Begrüßen Sie heute mit mir Philipp Schönthaler und freuen Sie sich auf ein Gespräch mit dem Autor, der für seinen Kurzprosaband "Nach oben ist das Leben offen" den Clemens-Brentano-Preis erhalten hat. Seine Erzählstücke sind ein lesenswerter Beweis dafür, dass Kurzgeschichten mehr sein können als bloße "Fingerübungen" im Vergleich zu einem großangelegten Roman.

Herr Schönthaler, würde Sie persönlich reizen, es mit einem als unbezwingbar geltenden Berg aufzunehmen?
P.S.: Nein, ich weiß um meine physischen Grenzen. Obwohl ich ein Verständnis dafür habe, dass man seine persönlichen Limits austestet, stehe ich dem Wettbewerb der Rekorde, der oftmals ja nur noch ein reiner Selbstzweck ist, eher skeptisch gegenüber.

Die Erzählungen "Nach oben ist das Leben offen" und "Cerro Torre" handeln vom Bergsteigen, "Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt" vom Tiefseetauchen: Wie würden Sie die "Herausforderung" beim Extrembergsteigen und beim Tiefseetauchen auf den Punkt bringen? Worin liegt sie?
P.S.: Obwohl ich mich mit den physischen Aspekten des Extremsport beschäftige, sind sie nicht mein Hauptanliegen. Das liegt eher in den existenziellen Fragen, die mit dem Streben, diese Grenzpunkte zu überwinden, zusammenhängen. In Unternehmungen wie einen Gipfel zu erreichen oder mit nur einem Atemzug so tief wie möglich zu tauchen, verdichtet sich in einem durch und durch physischen Akt, was sich über das Körperliche allein nicht fassen lässt. Extrembergsteigen und Apnoetauchen ist in dieser Hinsicht beispielsweise gemein, dass das Subjekt dort, wo es eine absolute Kontrolle über sich ausübt und ganz zu sich zu kommen meint, sich gleichzeitig zu verlieren droht. Es sind solche Kippmomente, die mich in dem Erzählband interessieren.

"Wenn das Herz im eigenen Blut ertrinkt": ein Wettkampf oder der Versuch, einen Rekord zu überbieten … Ausgespart: der angekündigte Tauchgang, der große Moment selbst.  – Offen bleibt, wie der Ausgang des großen Tages war. Eine auskalkulierte"Leerstelle" für den aufmerksamen Leser?
P.S.: Die Leerstelle illustriert, glaube ich, gut den genannten Aspekt, dass mich weniger die sportliche Leistung an sich interessiert, sondern das Drumherum. Während in der Wettbewerbslogik des Sports letztlich nur zählt, ob man das Ziel erreicht oder einen neuen Rekord aufgestellt hat, gehen meine Erzählungen davon aus, dass das Eigentliche gerade nicht darin liegt. In gewissem Sinn trifft das auch auf eine ganz buchstäbliche Art und Weise zu. Denn um den tiefsten Punkt im Tauchen (oder den höchsten beim Bergsteigen) zu erreichen, muss das Subjekt sein Bewusstsein nach Möglichkeit ausschalten und ausschließlich die motorisch trainierten Bewegungsabläufe abrufen. Wenn ein Apnoetaucher sich während seines Tauchgangs fragt, warum er das eigentlich macht, oder was ihn als Mensch ausmacht, hat er bereits verloren. Man könnte die Leerstelle vielleicht also auch so lesen, dass der Taucher an diesem tiefsten Punkt in einem bewusstseinsphilosphischen Sinn gar nicht bei sich war.   

Risse und Deckeneinsturz in der Erzählung "shopping mall". Blutvergießen und Mord. Viktors Tod in der Geschichte "Reisegesellschaft, unterwegs". "Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde": hier wird einer vom Blitz getroffen.  "Cerro Torre" erinnert daran, dass ein Bergsteiger von einer Eislawine erfasst und in den Abgrund gerissen wurde. Frieder wird in der Titelgeschichte tot am Fuße der Bergwand aufgefunden: Ist es Ihnen eine Lust, den Einbruch des Unkalkulierbaren in eine entzauberte Welt zu erzählen oder tun Sie es mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube?
P.S.: Lust und Schrecken sind vermutlich gleichermaßen vorhanden. Dennoch liegt meine Konzentration auf der Logik, die den erzählten Ereignissen und Strukturen innewohnt. Zu dieser Logik, in der es ja sehr oft darum geht, die Kontrolle über sich selbst und die Umwelt zu gewinnen, gehört die Gewalt meines Erachtens dazu. In dieser Hinsicht ließ sich mein Interesse an Phänomenen wie dem Extremsport auch so zuspitzen: Der Wunsch nach Kontrolle führt die Subjekte in Extremsituationen. Einerseits liefern ihnen diese dann den Nachweis, dass sie tatsächlich im Vollbesitz ihrer Macht sind. Andererseits setzten die Extremsituationen das Subjekt aber überhaupt erst einer Gefahr aus, die dann zu einem tatsächlichen Kontrollverlust oder, in letzter Konsequenz, dem Tod führt.   

Und nochmal komme ich auf "shopping mall": Jede Mall gleicht jeder anderen Mall weltweit, schreiben Sie: Berlin, London, Paris, Mailand, Dubai, New York. Die zahlreich auftretenden Personen in dieser Erzählung werden namentlich eingeführt, aber wir lernen sie nicht wirklich kennen. Geht Individualität in der Gegenwart rapide verloren?
P.S.: Ich würde nicht sagen, dass Individualität verloren geht. Das würde bedeuten, dass die Individualität als feste oder unwandelbare Größe gegeben ist. Dagegen würde ich argumentieren, dass die Individualität unter dem Einfluss zahlreicher Faktoren gebildet wird und wandelbar ist. Genau deshalb interessieren mich auch konkrete Bedingungen, unter denen die Individualität verhandelt oder konstruiert wird. Der Extremsport wäre ein Beispiel dafür. Grundsätzlich gehört es aber zu den Paradoxien kapitalistischer Massengesellschaften, dass die Individualität einerseits zu den höchsten Gütern zählt, andererseits fügt sie sich in die Logik standardisierter Massenwaren.

Jeglicher Logik zuwider läuft der Aberglaube. Der Glaube mit dem vorgelagerten „Aber“ hat mitunter Konjunktur. Wie sind Sie angesichts des Themas Aberglaube in dieser Erzählung auf den Titel: "Für Liebende riecht Stroh anders als für Pferde" gekommen?
P.S.: Den Titel habe ich von Damien Hirst geklaut. In einem metaphorischen Sinn soll er aber auf das Dilemma anspielen, das Sie ansprechen. Einerseits kann man sagen, dass kritisches Denken und Aberglaube sich ausschließen und ersteres letzterem gegenüber scheinbar machtlos ist. Andererseits kann man mit Theoretikern wie Theodor Adorno und Max Horkheimer argumentieren, dass die Aufklärung sich niemals vollständig vom mythischen Denken emanzipieren kann (zumal es kaum wünschenswert wäre, weil es in einer Gewalt gegen sich selbst und die Umwelt mündet). In letzterem Sinn kommt es dann also eher darauf an, wie man kritische und mythische Denkweisen in ein Verhältnis zueinander setzt. Am Aberglauben im Sport, oder genauer: im Fußball, hat mich interessiert, dass es hier – wie im Extremsport – erneut um eine maximale Form der Kontrolle und Macht geht. Man hat zahllose Stunden trainiert, die Regeln stehen fest, man sollte also meinen, dass man wirklich alles getan hat, um bestens vorbereitet in ein Spiel zu gehen, in dem sich alle Züge objektiv nachvollziehen lassen. Aber offenbar reicht das für viele Fußballer nicht aus. Also greifen sie zu irgendwelchen magischen Ritualen. Darüber kann man sich natürlich leicht lustig machen. Aber ich betrachte den Sport hier eher als ein dankbares Beispiel, das an ein Dilemma rührt, das man in vielen Bereichen und vielleicht auch bei sich selbst beobachten kann.  

Dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnt, ist zwar wünschenswert,  zwangsläufig ist es nicht. Stichwort Upgradekultur, Body-Enhancement. "Der Körper ist wie ein Bankkonto: nur wer einzahlt kann auch abheben" heißt es in der Erzählung "Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn". Welche Rolle spielt der Körper und das Gefühl für den Körper tatsächlich noch in einer Zeit der virtuellen Bewegung im Netz?
P.S: Das ist eine interessante Frage. In „Nach oben ist das Leben offen“ spielt das Internet und die Digitalisierung ja noch keine Rolle. Erst in meinen letzten Büchern ist die Technologie ins Zentrum meines Schreibens gerückt. Vor diesem Hintergrund würde ich sagen, dass das Netz das Bewusstsein für den Körper eher intensiviert hat, statt es verschwinden zu lassen. Das passiert über die digitale Vermessung der Körperdaten, aber natürlich auch über die Bilder, die in den Sozialen Medien geteilt werden.

Ihrem 2019 erschienenen Roman "Der Weg aller Wellen" ist ein Zitat vorgeschaltet: "Denn wir sind alle Wellen" von Paul Virilio. Er ist vielen ein Begriff über die Wortprägung "Rasender Stillstand" für unsere Zeit, die zwar von Schnelligkeit geprägt ist, die aber dennoch ohne echten Vorwärtsgang ist. Warum bringen Sie Virilio ins Spiel?
P.S.: Virilio nenne ich vor allem wegen des Zitats. Die Aussage „Wir sind Wellen“ mag zunächst poetisch klingen. Im Roman sind die Wellen dann aber die elektromagnetischen Wellen der Technik, die den Ausgangspunkt für die digitalen Datenströme bilden, mit denen die Umwelt und Menschen präzise vermessen werden.

Der erste Satz Ihres Romans lautet: "Ohne dass etwas Bemerkenswertes vorgefallen wäre, hatte ich von einem Tag auf den anderen keinen Zutritt zum Campus mehr. Zunächst machte ich mir keine weiteren Gedanken. Es war unangenehm, etwas ärgerlich, aber im Grunde eher peinlich". Wenn Sie gleich am Anfang eine kafkaeske Stimmung heraufbeschwören, was bedeutet das für Ihren Roman und für den Romanleser?
P.S.: Der Bezug auf Kafka hat mich tatsächlich weniger wegen der Stimmung, sondern wegen den Mechanismen interessiert, die Kafka in vielen seiner Texte ausbuchstabiert. In der Eingangsszene meines Romans entzündet sich das an der Schranke zum Campus der Technologiefirma, die über eine biometrische Identifikation funktioniert. Dem Protagonisten wird der Zutritt aus unerfindlichen Gründen verwehrt. Der erste Teil des Romans handelt dann davon, dass er zurück auf den Campus zu gelangen versucht. Hier interessieren mich die Ausschlussmechanismen der digitalen Technologien, die sich selbst ja zuallererst als Medien der Vergemeinschaftung und Inklusion verstehen. Ein anderes Versprechen der Technologien ist ihre Transparenz, die dann aber sehr oft auch nicht eingelöst wird.   

Ihr Roman changiert zwischen Jetztzeit und Zukunft?
P.S.: Die Phänomene, die beschrieben werden, existieren so schon mehr oder weniger heute. Ein erzählerisches Problem im Umgang mit den digitalen Technologien besteht meines Erachtens darin, dass sie einerseits von ihren zukünftigen Versprechen leben, also all dem, was sie angeblich schon bald alles leisten werden. Andererseits ist die Technik unheimlich kurzlebig. Was eben noch als Revolution angepriesen wird, ist am nächsten Tag schon wieder vergessen. Das ist ein Grund, weshalb ich den Roman in einer nahe Zukunft, die zwischen Heute und Morgen zu changieren scheint, angelegt habe.

"Der Weg aller Wellen" wurde mit Dave Eggers' "The Circle" verglichen. Gibt es von Ihnen intendierte Parallelen oder hinkt der Vergleich?
P.S.: Ich habe Eggers Roman gelesen. Aber wenn dann gibt es eher Abgrenzungsbewegungen. Zum Beispiel ist mir während des Schreibens der Umgang mit der Sprache immer wichtiger geworden. Was macht die Technik mit der Sprache? Wie kann ich die digitale Technik, die sich im Milli-Sekundenbereich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Menschen vollzieht, überhaupt im Medium der Sprache darstellen?

Können Sie sich vorstellen, was und wie man in 100 Jahren schreiben und lesen wird?
P.S.: Nein, so wie dieses Jahrhundert begonnen hat, kann ich mir dessen Ausgang kaum ausmalen. Vieles spricht natürlich dafür, dass die Schrift weiter im Kurs fallen wird. Momentan will ich aber noch daran glauben, dass es dennoch lohnt, weiterzumachen.

Für unser freundliches  Gespräch und Ihre interessanten Ausführungen  besten Dank, Herr Schönthaler. Wir werden gespannt verfolgen, welchen Themen Sie sich weiterhin widmen werden. Alles Gute für Sie auf Ihrem persönlichen und literarischen Weg!

Das Interview führte Martina Pfeiffer

Philipp Schönthaler, geboren 1976 in Stuttgart, begann ein Theologiestudium in San Antonio, Texas, wechselte dann nach Vancouver, um Anglistik und Kunst zu studieren. 2010 promovierte er an der Universität Konstanz über ›Negationen des Erzählers‹.  P.S.  hat in verschiedenen Literaturzeitschriften veröffentlicht und lebt in Berlin. Für seinen Erzählband "Nach oben ist das Leben offen" erhielt er 2013 den Clemens-Brentano-Preis. 2019 erschien sein Roman "Der Weg aller Wellen".