein wenig ich/dazu/entfleucht uns ein dir und die scholle die/mir ist/schmilzt in sekunden sichtlich/ab" (Gedichtzeile aus: "Ich-Botschaften, die niemand gewaltfrei hören wollte")
ich-botschaften die niemand gewaltfrei hören wollte
Miedya Mahmod
nimm dir alle zeit. die es braucht
heißt
ich gebe dir all meine hoffnung. bis es reicht
nimm dir frei. du bist es dir schuldig
heißt
gib mir das. ich will es dir schulden
wenn wir du sagen meinen wir nicht immer
ein wenig ich
dazu
entfleucht uns ein dir und die scholle die
mir ist
schmilzt in sekunden sichtlich
ab
ab und zu sind keine selbstaufgabe
das sind die heiligen wimpern einer göttin
sind opferrituale der ahninnen sind die
zyklen in denen mond und gewebe zu und ab
nehmen um allem leben was zu ermöglichen
das ist das haushaltsbuch des wachsens
das sind die kontoauszüge der künftig insolventen
das ist invalidenversicherung unter der zunge
tragen von call & response bis festgeschriebener
trauerzeit der monsun liegt in unseren gesichtern
aber wir die wir wissen eines zu wahren ertrinken eher in uns als die monster zu schwemmen
wenn die möglichkeit besteht das auch nur eine katze sich zur sperrstunde streunend verdingt
die nicht das glück hatte in jungen jahren
das seepferdchen zu machen
glück gehabt
an jene die unglück über ganze breitengrade
streuen und kommen die cashcrops zu pflücken
wenn alle ahninnen wie ich wir uns wieder zu festgeschriebener trauerzeit in der küche
im wohnzimmer
am eingang ins warme
aufhalten
dir & die
trauerzeit einräumend
Das Ableben als Teil des Lebens
Gedanken zum Welttag der Philosophie
Wer sich mit Philosophie befasst, dürfte auf Michel de Montaignes vielzitierte Weisheit getroffen sein: Philosophieren heißt Sterben lernen. Ein metaphysisch Ankerloser wie der Essayist E.M. Cioran bezieht sich vermutlich auf diesen Leitsatz, wenn er anfragt: "Wieso sterben lernen? Es klappt doch schon ganz gut beim ersten Mal." Der amerikanische Schriftsteller und Humorist Mark Twain nennt Friedhofsmauern pointiert eine unsinnige Erfindung, denn "Die drinnen sind, können nicht raus. Und die draußen sind, wollen nicht rein". Warum Gevatter Tod zum Welttag der Philosophie am 16. November 2023 also nicht einfach mal die Zunge zeigen. Oder sich Woody Allen anschließen, der sich eindeutig positioniert: "Meine Haltung zum Tod ist unverändert - Ich bin dagegen!" Text: Martina Pfeiffer
Gruppenbild mit Knollennase, vergoldet
Zum 100. Geburtstag von Loriot
Heim, Ehe und die ach-so-wenig seelenverwandte Verwandtschaft – Vicco von Bülow, den allermeisten bestens bekannt als Loriot, schafft es auf die ihm eigene sanft-hintergründige Art auszuleuchten, was in deutschen Haushalten abläuft, nicht läuft, schief läuft. Der gebürtige Brandenburger ortet die Fallstricke und Fußangeln angeblich problemlösungsorientierter Kommunikation. Umständlicher und umwegiger könnte Verständigung oftmals nicht sein. Der Vier-Wände-Wahnwitz im engen Familienkreis wird ebenso zur Sache wie der drollige Beziehungskrampf zwischen den Geschlechtern. Also kurz: all jene unerhörten Vorkommnisse, die nicht mehr und nicht weniger als die skurrilen Begleiterscheinungen des Alltags sind. Weder banal noch originalitätsgierend hat Loriot das eine im Sinn: die den Deutschen ja vielfach abgesprochene humoristische Genussbereitschaft zu wecken. Ein Klavier, ein Klavier oder doch lieber das Jodeldiplom? Die Gummiente in der Badewanne oder einfach mehr Lametta? Noch nie war eine Knollennase so wertvoll! Na, fällt der Groschen? Loriot wird nämlich Hundert und grüßt, einen Tag nach dem 11.11., unverdrossen heiter von der Wolke (M.Pfeiffer)
Hörtext und Sprecher: Rex Frese, Mitglied der Kulturring-Gruppe Schreibatelier Mehrstimmig
Camouflierte Diener, die nach Herrschaft streben
Volker Kaminski über seinen Zukunftsroman "RUA 17" und die KI
Objektiv beurteilen, unbestechlich und unparteiisch entscheiden, die Fehler der analogen Welt korrigieren – diese Ideen gingen anfänglich mit der Entwicklung von KI einher. Ein vernunftgeleitetes Miteinander von Nationen und Kulturen war die hehre Zukunftsvision. Aber KI wird schon jetzt für die Zwecke von Überwachungsdiktaturen eingesetzt, zur Kontrolle von unerwünschten Minderheiten und politisch Andersdenkenden, zum zielgenauen Töten in Kriegsregionen. Was wird aus den Forschungslaboratorien demnächst verkündet? Die Geburt des "robo sapiens"? Biohybride Roboter, die ein unheimliches Eigenleben entwickeln. Unterliegt der Herr dann dem Diener? Oder sind die Ängste unbegründet und wir werden schon bald künstliche Paradiese für alle haben und unendlich viel Zeit, unseren Hobbies nachzugehen, Sport zu treiben, zu reisen – , wenn uns KI missliebige Dienstleistungen in der analogen Welt abnimmt? Mit seinem Zukunftsroman RUA 17 will Volker Kaminski weder blinden Optimismus noch paralysierende Angst verbreiten. In Kaminskis fiktionalem Entwurf entledigt sich das übermächtige SYSTEM der Menschen über 55 mithilfe humanoider Roboter, den sogenannten "Assistenten". Als Hoffnungsträger begegnen Nonkonformisten, die in der technologiegesteuerten Welt von morgen mit Mut zum Andersdenken, mit Witz und Weitsicht Vertuschungen aufdecken und Manipulationsstrategien durchkreuzen.
Live-Lesung mit Volker Kaminski am 21. November 2023 um 19 Uhr in der Kulturbundgalerie Treptow, begleitet von Herbert Dauksch-Maus auf der Gitarre
Der Käfig sucht einen Vogel
Podcast-Lesung mit Frank Hahn: Brennendes Treibeis (Roman)
"Sucht der Vogel nun einen Käfig oder ist es umgekehrt? Viele Käfige stehen da, mit offenen Türen, sehr einladend, auf der Suche nach Singvögeln, Meisen und Kolibris, denen die Welt zu groß und unübersichtlich geworden ist, und so finden sie das Angebot des Käfigs nützlich, den Maßstab der Welt so zu verkleinern, dass man den Überblick behält. Der Käfig lockt mit Übersichtlichkeit. Er ist ein wahrer Lockkäfig. Und wenn die Tür schon offensteht, und es keinen Eintritt kostet, dann kann man doch einmal hereinschauen, zumal auch das Futter schon bereit liegt. Der Vogel hüpft in den Lockkäfig und darf nur noch nach draußen, wenn er zum Lockvogel geworden ist [...]" (S. 53)
Wie sich ein Vogel hinter Gitterstäbe verirrt und wie es gelingt, dass der Vogel, der alsbald als Lockvogel instrumentalisiert wird, die Zwänge abschüttelt, davon handelt Brennendes Treibeis. Mit der neugewonnenen Eigenständigkeit kommt der einstige Lockvogel – Romanheld Fabian – zu einer Erkenntnis seiner Mit- und Außenwelt, die verblendete Anschauungen weit hinter sich lässt.
Frank Hahn, Brennendes Treibeis, Berlin 2022
Pinselhiebe auf die Leinwand, starke Verbundenheit mit dem Partner
Lee Krasner – Eine Schlüsselfigur des Amerikanischen Abstrakten Expressionismus wird 115
Ihr Erweckungserlebnis erfuhr Lee Krasner, geboren am 27.10.1908, an Hans Hofmanns Kunstschule in New York. Doch es bedurfte zusätzlich des Dialogs mit Jackson Pollock, damit auch sie zu neuen Ausdrucksformen und zu stilistisch unverbrauchten Positionen durchstieß. Lee: "Hofmann hat mir den Enthusiasmus gegeben. Pollock gab mir Vertrauen, meine eigene Erfahrung anzunehmen". Auch der Partner drückt seine Dankbarkeit aus, ganz unmissverständlich: "Ich hätte nicht lange überlebt ohne Lee." Lee und Jackson: Jeder fördert die Begabung des anderen. Damit verbunden war das neue künstlerische Vokabular (Dripping, All-over). Zu keinem Zeitpunkt ihres Zusammenlebens und Arbeitens empfinden sie sich als Konkurrenten. Regelmäßig wird Lee von ihrem Mann zum Meinungsaustausch in sein Atelier, die Scheune ihres Hauses in Springs, eingeladen. Lee notiert: "Etwa einmal wöchentlich sagte er: 'Ich will dir etwas zeigen!' […] Wenn wir über seine Bilder sprachen, kam es vor, dass er fragte: Does it work?" Nachweislich ist es Krasner, die Pollock zum großen Format ermutigt hatte, das die Malweise des Action Painting unter Einsatz der gesamten Physis zum Tragen kommen ließ. Lee Krasner hat durch ihren Einfluss auf Pollock und gleichermaßen über ihr eigenes Schaffen einen festen Platz als herausragende Akteurin auf dem Feld des Amerikanischen Abstrakten Expressionismus.
Text und Sprecherin: Martina Pfeiffer
Verinnerlichte Vielfalt
Andreas Ulrich recherchiert zur Berliner Lokalgeschichte
Was haben Wim Wenders und Herbert Grönemeyer gemein? Beide stehen mit dem Kiez um die Torstraße 94 in Berlin auf vertrautem Fuß. Und Nachbarin Annette Höfer hat eines Abends im "Raben" mit Ben Becker so lange Schnaps getrunken, bis beide irgendwann anfingen Goethe zu rezitieren. Andreas Ulrich – Redakteur, Journalist und Moderator beim RBB und bei Radioeins – wohnte als Kind in den 1960er Jahren in der Torstraße. Ulrichs Vater war am Alex in Scheunenviertelnähe aufgewachsen. Die bunte Vielfalt der Menschen dort war prägend für ihn und strahlte auf den Sohn ab. Mit dem Gespür für Zeitgeschichte im Alltag und einer gehörigen Portion Neugier recherchierte der Journalist und Buchautor auch für den nachfolgenden Band "Die Kinder von der Fischerinsel". Dort wohnte Ulrich in den 70ern. Wir hören u.a. von den Kieling-Kindern und ihrem Vater Wolfgang. Der bekannte Schauspieler war 1968 aus freien Stücken in die DDR übergesiedelt. Wir lernen aber auch Nachbarskind Kerstin kennen, die schon früh Fluchtpläne schmiedete und diese dann 1981 in die Tat umsetzte. Und Moritz, Sohn der Dichterin Sarah Kirsch, erinnert sich, dass z.B. Bettina Wegner und Christa Wolf immer mal wieder bei ihnen vorbeischauten. Wer mehr erfahren will, sei hiermit eingeladen, Andreas Ulrich im Gespräch zu erleben.
Pflege abkoppeln von Profit und Gewinn
"Herzstation"-Autorin Caterina Westphal fordert ein Umdenken
Auf Applaus reagiert man erfreut und dankend. Eigentlich. Dass die Reaktion auch anders ausfallen kann, zeigten Pflegekräfte in Corona-Zeiten, nämlich gereizt und erbost. Beifall klatschen allein reicht nicht aus. Immer weniger wollen sich in diesem Beruf engagieren, denn das ist arbeiten am Limit: Pflegenotstand. Mit "Herzstation", einer Lektüre für Geist und Herz, will Autorin Caterina Westphal das Wissen darüber vermehren, wie eine Krankenschwester die Langstreckenbelastung, die Eigenheiten der Patienten und die fordernden Extremsituationen meistert. Die Auskünfte ihrer Schwester – einer Intensivpflegerin – haben es C.W. ermöglicht, einen tiefen Einblick in die Abläufe und Geschehnisse auf einer kardiochirurgischen Intensivstation zu bekommen. Für die Heldin des Buches, die junge Krankenschwester Lenja, ist ihre Arbeit ein Traumberuf mit Abstrichen. Sie erlebt viele Schichtdienste mit überraschenden Wechselbädern, wie im Kapitel "Der schönste traurigste Tag" geschildert. Lenjas Durchhalteparole: "Bleib fröhlich!" – das Wegdrücken der belastenden Aspekte ihres Berufes. Im Interview spricht C.W. über zentrale Malaisen in der Pflege: die Forderung der Kliniken und Versicherungen nach immer mehr Leistung bei weniger Vergütung, den Fachkräftemangel, rigoroses Gewinnstreben und weitere Verwerfungen im Gesundheitsbereich.
Lesung mit Caterina Westphal aus "Herzstation" am 10. Oktober, 19 Uhr in der Kulturbundgalerie Treptow.
Zum Weltmusiktag: Zeit im Gewand der Musik
Zeit kann stocken, sie kann auch verfliegen. In ihrem Rhythmus versinnlichen Pulsschläge das, was wir Zeit nennen. Man hat versucht, sie bildlich einzufangen im Verrinnen von Sand im Stundenglas. Analog zum Wasser sprechen wir vom "Zeitfluss". Zeit kann ein Hämmern sein, ein Pochen, ein Zerdehnen, ein Verstreichen, ein Dahinplätschern oder ein Sich-Überstürzen. Unabhängig von Uhren und Kalendern, scheint Zeit für jeden etwas anderes zu sein. Gleichförmige Sekunden- und Minutentakte jedenfalls zielen an der tieferen Bedeutsamkeit der Zeit vorbei. Warten wir sehnlichst auf etwas, dessen Eintreffen sich verzögert, dauert das gefühlt "eine halbe Ewigkeit". In Momenten der Einkehr und Andacht erleben wir Zeit wieder völlig anders als bei Festen und anderen Vergnügungen. In den Künsten hat insbesondere die Musik einen innigen Bezug zum Thema. Sie erstreckt sich in der Zeit und macht ein inneres Empfinden von kunstvoll neu strukturierter Zeit erlebnisfähig. Musik gewährt dichte Augenblicke – als Ausdruck einer Seelendynamik. Lassen Sie zum 1. Oktober Gedanken über die Musik auf sich wirken. Hören Sie Anekdoten über das Zeitempfinden von Menschen, die komponier(t)en und dirigier(t)en.
Sprecherin: Susanne Meyenburg, TaFF-Theater im Labsaal Lübars, Partner des Kulturring im BFD
Text: Martina Pfeiffer
Dem Vergessen entreißen
Lutz Mauersberger auf den Spuren der jüdischen Malerin Eugenie Fuchs
Geboren am 25. Juni 1873 in Berlin, flieht Eugenie Fuchs 1933 von Berlin nach Paris. Sie gehört ab 1943 zur verschollenen Künstlergeneration. 71 ihrer Bilder finden in Ausstellungskatalogen oder Rezensionen Erwähnung. Von etwa 14 weiß man, dass sie sich in Privatbesitz befinden. Die Stiftung Stadtmuseum Berlin erwarb 2013 das Gemälde »Winterlandschaft«, ein Porträt befindet sich im Museum Villa Oppenheim. Das in mehr als 40 Jahren geschaffene Gesamtwerk der Malerschülerin von Franz Skarbina, Walter Leistikow und Lovis Corinth muss um ein Vielfaches größer gewesen sein. 1941 fällt ihr gesamter Besitz an das Deutsche Reich. Am 11. Februar 1943 wird Eugenie Fuchs in Paris verhaftet. Auf der Transportliste nach Auschwitz steht ihr Name. Dann verliert sich ihre Spur. Ihre Urgroßnichte Carolyn Winchester hatte 2010 als Erste mit einem Eintrag in die Datenbank von Yad Vashem ein Erinnerungszeichen gesetzt. Lutz Mauersberger gelingt es, mit seinem im Sommer 2023 erschienenen Buch der jüdischen Künstlerin einen würdigen Platz im kollektiven Gedächtnis zu sichern. 2023 markiert den 150. Geburtstag der Künstlerin. Ab Oktober diesen Jahres erinnert in der ehemaligen Nettelbeckstraße 23, heute Straße an der Urania, ein Stolperstein dauerhaft an Eugenie Fuchs.
Ein liebenswerter Klabautermann
Joachim Ringelnatz zum 140. Geburtstag
Mit 18 Jahren heuert der am 07. August 1883 in Wurzen bei Leipzig Geborene als Schiffsjunge an und sieht die halbe Welt. Nach drei Jahren zurück, macht der Vagant eine kaufmännische Lehre und probiert sich über die Jahre in nicht weniger als 30 Brotjobs aus, darunter Tabakhändler, Bibliothekar, Dekorateur. Ab 1909 ist Ringelnatz ständiger Gast im Münchner Bohème-Lokal "Simplicissimus", wird dort Hausdichter. Mit seiner impulsiven und zugleich reflektierten Art macht sich der "knallvergnügte" (J.R.) Sprachakrobat einen Namen. Aus dem Krieg zurück, bespielt er 1920 die Bühne des Berliner Kabaretts "Schall und Rauch". Die nationalistische Presse spricht mokant von "Schweinetrog-Poesien", denn Ringelnatz' Kunstfigur, der trinkfeste Seemann Kuttel Daddeldu, spart nicht mit unverblümt geäußerten Respektlosigkeiten. Auch als Maler widersetzt sich Ringelnatz jedem Klischee. Seine erste Ausstellung in der Galerie Flechtheim 1923 wird hoch gelobt, die Nationalgalerie kauft das Bild "11 Uhr nachts". Doch dann: 1933 werden seine Bücher verbrannt, seine Bilder als "entartet" herabgewürdigt. Der Kabarettist, Schriftsteller und Maler erhält Arbeitsverbot. Schwer angeschlagen stirbt der Künstler mit 51 Jahren in seiner Wohnung am Brixplatz im Berliner Westend. Mit der Lesung "Durch das Schlüsselloch eines Lebens" sei seine weniger bekannte Seite gewürdigt: Ringelnatz als Erzähler.
Sprecher: Wolfram von Massenbach
Theatergruppe Labsaal Lübars, labsaal.de Partner des Kulturring im BFD
Wenn das Auge sich in das Ohr verliebt
Klaus Deckers musikalisierte Flächen
Arm in Arm treten die Künste an und gehen gerne Bündnisse ein. Alles ist möglich im Reigen der Künste, wenn man die Sinne dafür schärft – für das Farben-Hören, die Klangausdehnung von Farben wie auch für das Töne–Sehen, Klänge in ihrer visuellen Dimension. Malerei entgrenzt sich und wird sichtbar gemachtes musikalisches Erleben. Mit welcher Farbe würden Sie den Charakter eines bestimmten Musikinstruments beschreiben? Bei welchem Ton sehen Sie die Farbe violett? Sind Farbkreis und Quintenzirkel tatsächlich vergleichbar? Was sagt der Maler dazu, wenn Rimsky-Korsakov bei C-Dur ein strahlendes Weiß sieht, Wassily Kandinsky dagegen ein Rot, und wenn die Pianistin Hélène Grimaud vom Schwarz-Blau in Beethovens "Sturm-Sonate" spricht? Das Entdecken von Wesensverwandtschaften hebt die Abschottung von Malerei und Musik gegeneinander auf. Die Künste verschwistern sich. Erfahrungsraum Interdisziplinarität. In der kommenden Langen Nacht der Bilder Lichtenberg stellt Klaus Decker seine musikalisierte Malerei vor: seine "Impromptus" und "Préludes": eine persönliche Hommage an die Komponisten Franz Schubert, Robert Schumann und Sergej Rachmaninow.
www.klausdecker.com
Was macht der Maler, wenn er nicht gerade malt?
Auskünfte aus allererster Künstlerhand von Mathias Roloff
Als "Artist in Residence" begleitet Mathias Roloff die am Projekt Teilnehmenden bei ihrer kreativen Entwicklung. Der nahbare Künstler bündelt die schöpferischen Potenziale und gibt Impulse für Neues. In Hintersee (Mecklenburg-Vorpommern) arbeitet er derzeit an der Schaffung eines Veranstaltungsortes als sozialem Treffpunkt, mit Plänen u.a. für eine „Kulturkaufhalle“, ein Dorf-Kino und einen zentralen Schaukasten. Die Menschen da abzuholen wo sie sind, erfordert die Fähigkeit, genau hinzuhören und auf den Mit-Teilungen aufbauend passende Konzepte zu erstellen. Die Interessierten vor Ort in künstlerische Prozesse einzubinden, ist einer der Pfeiler seines Engagements. Der Austausch mit den BürgerInnen findet z.B. in Künstlergesprächen, Ausstellungen und Workshops statt. Manche Geschichten, die M.R. in der Künstlerresidenz zu Ohren bekommt, sind so bilderreich, dass sie eine aussagestarke Grundlage für ein illustriertes Buch abgeben könnten. Zur Langen Nacht der Bilder Lichtenberg ist Mathias Roloff wieder zurück in Berlin.
www.mathiasroloff.de
Interview mit Mathias Roloff: Kulturnews Juli/August 2021
Malkunst auf der Kippe zur Mehrdeutigkeit
Artemisia Gentileschi wird 430
1616 geschieht das Unvorstellbare: die am achten Juli 1593 in Rom geborene Artemisia Gentileschi ist die erste Frau, die an der Accademia delle Arti del Disegno in Florenz Aufnahme findet, der ersten Akademie für Malerei in Europa. Großherzog Cosimo II. de' Medici wird ihr Patron. Die mehrfache Mutter, deren Mann sich davonmacht, gründet eine eigene große Werkstatt. In der Meisterschaft, das Licht im Schatten aufzuspüren, tut sie es Caravaggio in mehreren ihrer Werke gleich. In der Vermarktung der eigenen Kunst hat sie eine glückliche Hand. Ihre Bilder werden über die Grenzen Italiens hinaus bekannt und von europäischen Fürstenhäusern erworben. Als eine der wichtigsten Malerinnen des 17. Jahrhunderts zeigt sie Wagemut – und polarisiert. Das suggestive Schillern ihrer Protagonistinnen ermutigt zu unterschiedlichsten Deutungen u.a. aus psychoanalytischer und feministischer Sicht.
Sprecherin: Susanne Meyenburg (TaFF-Theater im Labsaal Lübars) Partner des Kulturring im BFD. Text: Martina Pfeiffer
Künstlerisches Schaffen als seismographisches Handeln
Ruth Biller über ihr Selbstverständnis als Malerin und die Nähe zum Film
Der Pulsschlag der Metropolen Berlin-Istanbul-Miami hat Ruth Biller derart gepackt, dass in ihrem Katalog Time Codes ein Kapitel mit dieser Städtetrias überschrieben ist. Time codes, ein der Film- und Videoherstellung entliehener Begriff: Jedem Bild wird auf dem Filmmaterial eine Zeitangabe, ein "timecode" zugeordnet. Tatsächlich wirken manche von ihren Bildern wie filmische Sequenzen, mit Farbe und Lichtern überblendet. Ruth Billers Beschäftigung mit experimentellen Filmen und der Fotografie ist nicht ohne Auswirkung auf ihre Malerei geblieben: "Ich sehe in Bildern immer sofort die hundert anderen Bilder, die wie ein entrollter Negativstreifen alle Stadien der Zeit festhalten." Der Kataloguntertitel "Gestalt als Erinnerung" legt die Frage nahe, wie der Flashback in ihrem persönlichen Erinnerungsfilm gedreht ist. Mehr hierüber im Interview. Billers Zeichnungen und Gouachen, betitelt mit „Vision und Wanderschaft“, versammeln in unterschiedlichen Bildsystemen Wahrnehmungen, Assoziationen und Überlegungen zum Begriff der Migration. Im geschichtsträchtigen Berlin streift die Künstlerin umher, macht "gefrorene Zeitzeugen" ausfindig und sichtet das Umfeld seismographisch. www.ruthbiller.de
Leben für die erste Sekunde am Morgen
Malerin Klaudia Krynicka spricht über das, was sie antreibt
Klaudia Krynickas Lieblingstageszeit ist der frühe Morgen, "wenn noch nichts sicher ist und alles passieren kann" (K.K.) Im Interview kommt Erlebtes hinter den gemalten Geschichten zur Sprache. So z.B., wenn ein Bild von ihr bei Anderen einen gespenstischen Eindruck hervorruft ("spooky"), Klaudia aber nach eigenem Bekunden einen Augenblick darstellt, in dem sie sich geborgen fühlt wie in einem sicheren Hafen. Die Künstlerin spricht über das Irritationspotenzial in der Malerei und ihre Neigung zum "Magischen Realismus". Sie führt aus, warum die Unterscheidung abstrakt-figurativ nicht für sie gilt. Ihre Kunst kreist um die Frage: Wie kann man die Form eines Motivs abstrahieren, ohne es zu verlieren? Kuratorin Christa Nagel anerkennend: "Klaudia kann etwas, was heute leider nicht mehr als Voraussetzung für das Malen gesehen wird: Zeichnen." Erst, wenn sie in ihrem Atelier Besuch von Kunstinteressierten bekommt, hat die Malerin das Gefühl, dass ihre Bilder leben. An einer Nacht sondergleichen nimmt sie deshalb auch diesmal wieder teil – an der Langen Nacht der Bilder Lichtenberg im September. Haus Y, Studio 309, Genslerstraße 13. www.klaudiakrynicka.de
Hokusais Holzschnitte, Malewitschs Manifest und eine "Pilgerreise" nach Madrid
Maler Sascha Walmroth über Eindrücke und Einflüsse
Seit seinem "Befreiungsschlag" gegen ein von außen auferlegtes Zeitdiktat ist Sascha Walmroth aus voller Überzeugung freischaffender Maler. Es sind weniger die großen –ismen der Kunst, die ihn interessieren, als vielmehr Aspekte des Schaffens einzelner Malerpersönlichkeiten. Als Kind deutscher Missionare mit 12 Jahren nach Paraguay übergesiedelt, umgaben ihn in seiner neuen Heimat starke Sinnesreize. Im Interview erfahren wir, dass Wasser eigene Rhythmen und Formen hat und hören vom erstaunlichen Farbspektrum der Landesvegetation. Unter anderem berichtet der Bildschaffende von seiner "Pilgerreise" nach Madrid und seinem Aufenthalt als Artist in Residence in Mexiko. Das Event "Globe Gallery" in Berlin gab dem begeisterungsfähigen Künstler die unerwartete Möglichkeit, das Flackern von bengalischen Fackeln als Klang zu erleben. An der Langen Nacht der Bilder Lichtenberg im September nimmt Sascha Walmroth auch diesmal wieder teil. Anzutreffen ist er dann in seinem Atelier, Haus Y, Studio 403, Genslerstraße 13. Instagram: @saschawalmroth
Dichtkunst im Doppel: Eco-Poetry
Eine Lyrik, die Taten fordert
Samuel "Untergang"
"Jedes Zehntelgrad Erwärmung zählt. Jedes Zehntelgrad, das wir verhindern, rettet Leben. Was das betrifft, habe ich viel Hoffnung. Gleichzeitig gilt: Es gibt auch einen Pfad zu einer unbewohnbaren Erde, den wir aktuell noch beschreiten."
(*1996) Samuels Texte sind in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Er kooperiert mit Umweltorganisationen und arbeitet interdisziplinär mit Künstler*innen aller Sparten. Er ist Herausgeber der Anthologie „Poetry for Future – 45 Texte für Übermorgen“ (2020) und entwickelte das Poesie Livestream-Format „close“. 2021 erhielt er den Lyrikpreis des 29. Open Mike und den Uwe-Kaschinski-Preis. Der WORTMELDUNGEN-Förderpreis 2021 für die Rede „Nichts an einem Waldbrand ist unsichtbar“ ging an ihn. Samuel Kramer studiert Philosophie in Frankfurt am Main. Eco-Poetry sieht er als einen Resonanzraum für die Angst, die Trauer und die Wut auf ein zerstörerisches System: "Sie [diese Gefühle] helfen uns, ins Handeln zu kommen. Sie helfen uns, die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Wie soll ich die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen verstehen, wenn niemand darüber traurig ist, bestürzt, wütend? Und wie soll ich diese Gefühle verstehen, wenn sie nirgendwo kulturell verarbeitet werden? Da sehe ich einen Ansatzpunkt meiner Gedichte."
Untergang (Es klingelt ein anachronistisches Telefon)
Es klingelt ein anachronistisches Telefon. Dran: Die Wasserbehörde.
Die Behörde für Untergänge und Pietät. Sie verlangt eine Erklärung.
Ich schwöre:
Beginnen wollte ich mit dem Bild einer Klippe. Beginnen mit dem Bild
und dann kippen in etwas, das ich vergessen habe. Aber vor allem:
Den Überfluss von Untergängen als Untergang beschreiben.
Wellen aus Fleisch. Stürme in den U-Bahn-Stationen.
Und immer wieder: Untergang. Sozusagen als Running Gag.
Bei der Feuerbehörde kommt Rauch aus dem Hörer. Hier ein Verstehen.
Das sich von allein aktualisiert. Was das heißt: Untergang. Was es da
zu lachen gibt, mit angehaltenem Atem, vierzig Meter unter der Oberfläche.
Hab ich schon Untergang gesagt? Untergang.
Ich dachte dabei auch an des Coyoten wahrgewordene Täuschungen.
Die Cartoonfigur rennt, bis sie nach unten schaut, weiter,
lächerlich weit über den Rand hinaus. Unten dann, immer noch, Untergang.
Sascha "Dunst"
"Der Klimawandel ist ein Fakt und keine Meinung. Die Veränderungen in diesem riesigen globalen System sind sehr gut mit einem Öltanker im Meer vergleichbar. Kursänderungen können nur mit großen Kraftanstrengungen umgesetzt werden, aber selbst dann braucht es sehr lang, bis sie sich deutlich zeigen."
Sascha Kokot, 1982 in der Altmark geboren, lebt als freier Autor und Fotograf in Leipzig. Nach einer Lehre als Informatiker studierte er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er erhielt mehrere Arbeitsstipendien sowie u.a. den Georg-Kaiser-Förderpreis (2014). 2013 erschien sein Debütband »Rodung« im Verlag edition AZUR, hier kam im Frühjahr 2017 auch sein zweiter Lyrikband »Ferner« heraus. Weitere Texte von Sascha Kokot sind neben anderen Publikationsorten in der Anthologie "All dies hier Majestät ist deins" (2016) gesammelt. 2022 erhielt er den Lyrikpreis Feldkirch (Publikumspreis). "Das Gedicht "Dunst" soll aufzeigen, dass […] sich auch ewig-anmutende Dinge wie das Meer permanent verändern und wir diesen Veränderungen unterworfen sind.[…] Die Eco-Poetry sehe ich als eine von vielen Optionen, die mir offenstehen und von der ich hoffe, dass sie ein Umsteuern auslöst. Meine Devise ist also, mach was dir möglich ist, schreib ein Gedicht und engagiere dich politisch und demonstriere dafür, dass wir Menschen auch noch in 20 Jahren auf diesem Planeten würdig leben können."
Dunst
als das Meer verschwunden war
im Sog eines wachsenden Eispanzers
blieb zwischen den Küsten
nur das Salz offen liegen
so laufen wir haltlos
auf dem Grund unserer Fanggebiete
in den weißen Ebenen umher
die Wellen und Wogen noch immer fest
in unserem Gang verankert
knirschen unter uns
ihre kristallinen Spuren
bald aber kennen wir keine Gezeiten mehr
können uns nicht vorstellen
dass die schweren Boote
sich von allein wieder aufrichten werden
und wir das Schwimmen
nicht verlernen dürfen
bis die Landbrücke bricht
das Meer zurückkehren wird
Eine Arbeitsweise, für die nur wenige die Gabe besitzen
Die Bildhauerin Camille Claudel
Zur Erinnerung an eine große Bildhauerin am 29. April, dem Internationalen Tag der Skulptur: Dass Camille Claudel in den gemeinsamen Jahren von Auguste Rodin gelernt hat, ist unbestritten. Dass auch Rodin von der Zusammenarbeit profitiert hat, allein schon dieser Gedanke kam den Zeitgenossen einem Frevel gleich. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Doch in beider Werk zeigt sich, dass die Richtung der Einflussnahme durchaus wechselseitig zu nennen ist.
Text: Martina Pfeiffer
Sprecher/in: Kristin Giertler, Thomas Kornmann vom Parktheater Edelbruch
Brennende Fragen zu Brennendes Treibeis
Ein Gespräch mit Autor Frank Hahn
Wie kann es geschehen, dass ein Mensch sich mit besten Absichten in eine totalitäre Ideologie verirrt? Frank Hahn geht in seinem Debütroman Brennendes Treibeis dieser Frage nach. Sein Protagonist Fabian brennt für eine Idee und gleichzeitig werden Teile seines Gefühlslebens mehr und mehr zu Eis. Im Podcast äußert sich der Autor über Fabians heikle Versuche zur Rettung der Welt.
Start der LiteratInnen-Reihe "Frisch Getönt" im Januar 2023.
Fotografie trifft Mythologie
Hajo Blanks "Pandora"
Die "Pandora" der griechischen Mythologie: Fatalerweise öffnet sie eine von den Göttern versiegelte Büchse. Alle darin verschlossenen Übel entweichen – Streit und Leid, Kummer und Schmerzen. Das Verderben ist in der Welt. Den Schauenden bietet Hajo Blank neu in Szene gesetzte Wirklichkeiten. Optische Verfremdungseffekte erzielt er im konkreten Fall durch einen Kunst-Griff: die Drehung einer Aufnahme von Sandbanken an der Costa Verde, Nordspanien. Die Essays des Künstlers zum fotografischen Werk folgen der Absicht, zu unverbrauchten Sichtweisen zu verhelfen – was auch beinhalten mag, den Mythos in die Gegenwart einzuholen.
Fotokunst und Texte: © 2022 Hajo Blank, Sprecherin: Stefanie Kock
Zum Weltglückstag: Glück à la Tucholsky
Wer würde nicht gern hinter dem Glück herjagen, den richtigen Moment abpassen und es dann mit beherztem Griff bei der Stirnlocke packen? Wer möchte ihn nicht empfinden, den seligen Taumel, den überschäumenden Glücksrausch? Der 20. März ist der Internationale Glückstag. Doch halt! Gibt es das Glück überhaupt pur oder ist ihm nicht stets ein Wermutströpfchen beigemischt? Wer letzterer Ansicht zuneigt, findet in Kurt Tucholsky einen Verbündeten, der übersteigerte Erwartungen an das Glück mit Witz und Scharfsinn präsentiert.
Sprecher: Christian Nestler (TaFF-Theater im Labsaal Lübars) Partner des Kulturring im BFD.
"Des Teufels Hufeisen", gelesen vom Meister höchstselbst
Stephan Hähnel, Experte in Sachen "Schwarzer Humor" erzählt, wie traute Zweisamkeit umschlägt in fiese Grausamkeit. Und wie auch nach langen Ehejahren Lüste noch ausgelebt werden – als Rachegelüste. Mord ist eben eine delikate Sache. Verpassen Sie also kein Verbrechen. Ansonsten könnte es Ihnen leidtun.
Autor und Sprecher: Stephan Hähnel
Aus dem Band: "Gift hat keine Kalorien" (Periplaneta)
Ihre Majestät gibt sich die Blöße: "Des Kaisers neue Kleider"
Zum "Erzähl-ein-Märchen-Tag" am 26. Februar Hans Christian Andersens Märchen vom Machthaber, der Scharlatanen auf den Leim geht. Weil er sich nicht die Blöße geben will, als dumm oder als untauglich für sein Amt zu gelten. Angetrieben von diesen Ängsten, macht Ihre Majestät sich vollends lächerlich. Dabei war doch alles so großartig in den Augen des Monarchen. Bis man sich's genau besieht und vor allem genauer zuhört.
Text: Hans Christian Andersen
Sprecher: Thomas Kornmann, Schauspieler des Parktheaters Edelbruch www.parktheater-edelbruch.net
"Des Kaisers neue Kleider", aus: Märchen von Hans Christian Andersen, illustriert von Werner Klemke (ISBN: 978-3-407-77213-8), übersetzt aus dem Dänischen von Albrecht Leonhardt, ©2017 Beltz. Der Kinderbuchverlag in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim Basel.
Maler der Gosse, Maler des Sakralen
zum 65. Todestag von Georges Rouault
Georges Rouault malt ohne vordergründiges Furioso der Farben und frei von jeder Theatralik über Jahrzehnte auch das Elend gesellschaftlich Randständiger und der berufsmäßigen Spaßmacher. Seine Clowns, mit dem Stigma der Ausgestoßenen behaftet, tragen oftmals ikonenhafte Züge. Die clowneske Existenz als Allegorie des Künstlerlebens. Am 13. Februar 2023 jährt sich sein Todestag zum 65. Mal.
Text und Sprecherin: Martina Pfeiffer
Wahrhaft fürstlich
Das grüne Lebenswerk eines blaublütigen Parkomanen
Hermann Fürst von Pückler-Muskau, seines Zeichens Dandy, Weltbürger, Gartenkünstler und heimlicher Demokrat. Einer, der es nicht verdient hat, bloß mit der Eisspezialität eines findigen Cottbusser Konditors assoziiert zu werden. Lernen Sie den eigenwilligen Fürsten näher kennen.
Text: Martina Pfeiffer
Sprecher/in: Christiane Esser, Wolfram von Massenbach (Theatergruppe Labsaal Lübars)
https://labsaal.de, Partner des Kulturrings im BFD
Tatort Kleinkunstbühne: Zwei Kabarettisten packen aus
Den Täter zieht es bekanntlich an den Tatort zurück. Martin Valenske und Henning Ruwe kabaretteln mittlerweile schon ein gutes Jahrzehnt lang auf den Kleinkunstbühnen der Republik. Sie kennen kein Pardon und sie zeigen keine Reue: "Solange die Sprache, unsere Tatwaffe, nicht verboten ist, werden wir immer wieder zuschlagen." (Ruwe/Valenske)
„Erlauben Sie uns einen unseriösen Quervergleich“ - Satirischer Jahresrückblick mit Henning Ruwe und Martin Valenske
Das Märchen "Der selbstsüchtige Riese" – Bester Oscar!
Ein Riese, von Selbstsucht beherrscht, untersagt bei Strafe den Zutritt zu seinem bezaubernden Garten. Niemand solle sich an diesem erfreuen. Die Konsequenz: Der grimmige Winter wird Dauergast im Garten. Mit weiser Hand führt der irische Dichter seinen Titelhelden aus dessen Verkapselung heraus. Was weiter geschieht, erfahren wir im Vortrag der Schauspielerin Nicole Gospodarek – ein Hörgenuss.
Oscar Wilde, Werke in zwei Bänden, Hrsg. Rainer Gruenter
© 1970 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München
Sprecherin: Nicole Gospodarek
Figurentheater Grashüpfer, Mitgliedsverein des Kulturrings
Als ob die Puppe ein eigenes Leben hätte
Dichtkunst im Doppel - Thema Freiheit
Zwei junge Lyrikerinnen reden Klartext
Josefine "Keine Gefahr"
"Es ist so, dass es, glaube ich, eine spezifische Art von Freiheit gibt, die damit zu tun hat, dass nichts, was vorher da war, noch da ist, und nichts, was vorher galt, noch gilt. Dass es keine Gewohnheiten mehr gibt und das Neue entsteht […]"
Josefine Berkholz ist 1994 in Berlin geboren, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig hat sie Literarisches Schreiben, an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie und Sozialwissenschaften studiert. Seit 2010 tritt sie als Performerin und Spokenword-Autorin auf, bisher u.a. für ZDF Kultur, den MDR, Arte und das Goetheinstitut in Brasilien, Belgien und den USA. Sie ist Mitgründerin und -herausgeberin des Audio-Literaturmagazins "Stoff aus Luft". In ihrem Gedicht "Keine Gefahr" beschreibt sie, wie die Aussicht auf Freiheit auch beklommen machen kann: "Aber es gibt eine Suche, vielleicht auch eine Sehnsucht nach solchen Momenten. Und wenn es die im Ansatz gibt, dann haben sie, glaube ich, damit zu tun, dass etwas Vertrautes oder Gewohntes losgelassen […] wird, dass man geht oder aufhört. Und das ist natürlich auch beängstigend, aber ich denke, dass sich das lohnt. (J. B.)
Keine Gefahr
Wir machen einen Spaziergang auf die hässliche Seite der Hafenstadt um nicht zu verbrennen.
/
Es relativiert sich schon alles wo die Schlacke den Sandstrand
mit Schutt überzieht, wo die Häuser nicht mehr pastellfarben sind, hier
lässt es sich aushalten. Hier lässt es sich glauben das wäre hier nicht: Eine Insel
Ein Schwindel, der uns komplett aus der Umlaufbahn kickt
(Ist das das Meer das da rauscht oder das Autobahnkreuz voraus?)
Hier lässt es sich glauben wir wären hier nicht / in Gefahr.
Ein Vorteil: Wenn man spazieren geht braucht man sich nicht so oft in die Augen zu schauen
Wächst es nicht zwischen den Blicken das pulsende Tier, das uns greift
und in Richtung der Mitte des Ozeans zieht, ich könnte schwören
gestern noch war das alles hier Festland.
//
Du zählst Dinge auf: Narben, die du am Körper trägst
Grenzen, die du passiert hast, Knotenpunkte,
klaffende Stellen, die Mäuler reckend
Da, wo eines ins andere übergeht ist es oft dreckig
schmiegt sich die Luft oft Körperwarm und feucht,
will einen nicht loslassen, riecht es nach Eisen,
bleib hier, kleiner Held.
Du bist doch nur
ein ganz normales Kind.
Wenn deine Haut dich nicht freigibt musst du dich losreißen.
Musst die Finger dir aufs gesunde Gewebe drücken
wie Spitzen von Glut. Wenn deine Haut dich nicht freigibt
musst du sie abstreifen. Kannst du das spüren?
Den Wind. Die Schockwellen. Die Erinnerung
an die erste Berührung, den ersten Kuss
der Gefahr. Was würdest du machen, sagte ich dir:
wenn wir jetzt springen
gibt es kein Aufkommen weder auf Wasser /
noch auf dem Land, wir hängen dann da
zusammen
im Nichts
Du bist ein ganz normales Kind.
Du zählst Dinge auf, die dein Körper trägt
ein normaler Körper: Plattfüße.
Einigermaßen lässig geschwungenes Haar. Empfindliche Haut.
Da sind Dinge, die dich tragen: Ein Rippenkorb
hält dein schlagendes Herz. Die Beine noch pulsend vom Rennen
oder war das die Angst / vor dem Sprung?
Grenzen, die dir passiert sind
Vor denen du rumstandst wie eine Heldenstatue
glorreich und unbewegt
das kann schon passieren.
Wenn deine Haut dich jetzt abhält, dann musst du da aussteigen.
Was würdest du machen sagte ich dir: wenn wir jetzt springen
löst sich die Insel im Ozean auf wachsen uns Schwimmhäute
zwischen den Fingern vielleicht zwischen den Lippen.
Wo eines ins andere übergeht gibt es oft einen Moment kein Geländer,
wir sprechen uns nach: Im Fall gibt es keine Gefahr.
Im Fall gibt es
keine Gefahr
Im Fall
gibt es keine
Gefahr.
Wir sammeln Dinge auf an den Rändern der Küstenstraße der Insel
Die uns erinnern daran nicht nachhause zu kehren wie wir gingen von da.
Ich halt sie in meinen Taschen noch auf dem Heimweg, berühre die Rillen,
die Ränder der Knicke wie Schrift. Eine Straßenbahnkarte der fremden Stadt
einen Stein und ein halbes Gedicht. Bleib wach, kleiner Held. Du bist doch nur
Inselbewohner.
Lena "Brief an die Eltern"
"Freiheit ist kontinuierliche Arbeit. Sie einmal zu erlangen reicht nicht, wir müssen sie pflegen und verteidigen. Vor allem müssen wir die Kräfte erkennen, die unsere Freiheit gefährden"
Lena Riemer, 2002 in Düsseldorf geboren, studiert Germanistik und Soziologie an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. Sie hat angefangen zu schreiben, "weil es das einzige war, was Sinn machte". Lena ist Preisträgerin des 35. Treffens junger Autor*innen, lyrix-Jahrgangsgewinnerin 2021 & 2022 sowie Preisträgerin des THEO-Literaturwettbewerbs 2021. Texte von ihr wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Im "Brief an die Eltern" beschreibt sie ihren Freiheitsdrang, den sie in der Großstadt auslebt: "Mein Gedicht versucht, die rebellische Phase nach dem Auszug von Zuhause darzustellen. Dass das nur eine Momentaufnahme ist und das lyrische Ich wahrscheinlich noch einige Enttäuschungen und Verletzungen erleben wird, können sich alle denken, die diesen Prozess selbst schon durchlebt haben." (L. R.)
brief an die eltern
weil vielleicht erklärungsbedarf herrscht: ich zog mir die lungenflügel aus dem körper und legte sie mir auf den rücken um endlich fortzufliegen. sie sind schon schwarz gepunktet von der seuche der stadt CO und nur 2 mal an der zigarette gezogen (ich schwöre es mama ich schwöre) um ihre asche dann in der becherurne zu beerdigen.
falls ihr ein auge auf meine lyrik ausgeworfen habt dann geht es mir gut in der großen asphaltstadt und ihr könnt eure netzhäute gerne einholen kein köder kann mich in den bus nach hause setzen.
mein atem flattert hier über die häuserfassaden die alle gleich sind und doch ihre unterschiede beweisen wollen wie meine geschwister. es gibt hunderttausendundeine mehr straßen als in der heimat
und auch wenn vater mahnte im licht zu bleiben so jagt doch die nacht durch diese gassen und in jede zelle meines körpers.
nein mutter ich rede bestimmt nicht mit fremden ich lade sie wortlos in meine wohnung ein bis sie freunde sind. ja ich weiß dass es nur liebe ist
bitte versteht ich muss noch raum bauen zwischen das tote land und sein lebendiges kind. wohin auch immer diese nikotinbenetzten straßen führen
"Funken sprühen und Geistesblitze entfachen"
Die Berliner Salonière Rahel Levin Varnhagen: Podcast-Lesung mit Dorothee Nolte
Sie war mit ihrem ersten Salon (1790 – 1806) die einzig unverheiratete unter den Berliner Salonièren und lud sogar zum "Nacht-Tee" ein, was für Entrüstung gesorgt haben mochte in der feinen Jägerstraße. Friedrich Schlegel porträtiert Rahel Levin Varnhagen in Lucinde: "Sie hatte eine starke Anlage zum Leichtsinn und lebte in den freiesten Verhältnissen". Von Goethe ist überliefert: "Sie ist ein Mädchen mit außerordentlichem Verstand, die immer denkt, und von Empfindungen. Wo findet man das? Es ist etwas Seltenes." Zwei Schriftsteller, zwei Gedanken. Die Varnhagen-Kennerin Dorothee Nolte: "Funken sprühen und Geistesblitze entfachen", allem voran das wollte Rahel. Die Autorin liest aus "Rahel Varnhagen. Lebensbild einer Salonière." Eulenspiegel Verlag. ISBN 978-3-359-03003-4
Faszinosum Rahel Varnhagen, Autorin Dorothee Nolte erinnert an die jüdische Salonière
Diese seltenen Momente, wenn sich alle miteinander verbunden fühlen…
Podcast-Interview mit Stefanie Kock und Alexander Kerbst
Das Künstlerduo Stefanie Kock und Alexander Kerbst, bekannt aus Schauspiel und Musical, beantwortet Fragen zu den Anforderungen einer allabendlichen Aufführungspraxis. Im Interview erzählen beide von der Bereitschaft zum Risiko und vom Über-Bord-Werfen antrainierter Verhaltensweisen. Was ist das Geheimnis von Bühnenpräsenz? Was nehmen Kock und Kerbst mit, wenn der Vorhang sich am Ende der Vorstellung senkt? Hier die Antworten.
In dem Moment, wo du dein Inneres auf Autopilot stellst, ist es vorbei
Humor
Witz als seelisches Grundnahrungsmittel – gerade in schwierigen Zeiten
"Manche geh'n zum Lachen in den Keller, andere hab'n den Schalk im Nacken": Humor – bisweilen entlarvend und unruhestiftend, dann wieder auflockernd und besänftigend. Der Internationale Tag des Witzes steht an. Grund genug zu fragen: Was ist, kann, will Humor? Das Hörpublikum erfährt, warum Lachen nicht immer harmlos ist und Humor auch melancholisch eingefärbt sein kann. Einfach reinhören!
Sprecher/in: Alexander Kerbst, Martina Pfeiffer
Text: Martina Pfeiffer
Dichtkunst mal Vier – Podcast
Zusammenarbeit mit vier jungen Lyriker*innen der „young and open poems“
Sophie „ich habe das“
„Ich selbst mag es, Gedichten auf die Spur zu kommen, sie wie Sherlock Holmes zu entschlüsseln und dem Ganzen auf den Grund zu kommen.“
Sophie Stroux ist 1995 in München geboren. Um ihren Master in Kulturpoetik zu erwerben, zog sie nach Münster. Sie befasst sich u.a. mit Zirkuswissenschaften und Performancetheorien. Im Rahmen der open poems hat sie zwei Jahre von Uljana Wolf gelernt, die 2022 einen Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Das computergestützt von Sophie selbst eingespielte Soundgedicht „ich habe das“ hinterfragt die Möglichkeiten des rein Sprachlichen: „Mit Soundpoesie kann ich nochmal mehr formen und finalisieren, was ich in meinen Gedanken sehe und höre.“ (S.S.)
ich habe das sagen hier wende worte
gegen richtung halte sie ins gegenlicht
sie geben nichts beim wort genommen
wachsen mir hände halten die vers-
brecher im wendekreis und still
die rede die stille ein raum gelassen
sprache post-wendend gefunden
in diesen räumen atmet es sich
so schlecht geht es doch nicht
als fremde in der fremde in der
stille in diesen räumen hier
atme ich habe das sagen
nicht die wendungen in
ungehörten räumen und ich
bin fremd in dieser sprache
hier greifen hände nach stille
die rede die stille ein raum
die stille mit händen nicht zu
fallen gelassen ich fasse wände
verwandle worte zu körper in
dieser sprache fallen räume
und heute stehe ich mit diesen
händen und stehe zum wort fremd
(Sophie Stroux)
Şafak „Hygienekonzept“
„Nirgends sonst ist Sprache derart konzentriert und im Schwung von Klang, Symbol und Gehalt wie in der Lyrik.“
Şafak Sariçiçek, 1992 in Istanbul geboren, hat Biowissenschaften in Heidelberg und Jura in Heidelberg und Kopenhagen studiert. Er ist Gründer des Literaturkollektivs Echolot. 2021 erhielt er den Preis der Heidelberger AutorInnen. Im gleichen Jahr war er Stadtschreiber von Nanjing, China. Aktuelle Publikation: Im Sandmoor ein Android, Quintus Verlag. Şafak trägt im Podcast sein Gedicht „Hygienekonzept“ vor. „Hygienekonzept skizziert vielleicht, was in einer völlig automatischen Welt geschieht, der auch die Empfindungen für ein Du untergeordnet werden.“ (S.S.)
Hygienekonzept
wir schaffen uns ein hygienekonzept zur steten revision
gesetzt aus schweigen
und schweigend schweben wir
in folgeverfahren
hab dich nachrangig berücksichtigt
im nachrang sichtest du mich nicht
unsere sichtungen verblassen
lassen nach mit jeder stoßlüftung
personal von fremdfirmen
einige monate lang
der name unseres zuteilungsraums
heißt nun schweigen
Konstantin „ein drängen du denkst ein drängen“
„Mir scheint wichtig, sich der Welt nicht zu verschließen. In-Worte-Fassen ist ein Konfrontieren, ein Stellungbeziehen. Und weit mehr, weit Stärkeres noch. Es kann ein Aufbauen sein.“
Konstantin Schmidtbauer, 1996 geboren und aufgewachsen im Burgenland, studierte deutsche Philologie an der Universtität Wien, belegte 2014 und 2015 den ersten Platz in der Kategorie Literatur beim burgenländischen Landesjugendkulturpreis und den zweiten Platz in der Gesamtbewertung. Das Gedicht „ein drängen du denkst ein drängen“ ist eingelegt in Großstadtgeräusche, Sprachfetzen, Verkehrslärm und Gesang. Das Stilmittel der interpunktionslosen Zeilen bewirkt „ein Stocken, ein Öffnen, ein Fragen, ein Sehen, dass es geht. Ein Drängen, ein Denken.“ (K.S.)
ein drängen du denkst ein drängen die
nacht blendet deine augen es riecht
nach haarspray keine nachricht auf
deinem handy hast du empfang ein
drängen niemand verschwindet drängen
die nacht blendet deine augen menschen
du denkst menschen gehen vorbei was
dreht sich lichter die nacht
blendet deine augen menschen drücken
sich vorbei menschen drücken sich vor
bei die nacht blendet deine augen die
menschen ein drängen du denkst drängen
die menschen gehen hin in die nacht
Lea „Nachts wird das Atmen schwer“
„Lyrik ist ein Stück gelebte Utopie; sie macht deutlich, wie viele Facetten in einer einzigen Perspektive liegen können […]“
Lea Wahode, geb. 1997 in Regensburg, studierte Psychologie in Münster, Santiago de Chile und Heidelberg. Viele ihrer Texte verarbeiten Graffiti, Demosprüche und Gesprächsfragmente. „Nachts wird das Atmen schwer“ ist Teil ihres Gedichtzyklus aus 30 Jahren September. Die Sequenz dokumentiert die 2019 in Chile einsetzenden Proteste für soziale Gerechtigkeit. Den Aktivist*innen wurde mit massiver polizeilicher Repression begegnet. „Der Text versucht, diese Zeit des Umbruchs, der Utopien; aber auch der Gewalt und Rauheit tröpfchenweise aufzufangen, sichtbar zu machen.“ (L.W.)
0
nachts wird das atmen :|| schwer
unter den schlägen der Helikopter wir spüren:
unsere körper imprägniert, gefühle abgepackt in tränendichte Körperorte
wir schlafen um nicht zu fühlen
wir schlafen nicht
fühlen nicht schlafen wie schlaf fühlen
wir schlafen
wir fühlen schlaf nicht
wir schlafen und reden uns ein: Energie sammeln
run and jump, herzchen steigern für übermorgen, den Sommer
unsere hashtags verbrennen Netze, Gebäude, Pappkartons.
I
wir schieben grenzen
tragen Gewalt als Halstuch & Uhr
Mama, nach den Schüssen gehe ich ins Bett
& Wut in Gießkannen, mit Sprühaufsatz
Benutz’ keine Sonnencreme
wir gießen mit aufgelöstem Backpulver die angst
Fass dein Gesicht nicht an auf keinen Fall
die angst von den augen
lösen uns auf im laufen
zwischen zischenden Kugeln blassen Palos in weinender Luft
eine Zitrone tröstet die Schleimhäute
& wir verstehen ihre Chemie nicht
mit getränkten verschenkten Tüchern ertränken wir die furcht
vor unseren Mündern:
Baumwolle Backpulver [bicarbonato bicarbonato] und limón für die Tiere in den Straßenknöcheln:
Guanaco: spuckt fließende Stadt, gepfeffert mit Tränen
zorrillo: seine dämpfe vertreiben mit Töpfen und Handschuhen der Gärtner*innen
aus Grünflächen Wohlstandsquadraten barrio alto
das Rezept: geerbt aus WW1, kommerzialisiert, beworben mit Schmerzskala & Tränenradius
schickt Körperkrämpfe aus 30 Jahren September
II
nachts wird das atmen schwer
unter den schlägen der Helikopter ihr blättern in luft ständiges wachseinbleiben wachschlafen
wir spüren: die Zellen imprägniert, Emotionen abgepackt in tränendichte Körperorte
wir schlafen um nicht zu fühlen
wir schlafen nicht wir fühlen
schlaf nicht
& reden uns ein energie zu sammeln für über morgen den sommer das schaukeln durch eintage
III
unsere hashtags, Plakate verbrennen netze straßenschilder Pappkartons einen rücken.
Immer noch Angst vor Virginia Woolf?
Podcast zum Internationalen Frauentag
Im Gegensatz zu den Männern müssen sich literarisch ambitionierte Frauen laut Virginia Woolf oftmals damit begnügen, "die Augen aus den Kartoffeln herauszuschneiden". Mit ihrem Roman Orlando (1928) setzt sich die Britin andererseits über traditionelle Geschlechterfixierungen leichtfüßig hinweg. Ihre gedanklich durchgeprobten Szenarien machen herkömmliche Rollenzuweisungen durchlässig.
Textfassung: Martina Pfeiffer
Schnitt/Sound: Katrin Rönicke, https://hauseins.fm
Fotokünstler Hajo Blank
über Wahrnehmung, Weltdeutung und vielgestaltiges Sehen
Hajo Blanks Fotokunst zeigt, was sich hinter der Oberfläche des vermeintlich Sichtbaren verbirgt. Seine Arbeiten verrücken die Parameter einer liebgewonnenen Normalität, denn der Künstler unterläuft gängige Sichtweisen und überschreitet sie zugleich. Die präsentierte Kunst macht neugierig und mutig, sich auf diese Schau-Abenteuer einzulassen.
Auf fernen Pfaden zu sich selbst
Autorenlesung mit Axel Barner
Axel Barners Erzählungen vom Losziehen in die Fremde lassen sich als Angebot lesen. Als Einladung, für Erfahrungsräume jenseits der Alltagsroutine aufnahmefähig zu bleiben oder zu werden. Aufbruchserprobt, wie er ist, zieht es ihn immer wieder in die Ferne, um die weißen Flächen auf der Landkarte des Selbst auszufüllen. In der Podcastlesung bringt Barner das Gedicht "Temeswar, Blicke" zu Gehör, die "Anekdote über den Einfluss indischer Filmmusik beim Haareschneiden", die Kurzprosatexte "Ankunft in Addis Abeba", "Rückkehr nach fünfundvierzig Jahren" sowie Auszüge aus dem im Sommer 2021 erschienenen Band Äthiopisches Album. Eine Reiseerzählung.
Ein Gespräch mit dem Autor Axel Barner über das Sich-Finden auf Reisen
Gans anders
Stephan Hähnels "Kampfgans Luise"
Das Federvieh mit Namen Luise taugt zu weitaus mehr als bloß zum Festtagsbraten. Charakterstark und wehrhaft erobert es sich seinen Platz in den Herzen. Dass auch Sie sich im Anschluss an Stephan Hähnels Vortrag in Luises Fangemeinde einreihen – gut möglich …!
"Wie kann man atmen ohne die Weltluft, die aus Büchern strömt?"
Podcast zum 140. Geburtstag Stefan Zweigs
Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, als Kosmopolit dem Ideal einer völkerübergreifenden Humanität verpflichtet, wäre am 28.11.2021 hundertvierzig Jahre alt geworden. Der Autor von Sternstunden der Menschheit verfasst 1931 den Essay "Das Buch als Eingang zur Welt". Darin macht er anschaulich, wie die Befähigung, die Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln wahrzunehmen, bei ihm durch das Lesen hervor- und vorangebracht wurde. Und im gleichen Atemzug formuliert er eine hinreißende Liebeserklärung an das literarische Wort als "zweites Weltall […], das um uns leuchtend kreist."
Im Gespräch mit Georg Bothe
Bärbel Ambrus
Georg Bothe ist Druckgrafik-Künstler und -Kursleiter sowie zweiter Vorsitzender des Graphik-Collegiums. An seinem Wirkungsort, im Lichtenberger Studio Bildende Kunst, gibt er Auskunft.
“Warum Druckgrafik?” Das ist eine der ersten Fragen an Georg Bothe. Was treibt heute noch jemanden dazu an, sich regelmäßig die Hände in der Druckwerkstatt schmutzig zu machen? Er erklärt begeistert, dass es ... weiterlesen
Paul Klee
Maler-Dichter und Maler-Musiker
Paul Klee ist ein bedeutender Vertreter der Klassischen Moderne. Als Energiequell hat der Maler, Zeichner und Grafiker das Poetische für sich entdeckt. Zudem ist dieser hochbegabte Violinist der Klangkunst sein Leben lang treu geblieben. Der Geist der Musik hat Klees bildnerisches Schaffen mehr als bloß angeregt, er hat es durchdrungen. Paul Klee erweist sich wahrlich als Wanderer zwischen den Welten der Künste.
Vorschau 2024/25
Podcast-Interviews mit Bildenden KünstlerInnen und im Rahmen von „Begegnungen Wort-Wörtlich“:
- Praveen Sankar
- Coco Bergholm
- Jinran Kim
- Rolf Behm
- Axel Lawaceck
- Cristina Wiedebusch
Podcast-Interviews und Lesungen in der literarischen Reihe "Frisch Getönt":
- Axel Lawaczeck
- Silke Kettelhake
- Sabine Lata
- Philipp Schönthaler
- Nov: Dichtkunst und Musik: Nina-Sophie Raach, Johanna Losacker und Mikyoung Lee
Zusätzlich sind Podcast-Beiträge/Porträts und Lesungen zu ausgewählten Jubiläen, Aktions- und Thementagen vorgesehen.
- 28. August: Gedichtvortrag 275. Geburtstag J. W. Goethe
- 01. September: Welttag des Briefeschreibens
- 01. Oktober: Tag des älteren Menschen
- 16. Oktober: 140. Geburtstag Rembrandt Bugatti
- Adventszeit: Jo Zartelli liest R. M. Rilke (Gedichte)
Seit Dezember 2021 ist Martina Pfeiffer im Podcastbereich befasst mit der Akquise von SprecherInnen, den Podcastinhalten, der Interviewführung, dem Verfassen der Podcastbegleittexte, der Titelgebung und der Musikauswahl.