Rezension: "Nach oben ist das Leben offen" (Erzählungen)

Zugegeben, atemberaubend war es schon, als Felix Baumgartner 2012 mit seinem Stratosphärensprung aus 39 km Höhe im freien Fall die Schallmauer durchbrach und damals eine neue Marke aufstellte. Extremsportler wie dieser wollen in die Köpfe rein – und sie kommen dort an, wo sie hinwollen. Wie das? Weil das Leben nach oben offen ist, oder zumindest glauben gemacht werden soll, dass es das ist. November 2023: Der Katalane Aniol Serrasolses bricht im norwegischen Spitzbergen einen Rekord mit seinem Kajak.  Nachdem er sich erfolgreich 20 m in die Tiefe stürzte, lauten die Schlagzeilen im Netz: "Kajak-Profi wagt Rekordsprung von Gletscher-Wasserfall" (stern.de). "Kajak extrem in der Arktis – Alles für den einen Sprung" (YouTube, Spiegel), "Für den Weltrekord springt er ins eisige Wasser" (Rtl.de). Fehlt noch die Erwähnung von lauten Headlines über "Monsterwellenreiter" wie Sebastian Steudtner und Garrett McNamara, die es mit gigantischen Wasserwalzen aufnehmen. Im Juli des Bergsteigerjahres 2023 stürzt am K2 der 27-Jährige pakistanische Lastenträger Mohammed Hassan in 8200 m Höhe ab. Während er in den Seilen über dem Abgrund hängt, steigen Dutzende Gipfelaspiranten auf ihrer Jagd nach Rekorden an dem Verletzten vorbei. Erst nach dem Abstieg erfuhren sie, ihren Aussagen zufolge, vom Absturz und Tod des Mannes.

"Die Kunst von heute ist eine Kunst ohne Maß", dieser Ausspruch findet sich in "Nach oben ist das Leben offen", der den gleichnamigen Band eröffnenden Story. Zitatgeber ist der Extrembergsteiger Reinhold Messner, der als Erster  den Nanga Parbat im Alleingang bezwang. Messmers eigene Buchtitel klingen nach einem vollmundigen  programmatischen Aufs-Ganze-Gehen: "Alle meine Gipfel", "Berge versetzen. Das Credo eines Grenzgängers". Man kann Glaubensbekenntnisse dieser Art gut finden. Oder aber unerträglich: die grandiose Selbststilisierung, auf eine schier übermenschliche Außendarstellung erpicht.

Elf Erzählungen sind in Philipp Schönthalers Band versammelt.  In  der Anfangserzählung – es ist zugleich die titelgebende – macht der Autor das Streben nach  Grenzüberschreitung und Rekordüberbietung in seiner ganzen Fragwürdigkeit zum Thema.  Im Trainingscamp, 1900 m über dem Meeresspiegel, werden Körper und Geist extrem gefordert: "Jeder war auf sich gestellt, es zählten die selbst auferlegten Regeln […] In den Leistungsentwicklungen sämtlicher Disziplinen sind vorerst noch keine Grenzen abzusehen […] Das galt auch für uns", sagt der jugendliche Ich-Erzähler. Zweifel an diesem Glaubenssatz stellen sich bei fortschreitender Lektüre ein. Spätestens dann, wenn der junge Frieder am Fuße der Bergwand, die er zu erklimmen versuchte, mit zerschmetternden Gliedern tot aufgefunden wird.

Das ganze Unternehmen Trainingscamp lässt sich als Ritual des Eintritts in die Erwachsenenwelt, als Initiationsgeschichte lesen. "Krieger, Krieger heißen wir"; "Aufwärts führt der Pfad zum Leben" – das sind die Motivationsmantras, die sich die Jugendlichen aufsagen, mit denen sie sich zu Höchstleistungen antreiben. Ein Konglomerat von Expertenwissen und Gemeinplätzen wabert in den Köpfen der Heranwachsenden. Eine der Lektionen: Der Geist bewegt den Stoff. Gewiss, wenn keine mentale Fokussierung erreicht wird, kann das im Hochgebirge tödlich enden. In der Abgeschiedenheit und Lebensfeindlichkeit der Höhenlagen ist eine Neuordnung der Prioritäten die Prämisse zum Überleben. Bei Schönthaler durchläuft die Gruppe Jugendlicher ein Höhentraining, das auf die griffige Formel living high, training high gebracht wird. Solcherlei Einstreuungen finden sich in der Erzählung viele.  Es bleibt zum Teil in der Schwebe, von wem sie stammen. Von den Jugendlichen, die daran glauben? Von den Coaches, Ärzten und Experten, ihren Begleitern? Von einer Erzählerinstanz?  Der Autor eröffnet und beschließt seinen Erzählzyklus mit der Besessenheit seiner Figuren, sich in der Vertikalen zu behaupten. In der Schlusserzählung, welche die Besteigung des Cerro Torre in Patagonien in den Mittelpunkt stellt, heißt es von der Bergsteigertruppe: "Wir wussten: Nur auf immer größeren Umwegen waren die zeitbedingten Grenzwerte zu finden". Cerro Torre: Der Inbegriff des Unmöglichen galt lange Zeit als unbesteigbar. Patagonien, "dieses Land des Äußersten, dieser Punkt, über den man nicht hinausgehen konnte". Um die Skala der Erfahrungsintensität zu erweitern, als sei nur im Extrem das Leben zu spüren, setzen sich die Ausnahmesportler den Gefahren der Bergwelt aus. Schönthaler blickt auf ihre psychischen Antriebe, legt diese frei. Stößt auf Ängste und Zerrissenheit.

In der Erzählung "Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt" geht es statt in die Höhe in die gegenläufige Richtung, die Tiefsee. Auch auf die anderen Disziplinen trifft zu: "Die Grenzen sind bislang unabsehbar." Was im Hochgebirge  die Überlebenskünstler, Glücksritter, Kleininvestoren und Touristen sind, das sind beim Tiefseetauchen die Journalisten, die Fotografen und die Schaulustigen. Der bewusst reißerisch formulierte Titel ist in der Geschichte dem Sporttaucher Termann in den Mund gelegt. Getreu dem Motto, das an dieser Stelle vielleicht greift: Formuliere Schlagzeilen über deine Person selbst, und das möglichst catchy, dann gehst du sicher, dass die Presse sie genauso übernimmt.  Mit einem Selbst-Vermarktungstrick wie diesem scheint Termann bestens vertraut. Im Erzählverlauf tritt plötzlich, völlig unvorbereitet und ohne weitere Anhaltspunkte ein gewisser Costello in Erscheinung, gleichsam aus dem Nichts auftauchend. Überhaupt scheint in dieser Erzählung das "Auf-" und das "Abtauchen", das Erscheinen und Verschwinden evoziert zu werden. Über 20 Personen sind die ständig wechselnden Adressaten Termanns. Der Tough guy gibt pausenlos druckreife Sätze über sein Expertentum, über seine körperliche und mentale Fitness und die alles andere in den Schatten stellende Erlebnisintensität in den Momenten der Grenzüberschreitung von sich. Unüberhörbares  Brusttrommeln. Sogar an den Hund eines eintretenden Herrn gewandt, richtet Termann seine Botschaft in Form von griffigen Slogans, damit dokumentierend, was bereits der Philosoph E.M. Cioran unterstellte:  "Der Geist ist ein Schwätzer".

"… sage die Wissenschaft, sagt Termann"; "habe der Arzt gesagt, sagt Termann". Die Zuschreibungen der Redeteile verwischen sich, ebenso wie Costello konturlos bleibt. Wie ist es um die Zuverlässigkeit der Aussagen Termanns bestellt? Einmal beteuert er, er habe seine Augen in der Tiefe immer offen, an anderer Stelle gibt er von sich, seine Augen habe er in der Tiefe geschlossen – Signale des Autors, die seine Figur der Unglaubwürdigkeit verdächtig machen. Die Zweifel wachsen, Termann entlarvt sich zunehmend selbst, je mehr er auf Faktizität und authentisches Erleben pocht.  Wer aufmerksam liest, reibt sich streckenweise die Augen und geht auf Distanz zu diesem He-Man. "Er sei bereit für den großen Tag" – Der große Tag aber, die angekündigte Grenzüberschreitung, der potenzielle Rekord, findet sich erzähltechnisch ausgespart. Eine elliptische Notiz, mit einer Reißzwecke über das Bett des Tauchers geheftet: "Wenn du nach einem Rekord plötzlich aus der Tiefe auftauchst…" könnte den Sieg und genausogut die Niederlage des Tauchers bedeuten. Wer nämlich beim Auftauchen ohnmächtig wird, dessen Tauchgang bleibt ohne Wertung. War Termann auch diesmal,  wie zuvor schon einmal,  wieder bewusstlos geworden und der Tauchgang somit ungültig?  Der Autor hält durch seine ausgeklügelte Erzählstrategie die Lesenden zur Rekonstruktion einer zweiten Version, einer Gegengeschichte an. Erzählende Prosa wie die von Philipp Schönthaler wird damit der zunehmenden Komplexität, ja Wirrnis des modernen Lebens und seiner schwindelerregenden Bahnen gerecht.

Der Mann mit Namen Costello ist und bleibt ein Phantom. Die auffällig vielen Personen in der Erzählung "shopping mall" werden namentlich eingeführt, aber wir lernen sie nicht wirklich kennen. Für "Das Schiff, das singend zieht auf seiner Bahn" und "Reisegesellschaft, unterwegs" gilt das Nämliche. Die Namensträger agieren schablonenartig, ihre Gedanken sind gleichgerichtet, von eingängigen Werbesprüchen und –bildern vereinheitlicht, austauschbar. Geht Individualität in der Gegenwart rapide verloren? Jedes Einkaufszentrum in dem mit "shopping mall" überschriebenen Erzählstück gleicht jeder anderen Mall weltweit: Berlin, London, Paris, Mailand, Dubai.  Doch dann: Risse, plötzlicher Deckeneinsturz und Schusswechsel in der Mall-Routine verbreiten bei der Shopping-Jüngerschaft Angst und Schrecken. Schönthaler veranschaulicht den Einbruch des Unkalkulierbaren in eine durchgeplante und entzauberte Welt, auch in der Erzählung „Reisegesellschaft, unterwegs“.  Der Mord am Gerichtspräsidenten Poinsot in einem Bahnabteil, der 1860 eine kollektive Angstneurose lostrat, und – auf der Gegenwartsebene - Viktors Tod im Zug am Erzählausgang: Geschehnisse, die sich der Kontrolle entziehen. Weder die Umwelt noch sich selbst hat der Mensch im Griff. Vielmehr grassiert der Glaube mit dem vorgelagerten „Aber“. Rom bildet auch jetzt noch Exorzisten aus. 120 sind es jährlich, erfahren wir in der Erzählung "Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde". Fußballtrainer Trappatoni versprengt vor einem Spiel Weihwasser, im Strafraum werden Amulette vergraben. Von aufgeklärtem Geist und vom Licht der Vernunft keine Spur: Dagegen vermag selbst die "Gesellschaft für kritisches Denken" nichts auszurichten. Das Motiv hartnäckigen Aberglaubens in Sportlerkreisen steht bei Schönthaler in scharfem Kontrast zum Streben nach forcierter Perfektionierung von Körper und Geist in einer „modernen“ Welt. In "Das Schiff, das singend zieht auf seiner Bahn" werden Körper und Finanzguthaben korreliert: "Der Körper ist wie ein Bankkonto: nur wer einzahlt, kann auch abheben". In allen anderen Geschichten fordert die Leistungsgesellschaft ebenso ihren Tribut. Der Partner in spe sieht sich über seinen "Body Mass Index", kurz BMI, gecheckt und bei Nichteignung ausgemustert.

Menschen scheinen im realen Leben durch in die Höhe getriebene Leistungsimperative tatsächlich immer mehr in Endlosspiralen hineinzugeraten. Das nennt man dann "Lifestyle". Eine Seinsweise, die aus einer tiefen Empfindung des Ganzen und der wechselseitigen Bezüge seiner Teile hervorwächst, gerät als Ziel aus den Augen. Stattdessen greifen die Zwänge der Upgradekultur und damit ein zunehmend groteske Formen annehmendes Body- und Self-Enhancement. Philipp Schönthaler macht dies mit schockierender Deutlichkeit zum Signum der Gegenwart.  Martina Pfeiffer

Philipp Schönthaler erhielt für seinen Debut-Erzählband „Nach oben ist das Leben offen“ 2013 den Clemens-Brentano-Förderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg.

Philipp-Schönthaler-Interview mit Martina Pfeiffer