Der 28. Oktober 1938 war ein Freitag. Nach dem Sonnenuntergang sollte, wie gewohnt, die Zeit des Sabbats beginnen. Laut der strengen Vorschriften der jüdischen Religion, sollten die Gläubigen an diesem heiligen Tag jede Tätigkeit vermeiden, die man als Arbeit betrachten konnte, z. B. das Tragen von Gepäck und das Reisen.1

Der 18-jährige Marceli Reich, der damals in einer kleinen möblierten Wohnung in Berlin-Charlottenburg wohnte, wurde kurz vor 7 Uhr am Morgen von einem Wachmann geweckt und aufgefordert mitzugehen. In die Hand bekam er ein Abschiebungsbescheid. Absolut überrascht, versuchte der junge Mann, darauf hinzuweisen, dass er gemäß des Schreibens 14 Tage Zeit habe, das Land zu verlassen und sogar einen Widerspruch einlegen könne. Der „Gesetzeshüter“ zeigte jedoch kein Verständnis für solche rechtlichen Nuancen 2. Bei der Verhaftung ahnte der zukünftige Literaturkritiker noch nicht, dass er nur einer von tausenden polnischen Juden war, die schon seit dem Vortag (27.10.1938) im ganzen Reichsgebiet verhaftet und zu diversen Sammelpunkten gebracht wurden. Weiter ging es zur polnischen Grenze.

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1 Jerzy Tomaszewski: „Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahr 1938“, fibre Verlag, Osnabrück 2002, Seite 120
2 Marcel Reich-Ranicki: „Mein Leben“, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999, Seiten 157-159