Martina Pfeiffer

Kann es sein, dass der Kulturjournalismus Gefahr läuft, eine Elite zu repräsentieren, die nur noch sich selbst bespiegelt? Die den Jargon kulturbeflissener Zirkel hegt und den Dialog mit anderen Bevölkerungsgruppen verkümmern lässt? Das ist in manchen Fällen nicht von der Hand zu weisen.  Doch: Was wäre Skylla ohne Charybdis. Denn die zweite Gefahr, ebensowenig zu unterschätzen: zum zungenfertigen Hervorbringer vorgestanzter Wendungen, zum Worthülsenjongleur zu verkommen; in liebedienerischen Hofberichterstattungsjournalismus abzudriften.

Mehr als je zuvor geht es in der Kulturberichterstattung heute darum, massentauglich zu sein und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dies geschieht zumeist mit viel Getöse. Ähnlich dem Huhn, das mirakelt und spektakelt, nur weil es ein Ei gelegt hat. Spektakelgesellschaften brummen, sie besinnen sich nicht. Besinnung braucht Zeit und Geduld, damit Sinn entstehen kann. Die mediale Bilderflut lässt einerseits schnell abstumpfen, andererseits gieren wir ständig nach neuen visuellen Stimuli. Das Internet mischt bei dieser Reizberieselung kräftig mit. Steckt also der Teufel im Digital? Andererseits eröffnet die Computertechnologie vielfältige neue Möglichkeiten und die Kulturen rücken im digitalen  Netz doch auch zusammen. Kultur ist in unserer Zeit immer auch als Inter-Kultur zu denken: Explorieren fremder Lebenszuschnitte, Auskundschaften von unterschiedlichen Sinnzuschreibungen und Sich-Einlassen auf Anders-Welten. Voraussetzung dafür ist die Verabschiedung vom geläufigen Trott.

Wenn Kulturjournalismus kraft Inhalt und Darbietung das Ziel der Ent-Automatisierung erreicht, dann ist sehr viel gewonnen. Entautomatisierte Wahrnehmung führt auf nicht kartographiertes Gelände, stößt Veränderungen in eingespielten Diskursmustern an. Mit einer praktizierten Offenheit der Sinne  kann Kulturjournalismus Steine des Denk-Anstoßes liefern – Gegengewichte zu einer ins Kraut schießenden Medien-"Kultur". Stimmen, gerade auch voneinander abweichende, gilt es aufzuspüren und vernehmbar zu machen. Kulturjournalismus muss vermeiden – zwischen Qualität und Quote – auf jeden Zug aufzuspringen. Vor der Auseinandersetzung mit Unpopulärem sollte er nicht zurückscheuen.  

Kultur liefert der Kunst die Infrastruktur, bindet sie in einen öffentlichen Diskurs ein. Ästhetische Maßstäbe überschreiten reines Faktenwissen, denn Kunst ist nicht allein Kopfsache. Das Kunst-Erlebnis erfasst den Menschen in vielen Fasern seines Seins. Und hier kommt der Kulturjournalismus zum Zug: er soll dieses nach allen Seiten offene, genuine Erleben mit der Leserschaft teilen, soll entwöhnen von einem oft und gerne verwendeten Unmutsvokabular wie "Geschmacklosigkeit", "Schund",  "scheußlich", "verheerend"  – weg von Geschmäcklertum und Totschlagsargumenten. Denn die würgen jeden fruchtbaren Gedankenaustausch von vornherein ab. Weg auch von einer schubladenpsychologischen Ausleuchtung, die nichts mehr als die eigenen vorgefassten Urteile bestätigt. Suspekt ist die eine Meinung, die keine andere neben sich duldet, der unverrückbare Standpunkt, die Sicht ohne Einsicht.

Kulturjournalismus schafft die mentalen Voraussetzungen, um hohlem Dominanzgebaren und Machtergreifungsgelüsten jeglicher Provenienz die Stirn zu bieten, geistig Verengten und Ewiggestrigen entgegenzutreten – wenn er hineingrätscht in ein  starres Kultur- und Kunstverständnis. Undogmatisch-subtil, ohne obstinate Fingerzeige gilt es anzutreten, den Blick auf Neuaussagen zu öffnen, die ein soziales Miteinander verbessern und visionsstark neu ausrichten können. Nicht um Handlungsanweisungen geht es, sondern um eine Geisteshaltung, die in die Lebenswelt zur Veränderung derselben hineinwirkt.

Die Innovations- wie auch die Verfallsgeschwindigkeit von Daten und Meinungen ist in unseren Zeiten enorm. Die Gegenwart bleibt nicht dieselbe, man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Und doch ist das Zeitgespräch der Gesellschaft, so heterogen und labyrinthisch dieses ist, das Fundament journalistischer Arbeit. Kulturjournalismus, wie ich ihn verstehe,  kann der  Lotse für einen dritten Weg zwischen Mainstream und Höhencamp sein, zwischen Marktplatz und Reservat, sich weder dem Massengeschmack andienend noch ins Arkane versteigend.

Nicht der kulturelle Nimbus verleiht uns als Menschen Statur und Identität, sondern die kulturelle Substanz.  Und diese Substanz wird durch menschenzugewandte Kulturpflege  gewährleistet, ganz besonders in einer Zeit computererzeugter Identifikationsangebote. Als "Statthalter der Utopie" (Max Frisch) und Hoffnungsträger zeigt Kunst (Aus-)Wege auf, um mit dem Reservoir schöpferischer Kräfte eine gewaltfreie Weltgemeinschaft zu modellieren. Ein  verantwortungsbewusst gehandhabter Kulturjournalismus kann dazu einen fundierten Beitrag leisten.