Das Interview führt Martina Pfeiffer

Lieber Matthias Buth, ich freue mich sehr, dass ich Sie für das Kulturring-Projekt Literatinnen und Literaten in den Ring gewinnen konnte. Ihr 2022 erschienenes Buch: "Im Zwischenland: Rhapsodien" habe ich mit Begeisterung gelesen. Deutschland ist für Sie das Zwischenland "zwischen Ost und West, Dazugehören und Verweigern, Horizontland und Himmelsburg". Ein Zwischenland: ein Niemandsland ist das nicht. "Zwischen", das  hat etwas Transitorisches, und doch – hat es nicht auch etwas Brücken-Bauendes zwischen dem Eigenen und dem Fremden?
M.B.: Wer schreibend versucht, die Welt zu erfassen oder der Fassungslosigkeit der Erscheinungen der Gegenwart und Geschichte auf die Spur zu kommen, erkennt, dass nichts eindeutig ist, sich alles in einem transitorischen Schwebezustand bewegt. Jedem Wort, gar jedem Urteil ist meist das Gegenteil mitgegeben. Und unser Leben auf Erden ist - wie wir alle wissen - eine kurze Zeit, ein Zwischenstatus, ein Zwischenreich. So wir an die Dimension Gott glauben, ist dies eine existentielle Erkenntnis, die unser Leben prägt und zur Demut einlädt. In der Kulturgeschichte trifft der Begriff „Zwischen“ auf alle Staaten in Europa zu, sie ändern sich ständig und ringen nach einer kollektiven Identität, die angestrebt, doch nie erreicht wurde und wird. Wo diese zu erreichen zu massiv versucht wurde, sind oft auch Kriege die Folge. Putin und Hitler bewiesen es. Andere auch.

Die Miniatur zur Sintiza Philomena Franz in Ihrem Band "Im Zwischenland" ist fast zärtlich zu nennen. "'Wir Sinti haben immer Hoffnung, wir denken Hoffnung', schrieb Philomena Franz. Selbst Auschwitz konnte ihr dieses Atmen nicht nehmen. Hoffnungsthal, wo ich wohne, müsste eigentlich Philomenatal heißen." (M.B.) Sie sind nicht allein Dichter und Jurist, Sie sind auch Gründer des Philomena Franz-Forums.  Gibt es mit Blick auf die Zukunft des Forums Desiderate?
M.B.: Philomena Franz wurde einhundert Jahre alt, sie wurde 1922 in Biberach an der Riss geboren und starb am 27. Dezember 2022 in Bergisch Gladbach, eine wunderbare und vom Leben als Sintiza verwundete Frau. Ich hatte das Glück, über 30 Jahre lang mit ihr befreundet gewesen zu sein. Im Jahre 2021 habe ich zusammen mit Bürgerinnen und Freunden in Hoffnungsthal (wo sie lange Jahre wohnte) das Forum gegründet, das ihren Namen trägt. Unsere Website informiert näher. Philomena überlebte die Folterungen in den KZ von Auschwitz und Ravensbrück, acht Familienmitglieder wurden jedoch ermordet. Sie hätte allen Grund gehabt, uns, ihre deutschen Landsleute, zu verachten und zu verdammen. Sie tat es nicht, sondern hielt ihr Leben der Versöhnung entgegen allen Schlußstrichziehern und Beschönigern. Ihr Buch „Zwischen Liebe und Hass / Ein Zigeunerleben“ von 1984 ist ein Zeitdokument und eine ausgestreckte Hand. Leider wurde diese trotz mancher Auszeichnungen nicht ergriffen. Mit dem Forum wollen wir in ihrem Geiste Hoffnung und Ermutigung geben und auch beleuchten, dass das Zingaresische zum Beispiel in der Musik hohe Relevanz in der Kulturgeschichte hat, jedoch wissenschaftlich kaum erforscht wurde. Ein Licht auf diesen Zusammenhang wird vielleicht durch das kleine Festival „Alla Zingarese“ geworfen, das am 23. November 2024 in Bergisch Gladbach vom Forum veranstaltet wird.

Was Sie in "Zwischenland" versammeln, nennen Sie "Rhapsodien". Das ruft ein ganz bestimmtes Bild ab: Der singende Erzähler im antiken Griechenland, im Zeitalter der Epen Homers, der in Tempo und Tonfall lebhaft wechselnd vorträgt. Eine Kunst, die Musik und Vers zu einer Einheit bringt. Merkmale sind die Freiheit des Variierens und das Fragmentarische.  Wollen Sie dieses Rhapsodentum für die Dichtung der Neuzeit zurückgewinnen? Oder sind Sie eher angeregt durch Brahms' und Liszts musikalische Rhapsodien?
M.B.: Der Moment, in dem ein Mensch singt, ist er ganz bei sich. Das Lied ist die eigentliche Heimat. Philomena Franz hätte Auschwitz nicht überlebt, wenn sie nicht für sich und andere Häftlinge gesungen hätte. Auch das mir erst durch sie bekannte Lied „Am alten Brunnen“ aus „Die ungarische Hochzeit“ aus dem Jahre 1939 von Nico Dostal (1895-1981) hat sie immer dort gesungen. Dostal war ein österreichischer Operettenkomponist, der dem NS-Staat nah war (gehörte zur „Gottbegnadeten-Liste“ von Goebbels). Tja, Melodien werden erst durch die Sängerin zum Lied. Das Rhapsodische aufzurufen lag mir nahe durch meine Liebe zur Musik, eine Musikform, welche die klassische Form verlässt und ein Kaleidoskop von Melodien und Zitaten zusammenbringt. Georges Enescus „Rumänische Rhapsodie Nr. 1“ steht dafür und nimmt auf Brahms und Liszt Bezug, auch auf Bartok. Und meine 780 kleinen Prosastücke wollen eben auch rhapsodisch sein.

Der Vorgänger von "Zwischenland" waren Ihre Gedichte mit dem Werktitel "Weiß ist das Leopardenfell des Himmels": Naturlyrik, Erinnerungen, Reisen – es scheint, da waltet pure Poesie. Doch dann wieder tut sich etwas anderes auf, nämlich wenn das Politische anklingt. Ton, Wortwahl, heraufbeschworene Bilder ändern sich mit einem Mal. In "Blühende Landschaften" kommen die Auslands- und Inlandseinsätze vor, außerdem eine Zeile aus der Nationalhymne und Sentenzen aus Politikermund,  in "Nie mehr" die Waffenexporte. Wieviel Politik verträgt Dichterwort?
M.B.: Jedes Gedicht kann auch politisch verstanden werden. Wer in der Diktatur Liebesgedichte schreibt oder im Krieg überleben will wie die Menschen in der Ukraine, zieht sich gern in den Mikrokosmos der Dichtung, in die Natur- und Liebeslyrik zurück. Gedichte schaffen Atemraum, für den Autor, für den Leser.  Wenn ich Begriffen aus der Politik nachgehe und zitiere, geht es mir immer um den existentiellen Befund, versuche ich, über den Tellerrand des Politischen zu schauen. Ein Gedicht will ein Kunstwerk sein, auch meines. Die Welt des Politischen in Deutschland, Russland und anderswo, in Religion und Klimakatastrophe soll einbezogen werden, aber daraus muss eine Sprachverdichtung entstehen, eine „Welt im Fingerhut“, die eben keine bloße Parole oder Attacke gegen die Ungerechtigkeit der Welt ist.

Was würden Sie sagen: Gibt es so etwas wie die Sehnsucht des Schriftstellers nach der Tat?
M.B.: Ja, der Staatsstreich von Stauffenberg und anderen am 20. Juli 1944 ist auch eine poetische Tat gewesen, die sich in deren Vorstellungen des „Geheimen Deutschlands“ begründen, in der Dichtung. Die Verschwörer schrieben Gedichte und bezogen sich auf Dichtung, keineswegs nur auf den abgehobenen Stefan George, sondern auch auf Hölderlin, Heine, Kleist und – nicht zu vergessen – auf den Staufer-Kaiser Friedrich II., der sizilianische Gedichte schrieb und auch das berühmte Buch über das Jagen mit Falken.  In gewisser Weise schließt an ein solches Denken der 1933 geborene Dichter Reiner Kunze an, als er 1976 den Band „Die wunderbaren Jahre“ veröffentlichte, eine Sammlung mit Prosaminiaturen zum DDR-Alltag. Das Buch ist 2023 von Ines Geipel neu herausgegeben worden. Und es freut mich, dass auch sie diese Literatur als Quasi-Staatsstreich qualifizierte, ein Wurf gegen die DDR-Verhältnisse, der Kunze beinahe das Leben gekostet hat. Gedicht ist Tat.

Wenn Gedicht Tat ist, wie veranschlagen Sie die Macht der Literatur im Vergleich zur Macht der Medien und der Politik?
M.B.: Politik will immer Macht. Bei uns wird sie demokratisch kontrolliert, aber auch durch die Gerichte und – besonders wichtig – durch die Medien. Ich sehe manche Entwicklung in der Bundespolitik kritisch, nämlich die klandestine Anmaßung von rechtlichen Kompetenzen, die der Bund nicht hat. In meiner Essaysammlung "Die Verfassung der Dichter" bin ich dem nachgegangen und hoffe, dass die Prozesse von Frank Berberich und seiner Zeitschrift „Lettre International“ erfolgreich sein werden. Meine Unterstützung hat er. Leider haben viele Autoren, welche die Unterstützungslisten von „Sinn und Form“ auffüllen, noch nicht gemerkt, dass es hier um die Grundfragen zum Verhältnis Staat und Freiheit nach Artikel 5 GG geht, um die Bewahrung der journalistischen wie künstlerischen Freiheit.

In "Seid umschlungen", einem Buch mit Ihren Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte, 2017 erschienen,  findet sich der Essay "Nur Ewigkeit ist kein Exil – Else Lasker-Schüler, Max Herrmann-Neiße und die Ukraine". Dort schreiben Sie hellsichtig: "Der Kreml-Chef will 'Gespräche über die Staatlichkeit Neurusslands', das vielleicht bis nach Odessa reicht. Über die Krim-Annexion natürlich nicht mehr. Wie sieht die Landkarte Europas bald aus? Was wird von der Ukraine bleiben?" Welche Fragen stellen Sie jetzt, wenn Sie auf die Ukraine blicken?
M.B.: Putin und weite Teile der Völker Russlands setzen auf Gewalt, im Innern und gegenüber den ausländischen Staaten. Ich mache mir große Sorgen, dass der national gefärbte Imperialismus nicht nur Europa bedrängt und vielleicht zerstören wird. Das oligarchische System Russlands und anderer Staaten des östlichen Europas ist ein Mafia-System, das völlige Unterwerfung unter die Staatsmacht verlangt. In China ist es ähnlich. Trump und seine mafiosen Helfershelfer wollen ähnliches. Und wir in Deutschland und in der EU mühen uns mit demokratischen Strukturen, die oft wenig transparent und nicht selten auch von Korruption durchzogen sind (meist camoufliert mit dem Begriff „politisch gewollt“). Die Ukraine wird überleben, aber nicht in den Grenzen von 1991. Putin will Kiew, sein „Neurussland“, ein 30-jähriger Krieg steht bevor. Solange Putin und der Putinismus existieren, wird es keinen Frieden geben für die Ukraine und Europa.

In Ihrem  Essay "Nahe Nachbarn", erschienen in "Seid umschlungen",  heißt es "In der globalen Welt versucht jedes Volk, jede Kultur, jeder einzelne Halt zu finden, um sich zu orientieren und wahrnehmbar zu bleiben. Wo können wir ihn anders finden als in der Sprache, den alltäglichen eigenen Worten und in der Literatur? Für die Deutschen gilt spätestens seit Klopstock, Lessing, Schiller, Herder und Heine als gesicherte Erkenntnis, dass die Sprache identifikationsstiftende Wirkung besitzt." Wenn wir von dieser Wirkung von Sprache ausgehen, wie bewerten Sie die gegenwärtige Erregungskultur, die sich zwar schnell und hitzig empört, aber nicht wirklich das verzweigte Denken, den Disput und den Gedankenaustausch pflegt?
M.B.: Sie sprechen von „Erregungskultur“, tja, die gibt es. Denn wir wurzeln wir nicht tief genug, wissen wenig über die Welt-, Europa- und deutsche Geschichte, halten Mythen für irrelevant und schlagen gleich mit den Worten wie „Rassismus“, „islamophob“ um uns, wenn nicht gleich das richtige Zauberwort der Identitäts-Ideologie getroffen wird. Das beschränkt die Freiheit, derjenigen der Worte und so des Alltags. Die ewigen Talkrunden ähneln sich und sind meist wenig erkenntnisfördernd. Ein Buch von Christopher Clark zu lesen ist mühsam, aber befreiend. Ohne Kenntnisse und Erfahrungen kann man die Welt sprachlich nicht erfassen. Ich wünschte, wir würden in Deutschland die Imagologie als Wissenschaft endlich erkennen und Fremd- und Eigenbild der Staaten und Nationen gegeneinanderhalten. Aber wir schauen nicht weit genug zurück. Unter dem 20. Jahrhundert liegen die Stollen der anderen Zeiten, auch die vor Christi Geburt.

Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Behauptung, erst die aktuelle Globalisierungsdiskussion habe bewirkt,  dass sich die Kulturen nicht als sogenannte Nationalkulturen formieren und dass der Überlegenheitsanspruch gegen andere Völker aufgegeben wurde?
M.B.: Die Globalisierungsdiskussion scheint mir zuweilen eine Flucht in ein Elysium zu sein, das es nicht gegeben hat oder geben wird. Die Idee der Nationalkulturen ist nicht obsolet, hat sich längst von völkischen Begründungen emanzipiert (die Neu-Nazis der AfD haben nichts zur Kulturgeschichte beizutragen) und sollte Gegenstand von Geisteswissenschaften und Literatur sein. Alle Kulturen sind miteinander verwandt und durchdrungen, aber es gibt Spezifika und Färbungen in den Mentalitäten der Völker, die man erkennen und nicht akademisch wegschwadronieren sollte. Wer Demokratie will, muss auch den Begriff des „Demos“ in den Blick nehmen und auch die Gefühlsebene einbeziehen. Wir Deutsche stehen im Schlagschatten von Auschwitz, aber wir wurzeln in vielen tieferen Traditionen und Regionen. Die Musikgeschichte kann mithelfen, uns zu ergründen. Und diese Selbstsuche lässt sich nie abschließen. Sie ist Teil jeder kollektiven und nationalen Identitätserforschung. Damit sollten wir beginnen. Der Begriff aus dem Deutsche Welle – Gesetz, das Wort von der „europäisch gewachsenen Kulturnation“, für die Deutschland steht, bedarf einer ständigen Diskussion, mit Herz und Verstand und wohl wissend, dass Staat und Nation selten deckungsgleich sind.

Ludwig Börne schreibt in "Deutsch-französische Zusammenarbeit" 1836,  die politische Geschichte eines Volkes sei die Biographie seines Egoismus; seine Literatur  die Geschichte seines ganzen menschlichen Daseins. Sie, und nur sie,  achte weder Schlagbäume noch Grenzsteine, hebe sich über Gesetze, Verträge, Grenzsperren, Hass und Vorurteile.  In ihrem Band fand ich die Bemerkung, das Wort der Dichter könne sogar retten. Was bleibt, stiften das ausschließlich die Dichter?
M.B.: Dichter (wenn es wirklich welche sind) sind nicht die Oberlehrer oder Oberbescheidwisser von Gegenwart und Geschichte. Das berühmte Hölderlinzitat ist aus einem Gedicht (dort recht unvermittelt). Uns als Person, Staat, Nation – der Welten um uns zugewandt - zu erklären und zu fundamentieren, sollten wir uns alle bemühen. Aber natürlich: das treffende Wort kann retten. Wie alle Kunst. Und so können manche Gedichte retten – vor uns selbst und vor den anderen.

In "Zwischenland" nennen Sie die Sprache eine "gepardenschnelle Geliebte ohne Territorium". In "Der weite Mantel Deutschland" (2001), ein Buch mit dem Untertitel "Sprache und Identität", fragen Sie: "Ist nicht unsere Sprache das beste Übersetzungsmittel, um das geistige Europa zu erreichen, von dem die Geschwister Scholl schreiben?" Haben Sie jemals daran gezweifelt, dass dieses geistige Europa noch erreicht werden kann?
M.B.: Nur wer zweifelt, schreibt. Europa hat der Welt bedeutende Kunst und geistes – und naturwissenschaftliche Erkenntnis in allen Sparten gegeben, steht aber auch für Gewalt, Terror und Genozid – auf unserem Kontinent und in Süd- und Nordamerika sowie besonders in Afrika. Die Sprachen Europas sind ein Schatz, der zu bewahren ist, die Literaturen sind die wahren Vater- und Mutterländer, die nicht in einem Einheitssprech Englisch aufgehen dürfen. Die Dialekte gehören dazu. Sprachen sind die Netze für Geist und Gemüt. Wer singt, tut dies in einer Sprache, die ihm nah ist, in der er emotional wohnt.

In manchen Ihrer Rhapsodien schreiben Sie über sprachliche Fügungen, von denen Sie sich berührt fühlen: "Durchwirken", "anverwandeln",  die "Mundharmonika" zum Beispiel. Der "Schmetterling" allerdings erschreckt sie als Wort. Etwas über Wort-Vorlieben zu lesen, offenbart, so wie ich es empfinde, doch sehr viel von der eigenen Persönlichkeit. Sehe ich das richtig?
M.B.: Ja, es ist ein Erlebnis, die Sprachen abzulauschen und mit ihnen zu spielen. Unsere deutsche Sprache lädt ja durch die Präfixe besonders dazu ein. Worte zu finden und zu erfinden ist fast dasselbe. Ich bringe mich so in ein Verhältnis zu den Worten, sie können zu Geliebten oder zu Lupen werden. Das schöne Wort „anverwandeln“ ist so eines. Und natürlich können Worte auch erschrecken wie der NS-Jargon, der immer noch – meist unbewusst – gesprochen wird in Begriffen wie „Sonderbehandlung“, „betreuen“, „durchstellen“ und „ausmerzen“.

Von der Prägung "mitteilen"  sagen sie, mit einem Seitenhieb aufs Internet, "das ist jetzt vorbei. Wir teilen nur noch. So bleibt jeder für sich, wird immer schmaler, bis er sich auflöst." Gibt es für Sie Momente echter Teilhabe im Internet und den sozialen Medien?
M.B.: Das Internet ist für mich eine Bedrohung. Die Illusion, so mit der Welt zu sprechen, die Welt zu einem kommoden Dorf zu machen, wo jede und jeder ein Nachbar ist, ist zerstoben. Die Dimension der KI kommt hinzu. Das Internet überwacht jeden Menschen, verfügt über ihn, manipuliert und attackiert. Nichts ist ihm heilig. Putin und Xi und auch Musk wissen das, wollen das und verfolgen so Machtinteressen. Der Mensch wird durch das Internet beschleunigt, verliert seine Persönlichkeit und ist auf sich selbst zurückgeworfen in totale Einsamkeit und im Bewusstsein, ausgeliefert zu sein. Das ist dann die Stunde der Verschwörer und Weltenlenker per Knopfdruck und Cursor.

Der Dichter Friedrich Hölderlin, den Sie vorhin erwähnten,  ist Ihnen eine Inspirationsquelle - Können wir, statt von literarischen Einflüssen, von "Einflüsterungen" sprechen?
M.B.: Es gibt jeden Tag „Einflüsterungen“, es gibt Verse von Hölderlin, die mich berühren, andere weniger. Manchmal ist er mir zu sehr Hymniker, ich schätze auch lakonische Verse, z. B. jene von Guntram Vesper sowie jene, die im sogenannten einfachen Vers die ganze Tragik und Freude des Menschen einfangen. Claudius konnte es, Huchel, manchmal Rellstab und herrlich Wilhelm Müller, von Franz Schubert wunderbar vertont.

Hölderlin sprach einmal von Frankfurt als dem "Nabel dieser Erde". Sie wohnen in der Nähe von Köln, in "Wohin sonst?" ziehen Sie Australien und Neuseeland als Wohnorte  in Erwägung. Ein Scherz, wenn Ihnen doch schon Frankreich als möglicher Lebensmittelpunkt zu weit weg ist?
M.B.: Ich bin doch sehr Mitteleuropäer, liebe Rumänien und Frankreich und die deutschsprachigen Länder. Auch das östliche Europa zieht mich an. Und das Putin-Russland ist nicht das Land das bleiben wird. Wir dürfen es nicht abschreiben, gerade wir Deutsche nicht, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg, nach den von uns zu verantwortenden 60 Millionen Toten und dem Völkermord an unser jüdischen und ziganischen Mitbürgern 1945 nicht abgeschrieben wurden. Gerade wir sind aufgerufen, einen Neubeginn nach dem putinischen Krieg zu forcieren. Wir Deutsche waren die Aussätzigen, denen die Welt die Hand gereicht hat (wenn auch zum Teil aus politischem Kalkül). Die Völker Russlands warten auf uns Deutsche, so wie schon seit 2015 die Ukrainer.

"Einigkeit und Recht und Freiheit: In welchem Wort will ich wohnen und wird das Land heißen?" fragen Sie. Welche Länder und Regionen suchen Sie mit der Seele?
M.B.: Wenn die Nationalhymne gespielt und in den Stadien gesungen wird, schauen wir beim Kameraschwenk immer genau hin, wer singt, wer nicht. Das Singen dokumentiert Zugehörigkeit und emotionale Nähe. Deutschland ist ein Sprachland, etymologisch kommt das Wort „deutsch“ aus dem Altgermanischen und ist dem Wort „deutlich“ verwandt. Das Deutsche emanzipierte sich aus dem Kloster-Latein und dem Französisch der Adelshöfe. Es war und ist die Sprache des Volkes und – das scheint mir wichtig – die Sprache „unter der Linde“, also des Rechts. Das sollte uns Mut machen. In den Sprachen der Poesie und des Rechts Bleibe zu finden, ist mein Wunsch.

Ihre lyrischen "Okavango-Akkorde" bezeichnen Sie als "eine Einladung zum Weg nach Innen": Welche Bedeutung hat der Erfahrungsraum Afrika für Sie?
M.B.: Als einziger Fluss der Welt endet der Strom des Okavango nicht in einem Meer. Sein Delta versickert, hört also auf zu fließen und bleibt im Boden: ein poetisches Bild, das ich einzufangen versuche. Afrika zergliedert sich in viele Staaten, Sprachen und Nationen, es ist kein Land, sondern ein riesiger Kontinent, den wir Europäer viele Wunden geschlagen haben. In Äthiopien stand wohl die Wiege der Menschheit, also ist uns Afrika nah, immer ein Land der Ankunft. Es hat uns etwas Archaisches zu erzählen. Wir sind alle ein Stück Afrikaner. Dichter sehen das.

"Die lyrische Stimme in mir ist von der Musik geweckt worden",  bekennen Sie. Wann und wie geschah diese Erweckung?
M.B.: Die große Schwester der Poesie ist die Musik. Angelegt ist meine Liebe zur Musik in den Genen, im Elternhaus in Wuppertal und wohl in einer eher einsamen Kindheit und Jugendzeit. Musik spricht ohne Worte, erfasst die Seele und gibt Heimat – auf Zeit . Die poetischen Klavierzyklen von Robert Schumann, Johannes Brahms, Frédéric Chopin und besonders von Franz Schubert verzaubern mich bis heute. Musik ist eigentlich die wahre Sprache Deutschlands, in jedem Fall die meine. Wie wäre die Welt ohne Bach? Unbewohnbar wie der Mond.

Gerne möchte ich zum Abschluss unseres Interviews bei der Musik bleiben und Ihren Aphorismus zitieren, den rhapsodischen Vers: "Nichts erschrickt den Tod so sehr wie Musik". Vielen Dank für unser intensives Gespräch, Herr Buth.

Das Interview mit Matthias Buth wurde im September 2023 geführt.

Matthias Buth wurde am 25. Mai 1951 in Wuppertal-Elberfeld geboren. Der Wehrdienst führte ihn nach dem Abitur in seiner Heimatstadt an die innerdeutsche Grenze, im Anschluss studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Köln. Nach den beiden juristischen Examina begann er 1981 seine Tätigkeit als Kulturjurist beim Landschaftsverband Rheinland (Köln).

Seit 1973 veröffentlicht der Dichter-Jurist Lyrik und Prosa in Zeitschriften und Zeitungen und 1974 den Gedichtband „Gezeitet“, dem 1984 der Band „Ohne Kompass“ und 1989 die Lyriksammlung „Kopfüber nach Deutz“ folgten. Parallel dazu verfasste er eine jur. Dissertation zum Militärstrafrecht der DDR (1985). Im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen war er als Kultur- und Kirchenreferent tätig und setzte seine Arbeit als Referatsleiter zur Kultur der Deutschen in Ostmitteleuropa im Bundesministerium des Innern fort. Im Kanzleramt bei den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) war er von 1998 bis Ende 2016 auf verschiedenen Aufgabenfeldern tätig, zuletzt als Justiziar. Seitdem ist er Rechtsanwalt.

1984 gab der Wuppertaler die Lyriksammlung „Rheinblick“, Gedichte aus der Zeitschrift neues rheinland, heraus und 2013 zusammen mit Günter Kunert „Dichter dulden keine Diktatoren neben sich“, ein Lesebuch von 40 Autoren anlässlich des 80. Geburtstags von Reiner Kunze. Buths politische Feuilletons sind seit 2016 auch in Deutschlandradio Kultur zu hören und fanden Eingang in Zeitschriften wie Dokumente-Documents, Politik und Zeitgeschichte, Cicero und Faust-Kultur sowie in der Allgemeinen Zeitung für Rumänien (ADZ). Im Herbst 2017 erschien in Berlin der Band „Seid umschlungen“ mit 45 Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte. Die Essaybände „Der Himmel über Rösrath“ und die Anthologie „Der Himmel über Philomena“ erschienen 2021 und 2022.

1997 veröffentlichte er den Gedichtband „Die Stille nach dem Axthieb“, der 1998 zweisprachig deutsch-rumänisch in Bukarest erschien. 2001 folgte der Essayband „Der weite Mantel Deutschland“. 2007 erschien der Lyrikband „Zwischen mir und vorbei“, mit einem Vorwort von Jiří Gruša. Die Rumänien-affinen Gedichte veröffentlichte die rumänische Kulturstiftung 2009 im zweisprachigen Band „Rumänien hinter den Lidern“. In Breslau /Wroclaw kam 2010 die polnische Übersetzung des Buches „Zwischen mir und vorbei“ unter dem Titel Kaligrafia bliskosci heraus. 2010 veröffentlichte Buth den Band „Der Rhein zieht eine Serenade.“ 2011 erschien die Gedichtauswahl „Weltummundung“ mit Texten aus vier Jahrzehnten. 2015 publizierte Buth neue Gedichte im Band „Gnus werden auf der Flucht geboren“. Anfang 2017 dann die Lyriksammlung „Paris regnet“ sowie der Band „Gott ist der Dichter – Psalmen und andere Liebesgedichte“. 2019 folgte ein Band in der internationalen Reihe „Poesiealbum“ . Die Sammlung „Weiß ist das Leopardenfell des Himmels" mit neuen Gedichten kam im September 2019 heraus. 2021 veröffentlichte Buth den Band „Die weiße Pest“ / Gedichte in Zeiten der Corona und 2022 den Band „Im Zwischenland“ / Rhapsodien. 2024 erscheint von ihm der Essayband "Die Verfassung der Dichter", Klagenfurt 2024. Der Gedichtband "Wo Worte Brot waren und warme Milch" (Berlin 2024) wird im März druckfertig sein.

Gedichte von Matthias Buth  finden sich in großen Anthologien und Jahrbüchern wie Das große deutsche Gedichtbuch / Der Neue Conrady, Jahrbuch für Lyrik, Versnetze, Das Gedicht und wurden im WDR vorgestellt.

Seine Gedichte wurden zahlreich in Kammermusik und Chorwerken vertont, so von Abel Ehrlich (Tel Aviv), Thomas Blomenkamp (Meerbusch), Violeta Dinecu (Bukarest/Oldenburg), Hermann Große-Schware (Krefeld) und Bernd Hänschke (Duisburg) sowie ins Rumänische, Russische, Ukrainische, Polnische, Englische, Französische, Arabische, Türkische und Tschechische übersetzt.

Matthias Buth  wurde mit dem Literaturförderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Berliner Amsterdam-Stipendium ausgezeichnet. Der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis sprach dem Rheinländer den Orden für die deutsch-rumänische Kulturvermittlung zu. Im September 2023 erhielt Matthias Buth den Nikolaus Lenau-Preis für Dichtung.

Buth ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und der Rose Ausländer-Gesellschaft (Köln). Er gehört zu den Gründern der Else Lasker-Schüler Gesellschaft (Wuppertal). Am 27.01.2021,  am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus,  gründete Matthias Buth das Philomena Franz-Forum e.V., dessen Vorsitzender er ist. Der Verein verfolgt den Zweck, insbesondere Menschen und Büchern ein Forum zu geben, vor allem solchen, die Hoffnung, Ermutigung, Verantwortung und Versöhnung vermitteln. Der Fokus ist die Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens. Matthias Buth schreibt regelmäßig zu Literatur und Zeitthemen in faustkultur.de

Weitere Links:
www.philomena-franz-forum.de
www.else-lasker-schueler-gesellschaft.de
https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Buth
https://liton.nrw