Interviewerin: Martina Pfeiffer

Es ist uns eine Ehre, Michael Lederer als Gesprächspartner in unserem Projekt "Begegnungen Wort-Wörtlich" zu begrüßen. Der Kulturschaffende, Schauspieler und Autor lebt seit 1998 in Berlin. Michael wurde 1956 in Princeton, New Jersey, geboren. Seine Großeltern mütterlicherseits waren Deutsche, beide aus Stettin. Seine Verwandten väterlicherseits waren Juden aus Zagreb, Jugoslawien, dem heutigen Kroatien. Der Vater Ivo Lederer wurde im Laufe seiner akademischen Karriere bekannt als Universitätsprofessor im Ressort Diplomatiegeschichte in  Princeton, Yale und Stanford. Michael studierte Theaterwissenschaften an der Binghamton University, New York. 2009 gründete er das Dubrovnik Shakespeare Festival (DSF) und war in den Folgejahren dessen Künstlerischer Leiter. Herzlich willkommen lieber Michael Lederer. Ich freue mich sehr auf unser Gespräch!

Nachdem Ihre Familie 1965 nach Palo Alto in Kalifornien umgezogen war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Sie waren damals 12. "Der Zug von Michael ist entgleist",  das haben Sie im Interview mit der "Deutschen Welle" gesagt.  1975-77 haben Sie im Tipi-Zelt einer Hippiegemeinschaft gelebt, die nannte sich "The Land" in den Santa Cruz Bergen. Joan Baez hatte diese Gemeinschaft gegründet, um  Gewaltlosigkeit in ihren Möglichkeiten auszuloten.  Bei Gewaltfreiheit denke ich unwillkürlich an Mahatma Gandhi und seinen gewaltlosen Widerstand.  War Gandhis Persönlichkeit für Sie damals eine Inspirationsquelle?
M.L.: Ja, Gandhi schon, aber zeitlich näher lag Martin Luther King, Jr., der knapp sieben Jahre vorher wegen seiner gewaltlosen Proteste ermordet worden war. Joan Baez and ihr Mann David Harris waren große Namen einer gewaltlosen Widerstandsbewegung, die sich gegen die  Greuel des Vietnamkriegs gestellt hatte, und gegen die Rassentrennung in den Südstaaten der USA. Als Weißer, aufgewachsen im Norden der USA, war ich zwar nicht unmittelbar physisch an diesen beiden Auseinandersetzungen beteiligt, geistig aber schon.  Als Kind der Sechziger sah ich die Gewalt jeden Abend im Fernsehen. Die Musik, die wir damals hörten,  war ein kollektiver Schrei nach Frieden.  Die  Gewalt war unmittelbar da, und das greifbar!

Haben Sie in jungen Jahren auch an Protestmärschen gegen den Krieg teilgenommen?
M.L.: Mit 13, in Palo Alto habe ich in einem Marsch zusammen mit anderen im "October Moratorium"  gegen den Krieg protestiert. Das war im Woodstock-Jahr 1969. Meine eigene Schule war beteiligt, was sich für mich und uns alle gut anfühlte. Ich habe nicht verstanden, wie überhaupt jemand dagegen sein konnte. Wir waren gefühlsmäßig voll dabei.  Ich erinnere mich gut daran, als  im November 1963 meine Mutter mir unter Tränen sagte, der Präsident sei ermordet worden. Und ich erinnere mich an den Tag, als Martin Luther King Jr. niedergeschossen wurde. Ich hatte Glück, das wusste ich,  und mir war klar, dass so viele eben nicht die Chancen hatten wie ich selber. Jung wie ich war, bot die Widerstandsbewegung die Gelegenheit, sich zu engagieren.

Hatten Sie andererseits nicht das Gefühl,  in der Hippiegemeinschaft ein Leben in der Schwebe zu führen und den Kontakt zur Welt zu verlieren; dass das "wirkliche" Leben vielleicht an Ihnen vorbeigeht?
M.L.: Was für eine  "Wirklichkeit" meinen Sie? Im Film “Die Reifeprüfung” von 1967 gibt ein Älterer dem jungen Dustin Hoffmann einen Rat für die Zukunft: “Nur soviel: Plastik".  So vieles in der sogenannten modernen Welt ist Plastik: 

Wegwerf-Stifte aus Plastik, Plastik-Feuerzeuge, Plastik-Ehen –  Thoreaus “Walden,” E. F. Schumachers “Small is Beautiful,” Buckminster Fuller und sein Domzelt,  die amerikanischen Ureinwohner, sie alle präsentieren ein Leben, das genauso real war wie das mechanisierte, petrochemische, militärisch-industrialisierte Leben, dieses ständige Mit-der-Nachbarschaft-Schritt-halten, das rund um die Uhr von den Massenmedien vermarktet wurde und den Bach runterging. Es gibt Bäume und Steppen, sternenklare Nächte und einen Mond,  im Osten und Westen, im Norden und Süden. Daher würde ich behaupten, dass wir uns damals nicht aus der Welt um uns herausbewegten, sondern vielmehr in diese hinein.  Drei Jahre ohne Elektrizität, die ersten beiden in einem Domzelt, das dritte in einem Canvas-Zelt, da habe ich mir eine Widerstandskraft erworben und eine Wertschätzung für natürliche Schönheit erfahren, die mir seither Tag und Nacht dienlich war. Feuer zu machen, um es warm zu haben, statt auf einen Schalter zu drücken. Sich die Jahreszeiten nicht nur aus dem Fenster anzuschauen, sondern sie wirklich zu riechen. Sich von den eigenen Gedanken unterhalten zu lassen, ohne sich vom weißen Rauschen einer überladenen Welt ablenken zu lassen. Gemeinschaft auf einer Ebene, wo das gesprochene Wort wieder zählt.  Diese Erfahrungen fühlten sich so wirklich an, wirklicher geht's nicht. Meine Sommer verbringe ich immer noch in einem Steinhaus ohne Stromanschluss, in einem Olivenhain in Spanien. Ich möchte da natürlich nicht immer wohnen, aber ohne das geht's für mich auch nicht.

Haben Sie damit eine Wirklichkeit erfahren, die heutzutage in vielerlei Hinsicht verloren gegangen ist?
M.L.: Wir haben uns die Wirklichkeit ausgesucht, die wir damals wollten und brauchten. Die Uhr zurückstellen, um das Kind in sich wiederzuentdecken, indem man Ernst und Spiel mischt. Jeder, der dies liest, hat seine Wirklichkeit bis zu einem gewissen Grad selbst gewählt. Diese Laufbahn anstatt einer anderen, an genau diesem Ort zu leben und nicht anderswo. Jeder Tag bringt Weggabelungen mit sich. Wie Robert Frost so schön gesagt hat, wir haben jene Abzweigung genommen, die nicht so frequentiert war. Das war interessant und hat Spaß gemacht. Auf Neil Young zu treffen, auf dem kleinen Markt an irgendeiner Ecke des "Skyline"-Viertels. Jerry Garcia fährt vorbei in einem kleinen roten MG – er sah aus wie eine bunte M&M-Schokolinse, die man in dieses kleine Ding reingestopft hatte. Alan Ginsberg führt sein weißes Hündchen aus. Ich habe ihm zugerufen: “Ich liebe dich, Alan!”. Er rief zurück: “Ich dich doch auch!". Ken Keseys "Merry Pranksters" aus La Honda,   Pancho stopft Butter in sich rein als wär's Käse.  Um auf die Gewaltlosigkeit zurückzukommen, wir folgten Martin Luther Kings berühmtem Wort, "den Bogen des moralischen Universums in Richtung Gerechtigkeit spannen".  Frieden und  Liebe sind keine schlechten Pfade, die man wirklich beschreiten kann. Das war groovy.

1984/85 haben Sie Ihren ersten Roman "Nichts ist mehr für die Ewigkeit" verfasst, der in dem kleinen Fischerdorf La Herradura in Südspanien angesiedelt ist. Der Text handelt von einer Familie im Zwiespalt zwischen Tradition und Moderne.  Die Familie steht vor der Entscheidung, entweder zu bleiben oder ihre Farm an eine Immobilienfirma zu verkaufen. 1999 wurde der Roman in Cadaqués veröffentlicht, und  2013 kam die deutsche Fassung in Berlin heraus. Wie fühlt sich für Sie Ihr Text jetzt an, nach einem so langen Zeitraum von 40 Jahren?
M.L.: Dieses eine Jahr, das ich mit dem Schreiben zugebracht hatte, als ich in ebendiesem Dorf lebte, war im Grunde nichts anderes als die natürliche Fortsetzung meines Lebens zuvor,  in der Hippie-Community "The Land". Nochmal zurück zur Natur. Ein Ziegenhirt führte seine Ziegen jeden Morgen und Abend am Haus vorbei. Von meinem Balkon aus konnte ich die Fischer beim Netzeflicken am Strand beobachten. Ich joggte damals, und nahm jeden Morgen den alten Ziegenpfad, den die Mauren in die Felsen gehauen hatten. Da war auf einem Felsen eine alte Steinruine, und ich fragte mich, warum jemand überhaupt einen so schönen  Ort verlassen würde. Und da spielt meine Geschichte. Denn von dort aus, wenn man ins Weite schaute, konnte man von fern Kräne sehen, und Bulldozer setzten Eigentumswohnungen und Hotels dort hinein, die vormalige Lebensstile hinwegfegten. Das machte mich betroffen. Daher entschloss ich mich,  diese Veränderungen festzuhalten. Dieser rasante Wandel ist natürlich immer schon da gewesen. Autos statt Pferdedroschken, statt Feuer elektrisches Licht. Heutzutage ersetzt das Smartphone den direkten menschlichen Kontakt,  die Maschine wird unser Freund. Ich glaube, diese Geschichte wird von Tag zu Tag wichtiger.

In Ihrem Lebenslauf bin ich auf eine andere wichtige Jahreszahl gestoßen: 1998 haben Sie das "Safe Haven - Museum"  in Oswego, New York, mitbegründet.  Dessen Mission:  die Nachverfolgung der Fluchtgeschichte einer Gruppe von 982 Juden, die während des 2. Weltkriegs Zuflucht in Amerika fanden, darunter Ihre Tante Mira, Ihre Großeltern Otto und Ruza, und Ihr Vater, Ivo Lederer. 2023 wurde Ihr Stück "Gelegenheitsgepäck" am  English Theatre Berlin aufgeführt. Die Amerikanische Botschaft in Berlin hat es in ihr Literaturprogramm aufgenommen. Das Thema passt zur Fluchtgeschichte Ihrer Familie. Könnten Sie uns etwas über diese Flucht erzählen?
M.L.:  Mein Vater, seine Eltern, seine Schwester und weitere Flüchtlinge an Bord dieses Schiffes waren  die einzigen jüdischen Flüchtlinge, die während des Krieges in die Vereinigten Staaten gebracht wurden. Sie wurden dann hinter Stacheldraht interniert, in einem alten Militärcamp im Bundesstaat New York bis zum Kriegsende, weil die Regierung in Wahrheit keine jüdischen Flüchtlinge hereinlassen wollte. Das war eine bezeichnende Geste um der Publicity willen, und meine Familie hatte unglaubliches Glück, dass sie dabei war. Sie wurden nicht als Einwanderer anerkannt, doch sie trugen buchstäblich Schildchen um den Hals, die sie als “Gelegenheitsgepäck des US-Militärs" auswiesen. Nach dem Krieg gewährte Präsident Truman den 982 Flüchtlingen das Bleiberecht. Bald danach wurde ich 1956 geboren, gut gewindelt und mit einem amerikanischen Pass.

Wann hatten Sie mit der Abfassung des Stücks begonnen?
M.L.: Das war 2019, als ich von einer mit dem Tony Award ausgezeichneten Broadway-Produktionsfirma, Latitude Link, damit beauftragt worden war. Aber dann kam Corona, die Theater machten dicht und die Firma zog sich aus dem Projekt zurück. Das Stück zu schreiben war mir ein sehr persönliches Anliegen. Ich kam nicht darüber hinweg, dass es, bei all dem Glück, das ich selber hatte,  nahezu unmöglich war, die Verzweiflung und dann  später auch die Erleichterung seitens meiner Familie zu verstehen, und schon gar nicht das Leid der Vielen, die es nicht so gut getroffen hatten. Ich suchte Auschwitz auf, um für mich selber mehr Klarheit zu bekommen. Aber selbst da, in dieser Hölle,  kam mir bei jedem Schritt, den ich tat, zu Bewusstsein, dass ich aus freien Stücken dort war. Danach warteten ein warmes Essen und die kurze Rückfahrt zum Hotel auf mich. Deshalb dreht es sich in meinem Theaterstück auch um die Frage, wie schwer es für die Folgegeneration ist, die Angst und den Hass zu verstehen, wie wir dies von unseren Eltern und Großeltern vermittelt bekommen hatten, ohne dass wir dies am eigenen Leib erfahren hatten. Das Gleiche gilt für die in den Zeitungen berichtete Misere all der anderen, diesen Familien von "men and women",  – "Wankind", wie ich uns nenne. Ich hoffe wirklich, dass das Bewusstsein dieser Kluft dabei hilft, sie zu verringern. Das Museum in Oswego auf dem alten Armee-Areal, wo die Flüchtlinge festgesetzt waren, eignet sich ganz besonders für ein vertieftes Verständnis. Es waren nur 982. Unglaublich.

Um jetzt auf ein anderes Thema zu kommen: Ihr Herz hat vermutlich schon immer für William Shakespeare geschlagen. 2009 gründeten Sie das Dubrovnik Shakespeare Festival (DSF). Shakespeare in Dubrovnik, das hört sich für mich abenteuerlich an.  In den Folgejahren waren Sie auch der Künstlerische Leiter des Festivals. Shakespeares 460. Geburtstag ist am 23. April 2024. Der Dichter fasziniert uns  noch immer. Wie kommt es, dass er nach wie vor eine feste Größe ist?
M.L.: Wenn man sich vorstellt, wie die Finger eines Safeknackers jeden Klick auf den Ziffern spüren, um den Tresor zu öffnen, dann denke ich an Will Shakespeare. Er hatte seine Finger, seinen Verstand und sein Herz auf dem menschlichen Dasein, und ebenso in den natürlichen und übernatürlichen Welten, die uns umgeben. Ich gäbe alles für eine gemeinsame 24-Stunden-Reise mit Shakespeare, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass wir sehr weit kämen.  Ich stelle mir vor, wie er innehält, sich jede kleine Einzelheit auf dem Weg ansieht, und auch das jeweilige Gegenstück. Das Yin und Yang des Ganzen. Er war der schärfste Beobachter, den ich kenne, und wir haben das große Glück, dass er das, was er sah, auch ausdrücken konnte.

Wie groß ist der organisatorische Aufwand zur Vorbereitung und  Umsetzung einer Veranstaltung wie das Shakespeare Festival in Dubrovnik? Sind im Verlauf des Festivals Dinge passiert, die Sie nicht auf dem Schirm hatten – die für Sie überraschend kamen?
M.L.: Diese Antwort fällt etwas länger aus.  Der Anfang einer Sache ist am einfachsten. Man beginnt mit dem leeren Blatt und legt einfach all seine Hoffnungen hinein.  In der Folge ist es natürlich schwierig, einen Traum in einen Plan und einen Plan in die Realität umzusetzen. Als ich ein Junge war, nahm mein Vater mich im Verlauf mehrerer ganz besonderer Sommer mit nach Dubrovnik. Kroatien, früher jugoslawisch, war sein Geburtsland. Er schrieb eines der wichtigen Bücher über die Ursprünge dieses Landes,  “Jugoslawien und die Pariser Friedenskonferenz" (Yale University Press, 1963). Später, als er Direktor für Osteuropaprogramme der Ford Foundation war, war er maßgeblich an der Gründung des Interuniversitären Zentrums für Höhere Studien in Dubrovnik beteiligt. Nachdem mein Vater gestorben war, wollte auch ich dieser Stadt und dem Land, das mir so viel bedeutete,  etwas zurückgeben. Ich kaufte dort ein Haus und erfuhr dann schnell, dass es abgesehen von dem wunderbaren Sommerfestival, das sechs Wochen lang im Juli und August stattfindet, und dem Julian-Rachlin-Kammermusikfestival im September nur sehr wenige kulturelle Aktivitäten gab, die über lokale Belange hinausgingen. Der Frühling, wenn das Wetter herrlich ist und weniger Touristen in die Altstadt strömen, schien perfekt, um ein Theaterfestival zu veranstalten.  

Mit Hilfe des kroatischen Präsidenten Ivo Josipovic, den ich in New York kennengelernt hatte, und meiner alten Freundin Irina Brook, der Theaterregisseurin aus Paris (die Tochter des Regisseurs Peter Brook), haben wir 2009 das Dubrovnik Shakespeare Festival ins Leben gerufen. Wir hatten das Glück, starke Unterstützung vom Kulturministerium, von der Stadt Dubrovnik und von Unternehmenssponsoren wie Croatia Airlines, Valamar Hotels und anderen zu erhalten. Gleichzeitig standen wir vor drei gewaltigen Hindernissen. Die globale Finanzkrise von 2007-2008 hing wie Blei an unseren Füßen und dann um unseren Hals, weil die Budgets überall knapper wurden. Wie man so schön sagt, ist Timing ja alles. … Und zweitens gab es Korruption in einem Ausmaß, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Beispiel: Während die Stadt uns auf Drängen von Präsident Josipovic "kostenlosen" Raum für Auftritte zur Verfügung stellte, fragte mich der Manager eines Veranstaltungsortes: "Wollen Sie jetzt Strom für Ihre Beleuchtung? Das muss ich Ihnen natürlich in Rechnung stellen. Will das Publikum Stühle zum Sitzen? Die kosten Sie natürlich etwas." An der Bar steht eine Eismaschine. Er erwähnte, wie viel es kosten würde, die für eine Nacht zu mieten. Schließlich sagte er: "Jemand aus meinem Team muss die Türen aufschließen und dann den ganzen Abend bleiben, um sie abzuschließen, nachdem das Publikum gegangen ist." Alles in allem hätten die Kosten für das, was "kostenlos" sein sollte, etwa 60 Prozent dessen ausgemacht,  was wir über Ticketverkäufe reinbekommen hätten.  Das war bei der Übersetzung des Wortes "umsonst" irgendwie auf der Strecke geblieben . Zu guter Letzt war der eigentliche Deal-Breaker und Ball-Breaker, dass ich während des Aufbaus des Festivals immer mehr – wählen Sie das passende Adjektiv – verärgert, angewidert war von dem, was mit dieser schönen Altstadt im Sommer passiert. 2009 lebten nur noch 800 kroatische Staatsbürger in den alten Mauern,  die meisten Häuser wurden an Ausländer verkauft. Bis zu fünf Kreuzfahrtschiffe pro Tag, die jeweils bis zu 3.000 Kurzzeitbesucher ausladen, überschwemmen die Stadt mit einfallenden Horden. Die Disneyfizierung einer der schönsten von Menschenhand geschaffenen Ecken der Welt. Das heißt, wenn man das überhaupt bei all den wippenden Köpfen der fotografierenden Reisegruppen erkennen kann. Sie verbringen fünf oder sechs  Stunden dort, dann wieder zurück auf ihre Schiffe und ab nach Venedig oder Istanbul.

Ich vermute mal, das war nicht Ihre eigentliche Zielgruppe?
M.L.: Ich wollte einen ganz anderen Besuchertypus anziehen, einen, der Tag und Nacht bleiben würde, um den einstigen Stadtstaat zu sehen, der als Wächter zwischen den Imperien gestanden hatte, der Pionierarbeit in der Diplomatie als Alternative zum Krieg geleistet hatte, der selbst Kriege überlebt hatte, mit seiner Pfaueninsel Lokrum, seinen verborgenen Schätzen, die in den Gassen aus weißem Stein versteckt waren,  etc. Mein Frust drückte sich wirklich in einigen der Auftritte aus, die wir für 2012 planten. Ein Café erklärte sich bereit, ein Schild auf seiner Terrasse anzubringen: "Machen Sie Fotos von den Touristen. 1USD$." Einige Schauspieler spielten die Rollen von Einheimischen – Kinder, die gegen einen Ball kickten, Paare, die sich stritten, ein Liebespaar usw., weil es so wenige Einheimische gab, die das lokale Leben darstellen konnten. Ich stellte eine Pseudo- Reisegruppe zusammen, die echt aussah,  und den Leuten wurden Dinge erzählt wie: "Das Haus auf der linken Seite ist der Ort, an dem Mozart einen Großteil seiner Kindheit verbracht hat, während das Haus auf der rechten Seite der Ort ist, wo die Coca Cola erfunden wurde..." Denn ob wahr oder auch  nicht, einige der Leute, die in diesen Gruppen herumschlurfen, scheinen einfach alles zu glauben, was ihnen gesagt wird, und ich wollte diese Grenzen austesten.  Information als Fast Food. Wie oberflächlich, einen Ort zu besuchen, an dem man nur ein paar Stunden verbringt, um dann für den Rest seines Lebens den Leuten zu erzählen, dass man an diesem Ort war! Was heißt "dort" ? Um Gertrude Stein zu zitieren: "no there there" – "dort" gibt's nicht, so wie die das machen.

Welche anderen Bühnenereignisse waren in dem Jahr noch für das Festival geplant?
M.L.: Wir planten eine Galerie mit zwanzig lebenden Statuen, die den "Stradun", die Hauptpassage für Fußgänger, säumten. Statuen, die an Mini-Performances gekoppelt waren: ein Kuss in Zeitlupe, ein Schlag in Zeitlupe, ein Taschendiebstahl in Zeitlupe usw. Das alles zusammengenommen dauerte eine Stunde oder sogar Stunden, so dass der Zuschauer gezwungen war, in Abständen wiederzukommen, um zu sehen, wie sich das alles weiterentwickelte und löste – und nicht nur auf dem Rückweg zum Schiff vorbeihastete.  Die große russisch-deutsche Künstlerin Genia Chef wollte ein riesiges Porträt von Shakespeare vor dem Rektorenpalast malen. Das Malen sollte Tage dauern und das Publikum dazu animieren, immer wieder zurückzukehren, um zu sehen, wie es sich entwickelt. Wir hatten eine Pink Floyd-Tribute-Band aus London, die bereit war, "The Wall" innerhalb der Stadtmauer aufzuführen, mit dem Thema der Isolation, um zu verdeutlichen, wie die verbliebene Bevölkerung immer mehr in ihrer eigenen Stadt isoliert wurde. Da war die … am dampfen.

Meine Güte! Rette sich wer kann!
M.L.: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein Interview, das ich im Staatlichen Kroatischen Radio gegeben hatte. Der Interviewer fragte mich, was ich für das Festival 2012 geplant hätte, und ich sprang wie der Springteufel aus der Box. Es sprudelte nur so aus mir heraus. Ich fing an, darüber zu sprechen, was der Massentourismus mit der Stadt machte und wie wir hofften, etwas dagegen zu unternehmen.  Schon nach wenigen Minuten unterbrach mich der Gastgeber. Am nächsten Tag bestellte mich der Bürgermeister in sein Büro.  "Michael, versuch nicht, die Stadt zu verändern, mach einfach Theater." Als ob Theater nichts weiter wäre als … was? Tickets verkaufen und Plätze besetzen? Ein paar Tage später rief der Flughafen Dubrovnik an, um mitzuteilen, dass sie statt der 50.000 Euro, die sie für die Unterstützung unseres Festivals versprochen hatten, nur 3.000 geben würden. Kurz vor knapp waren wir gezwungen, die zeitliche Planung herunterzuminimieren.  Irina Brook war gerade dabei, ihre Schauspieltruppe aus Paris kommen zu lassen, um "Ein Sommernachtstraum" auf die Bühne zu bringen. Das versprach interessant zu werden. Zu Shakespeares Zeiten spielten Männer alle Rollen, auch die weiblichen. In Irinas Inszenierung küssten sich zwei Männer, die als Mann und Frau auftraten. Kroatien war damals in diesen Dingen nicht gerade fortschrittlich,  aber das ist eine andere Geschichte. Eine wunderbare Truppe aus Zagreb, das Exit Theatre unter der Leitung von Matko Raguž, kam auch  mit einer ihrer Shows. Beides musste abgesagt werden.

Und dann, mit dem eingeschränkten Budget in eben diesem Jahr…Wie ging's weiter?
M.L.: Wir haben ein paar kleinere Stücke gemacht. Die Firma Performance Exchange aus London kam, unter der Leitung von Daniel Foley. Wir hatten eine englische Übersetzung des Theaterstücks "Der Geizhals" von Marin Držić in Auftrag gegeben und es geschafft, szenische Lesungen davon in Dubrovnik und auch in London zu machen. Es war das erste Mal, dass der Text von Držić in der Stadt Shakespeares zu hören war. Aber jetzt war die Luft aus den Reifen. Ich wollte mich wieder ans Schreiben machen. Und das Festival bei diesem Gegenwind am Laufen zu halten, fühlte sich an, als würde Sisyphos seinen Felsbrocken wälzen. Trotzdem war DSF schön, solange es andauerte. Und es hat ein paar neuere Festivals hervorgebracht, die jetzt nach unserem Vorbild angegangen werden. Einige meiner alten Produktionsteams mischen da mit. Ich wünsche ihnen alles Gute.

Es gibt eine persönliche Geschichte über Ihren Konflikt mit dem Bürgermeister von Dubrovnik, da ging es um die Aufführung von "Romeo und Julia", wie Sie mir erzählt haben. Der Bürgermeister sagte, dass die Touristen ein Stück über die romantische, ewige Liebe wollen. Im Gegensatz dazu waren Sie davon überzeugt, dass es in "Romeo und Julia" im Grunde um Hass geht. Könnten Sie  das näher erläutern und auch  Ihre Vorstellung von der Aufführung des Stücks?
M.L.: In demselben Gespräch, das ich erwähnt hatte, habe ich dem Bürgermeister am Tag nach diesem Radiointerview von meinem Plan erzählt, "Romeo und Julia" wie folgt zu inszenieren: Auf der Bühne würden zwei Kisten mit Fußballtrikots stehen, eine mit kroatischen Trikots, die andere mit serbischen Trikots. Serbien und Kroatien hatten in den 1990er Jahren einen brutalen Krieg geführt. Dubrovnik selbst war 1991 während des kroatischen Unabhängigkeitskrieges von Serbien und Montenegro angegriffen worden. Ich kam zu der Premiere vor der Show auf die Bühne, um eine Münze zu werfen, und bat dann jemanden im Publikum,  Kopf oder Zahl zu sagen. Je nach Wurf trug dann entweder Romeos Familie oder Julias Familie das kroatische Trikot, während die andere Familie das serbische Trikot trug. Am nächsten Abend tauschten wir die Kostüme, und dann ging es jeden Abend hin und her. Völlig willkürlich. Ich wusste, dass unser überwiegend kroatisches Publikum instinktiv Empathie für die Familie empfinden würde, die die kroatischen Trikots trug, und Hass gegenüber der verfeindeten Familie.

Das klingt nach einer sehr starken Inszenierungsidee.
M.L.: Es ging darum, zu zeigen, wie einfach es ist, Loyalitäten und Emotionen zu manipulieren. Jeder Politiker weiß das. Wie ich schon sagte, wird R & J oft fälschlicherweise als ein Stück über die Liebe angesehen, aber seine wahre Kraft liegt in einer Geschichte über den Hass zwischen zwei "Anderen" – in diesem Fall Romeos Montagues gegen Julias Capulets. Es könnte  im Kern tatsächlich genausogut um Schwarz/Weiß, Israeli/Palästinenser, religiöse Rivalitäten zu Shakespeares Zeiten und unsere eigenen gehen.  Wir gegen sie, Gruppendenken. Wenn ich das Stück heute in den USA aufführen würde, würde ich das Gleiche mit roten MAGA-Hüten machen. An einem Abend trägt sie die eine Familie, am nächsten Abend die andere Familie. Das ist die größte Antipathie und das Gruppendenken, was in meinem Heimatland gerade wieder hochkommt. Zurück nach Dubrovnik, der Bürgermeister war verärgert. "Michael, kannst du die Politik nicht außen vor lassen und dem Publikum einfach eine Freude bereiten?" Also passte der Intendant nicht, das Festival auch nicht.

Sie haben auch ein eigenes Bühnenstück für das Festival geschrieben, das dort aufgeführt wurde. Inwiefern passte "Mundo Overloadus" thematisch zum Festival?
M.L.: DSF hat dieses Stück zum Laufen gebracht. 2010 haben wir es in London im kleinen Poetry Café in Covent Garden aufgeführt, später im selben Jahr im PS122 im New Yorker East Village. Es geht um eine Gruppe von Charakteren, die vermeintlich in einer Flughafenlounge wartet, erst später erfahren wir, dass sie sich in einer Irrenanstalt befindet. Die geistige Gesundheit ist eine zerbrechliche Sache. Das Stück funktionierte für DSF, weil sich die Altstadt in Dubrovnik mit den anstürmenden Touristenhorden und deren Handys so überladen anfühlte. Anstatt den Ort in diesem einen Moment wirklich zu erfahren, sind viele so sehr damit beschäftigt, Fotos zu machen, damit sie später sehen können, was sie nicht ganz gesehen haben, als sie dort waren. Sie können bei einem Bild bleiben, heranzoomen und denken dann: Oh, so sieht's da also aus, da war ich also! 

Ja, wir alle kennen solche Leute, die den Moment nicht genießen können, in dem die Dinge passieren.
M.L.: In dem Stück geht es aber um mehr. In seinem Buch "Beating the Global Odds" schreibt der Schriftsteller Paul Laudicina: "Stellen Sie sich vor, Sie hätten endlich das gesamte Wissen über die menschliche Zivilisation zur Hand und stellen fest, dass Sie dabei im Grunde genommen Kopfschmerzen kriegen. Das ist das Thema von 'Mundo Overloadus'." Da wir uns immer weiter auf unsere technischen Geräte zurückziehen, entfernen wir uns immer weiter vom eigentlichen Leben in einer Welt, in der die Menschen schon seit Jahrtausenden leben. Um Dubrovnik, Venedig, einige Teile von Paris usw. wirklich zu erleben, muss man jetzt zwischen ein und sieben Uhr morgens durch die Straßen wandern, ansonsten ist die Menge die gleiche, die man an der letzten Haltestelle gesehen hat, einer davon ist man zufällig selbst. Eine Nivellierung verwischt die Unterschiede. Wie bewahren wir unsere eigene Identität, wenn wir von der Menge verschluckt werden? Darum geht's.

Sie haben Ihr Stück für das Shakespeare-Festival in Dubrovnik geschrieben. Shakespeare war auch ein Meister des Sonetts mit seiner typischen Form und dem strengen Metrum. Die klassischen Themen des Sonetts sind vor allem Liebe, Schönheit, Zeit und Vergänglichkeit.  Würden Sie als jemand, der selber Gedichte verfasst,  sagen, dass der Geist Shakespeares in Ihren Sonetten weiterlebt?
M.L.: Ein dreizeiliges Haiku bietet schon genug Raum für eine Geschichte. Ein klassisches 14-zeiliges Sonett hingegen bietet fast üppigen Raum, bei aller formalen Strenge. In diesen Raum muss das Mobiliar eingepasst werden. Obwohl einige meiner Sonette wie "How Fast is Love" diesen sogar auf 15 Zeilen dehnen. Ein Roman ist das Gegenteil, man kann's, wenn man will, genau wie Tolstoi machen. Ich mag die Disziplin des Sonetts und seine Form. Es ist, als würde man eine Fahne hissen, um große Anlässe zu feiern. Wie eine große Liebe oder eine große Trauer. Ich schrieb Sonette, als mein erster Sohn geboren wurde und als mein Vater starb. Das Sonett hat eine Würde. Als ich 1980 Theaterwissenschaft studierte, schrieb ich mein erstes Sonett während eines Auslandssemesters in London, nachdem ich gelesen hatte, dass ein Kritiker behauptete, er wisse genau, was Shakespeare in einem bestimmten Moment in seinem Stück meinte. Ich habe mir Luft gemacht, weil ein Großteil der Magie von Shakespeare in der Mehrdeutigkeit liegt. Wie Pink Floyd uns sagte, haben Wörter manchmal zwei Bedeutungen. Will geht noch weiter und zeigt uns das Leben in einem lustigen Zerrspiegel, mit Spiegelungen von Spiegelungen. Das war die Hommage von mir,  23-jährig, an ihn:

The kaleidoscope of meanings is never ending
That seen forthrightly for what they are
The words of Shakespeare are elusive and undying
Like the universe itself, outliving stars
And like some flaming constellation of hallowed lights
So many beacons illumining mankind
Without them we would proceed with partial sight
Stumbling forward in strange kinship with the blind
But with them, the blind as well may see
Such richly varied colors, tones and hues
That they, like he, as he wove his tapestry
Command innumerable shades from which to choose
And so his words like eyes give vision to us all
To gaze upon a world that has no walls

Wie erhebend, solch ein kunstvolles Sonett zu hören!  Ich habe es sehr genossen. Doch nun zu einem anderen Schriftsteller. In der Erzählung "Spanien II" wird Hemingway zum Thema.
Dessen klare, präzise und in vielerlei Hinsicht asketische Prosa galt schon dem deutschen Schriftsteller Siegfried Lenz als Orientierung für sein eigenes Schreiben. In welcher Hinsicht war Hemingway auch für Ihr Schreiben wichtig?

M.L.: Ich habe in einem Essay, den ich 2021 für den Blog des "American Studies Journal" geschrieben habe, viel über seinen Einfluss auf mich gesagt. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, möchte ich sagen, dass ich mich nach der Lektüre von Hemingway weniger allein gefühlt habe. Er war ein ehemaliger Patriot, einer von meinem Schlag, wenn's denn so ist. Er war Alkoholiker, Schriftsteller und liebte Orte mit Menschen und auch ohne Menschen. Sein Schreibstil hat nicht nur mich beeinflusst, sondern so viele Autoren, die nach ihm kamen. Die Hühnersuppe einkochen, um die Brühe einzudicken. Vor Hem war das Schreiben blumiger. Er ließ dich für jedes Wort bezahlen. Sag es, fertig, und dann weiter. Nur Shakespeare fühlte ich mich so nahe. Und vielleicht John Fante. Ich würde ein oder zwei Zehen opfern, um ein paar Stunden mit einem dieser drei zu verbringen.

Bei der Lektüre von "Spanien II" ist mir aufgefallen, dass Sie mit einer gewissen Melancholie über ein  Spanien schreiben, das vielleicht im Verschwinden begriffen ist. Wie Sie in dieser Geschichte in Bezug auf Hemingway betonen: "Er hat jene Orte in ihrer weitgehenden Unberührtheit eingefangen [...] Es gab keine Billigfluggesellschaften oder Pauschalreisen [...] Und die Seele eines Ortes zu beschreiben war einfacher, weil die Seele noch da war." Neben Berlin und Dubrovnik haben Sie auch in Spanien gelebt. Spanien – eine Leidenschaft?
M.L.: Ich habe "The Sun Also Rises" gelesen – in Europa heißt der Roman "Fiesta" – etwa ein Jahr vor meiner ersten Reise nach Spanien. In diesem Buch beschreibt Hemingway die weißen Feldwege gleich hinter der Grenze zu Frankreich und das Verhalten des Menschen, wie er immer noch an das Animalische gekoppelt ist. Technologie und schiere Zahlen haben uns von unseren eigenen Wurzeln entfernt. Es ist genau ein Jahrhundert her, seit Hemingway in den 1920er Jahren dieses Buch schrieb. In Spanien habe ich festgestellt, dass man sich nicht von den Menschen entfernen muss, um mit unserer Natur verbunden zu bleiben. Es fühlt sich dort an, als wären wir immer noch Teil der Natur, weshalb ich mich in sie verliebt habe. Menschen sind Tiere, und dort verbergen sie es nicht. Als hätte jeder Moment etwas von elementarem Sex. Auch hier gibt es Ausnahmen von der Regel, aber viele in dieser Kultur lassen dich merken, was sie fühlen. Weniger Lack und Glanz als hier in Berlin, wo ich jetzt lebe.

Es ist also diese unbehauene Ehrlichkeit in Spanien, die Sie anspricht?
M.L.: Ich hatte schon immer eine hyperaktive Fantasie und eine romantische Sicht, das passt alles gut auf mich,  aber viele dort scheinen mir auch dankbarer dem Leben gegenüber zu sein, weniger enttäuscht als an einigen der anderen Orte, an denen ich mich aufgehalten habe. Ich weiß, dass ich in dem Moment, in dem ich diese Grenze überschreite, glücklicher bin. Ich bin dort ein Jahr auf Krücken gegangen, nachdem ich mir in der Nähe von Granada das Bein gebrochen hatte, und ich lächle sogar, wenn ich an dieses Krankenhaus zurückdenke. Das ist so eine Art Zauber. Wenn du wegkommst von den haushohen Einheits-Wohnblöcken Benidorms und den zunehmenden Touristenscharen auf den Ramblas im Sommer, sind unsere Wurzeln immer noch da.

2014 erschien der Roman "Cadaqués". Berühmt wurde dieser Ort an der spanisch-französischen Grenze durch die Schriftsteller und Maler, die es dorthin zog. Künstler wie Dalí, Duchamp, Man Ray, Picasso, Buñuel, Garcia Lorca, John Cage fühlten sich von diesem Ort angezogen.  Und neben der Lebensfreude scheinen sie es irgendwie geschafft zu haben, diszipliniert zu arbeiten – im Gegensatz zu Ihrem  Protagonisten Cal –  Eher trinkfest als als feste am Arbeiten. Sie nennen das Lebensgefühl in Cadaqués: "Cha-cha-cha-mood". Hat diese Stimmung auch die Kreativität in Ihnen geweckt?
M.L.: Wenn ich mit dem Finger auf meinen Lieblingsplatz auf der Erde zeigen müsste, wäre es Cadaqués. Es gibt Orte, die schön sind, aber keinen schöneren. Diese Felsen, dieser Wind, dieses Meer. Immer noch mehr Olivenbäume als Menschen. Ich mag das. Man kann mit Menschen zusammen sein oder von ihnen weg, das eine so einfach wie das andere.  Ich kam 1998 zum ersten Mal in das Dorf. Im Alter von zwölf bis siebenundvierzig Jahren hatte ich im Grunde einen Drink in der einen und einen Joint in der anderen Hand. Dort fand ich eine Gruppe von Künstlern vor, die so viel trinken konnten wie ich, die Träume hatten, die so groß waren wie meine, und die wie ich versuchten, diese beiden Dinge unter einen Hut zu bringen. Ich versuchte, das Quadratische ins Runde zu stecken. Der Geist der großen Künstler, die Sie erwähnt haben, überragt diesen Ort, eine Erinnerung daran, was Kunst leisten kann. Es gibt eine Verantwortung, die mit diesem Bewusstsein einhergeht. Verschwende es nicht, egal welches Talent du hast, und egal wieviel Zeit. Während ich dies beantworte, sei berichtet, dass ich meinen letzten Drink am 10. Mai 2004 gehabt hatte. Ich habe diesen Roman geschrieben, um eine Grenze zu ziehen zwischen zu wild und immer noch wild genug. Man kann im Leben auch zu vorsichtig sein. Das war in Cadaqués noch nie ein Problem.

2016 kam Ihr Buch "In the Widdle Wat of Time" heraus. Auf dem Cover sind zwei Fotos zu sehen: eines von Ihnen  als Dreijähriger und das andere von Ihnen in Ihren Endfünfzigern – passend zum Thema "Zeit". Das Buch enthält Sonette, Kurzgeschichten und Haikus. Sehen Sie sich in der Tradition von Ezra Pounds Haiku-Poesie, diesen kurzen Dreizeilern, die flüchtige Eindrücke prägnant einfangen?
M.L.: Ich habe bereits davon gesprochen, dass ein Haiku genügend Raum für eine Geschichte bietet. Das Leben ist ein flüchtiger Eindruck. Je älter ich werde, desto mehr sehe ich, dass ein Jahrhundert nicht mehr das ist, was es einmal war. Für ein Kind sind hundert Jahre ungefähr eine Ewigkeit. Für jemanden jenseits der Sechzig scheint kaum genug Zeit, um dorthin zu gelangen, wo man hinwill. Ezra Pounds Forderung "Make it new" war der Fanfarenruf eines jüngeren Mannes. Schneller Vorlauf, und was geschieht, ist, dass sich eine gewisse Vorliebe für Traditionen im Kopf geltend macht. Veränderung begrüße ich nicht mehr so sehr wie früher. Ich akzeptiere sie, was etwas anderes ist. Der Titel des 2016 erschienenen Buches entstammt meinem Sonett "In the Widdle Wat of Time", in dem ich damit ringe, das zu verstehen.

Wie mir aufgefallen ist, standen Sie schon als Zwölfjähriger auf der Bühne. In Ihrer Karriere als Schauspieler haben Sie verschiedene Theater- und Kinorollen gespielt: Im Alter von 15 Jahren waren Sie Gandalf in einer Hobbit-Produktion. Sie spielten auch Fürst Serpuhovsky in Tolstois "Der Leinwandmesser" und Sigmund Freud in "Fräulein Dora" (von Carol Lashof) sowie Lukullus in Brechts Theaterstück. Als Claudius in "Hamlet" waren Sie 1989 auf Theatertournee in London und Hongkong. Ihr Leben als Schauspieler, das schon früh begonnen hat  – welche Geschichten fallen Ihnen ein, wenn Sie zurückdenken?
M.L.: Als ich ein Junge war,  in der Roger Road in New Haven, Connecticut, hatten wir eine professionelle Schauspielerin namens Bunny Cohn als Nachbarin. Bunnys Tochter Karen war das erste Mädchen, das ich geküsst habe. So spielt das Leben. 1964 spielte Bunny in einer Inszenierung von Brechts "Caucasian Chalk Circle" ("Der kaukasische Kreidekreis") am Yale Repertory Theatre. In der Produktion wurde Karen in der Kinderrolle besetzt. Ich erinnere mich, wie ich meine kleine Freundin auf der Bühne beobachtete, dann nach Hause rannte und ein Theaterstück mit dem Titel "The Good Guy and the Bad Guy" schrieb. Ich machte kleine Tickets, die ich für jeweils einen Cent an meine Eltern und Freunde verkaufte, bastelte ein Set aus einer alten Kiste und ließ ein paar meiner Spielsachen und Puppen dann auftreten. Ich habe noch welche davon. Zur gleichen Zeit lebten die Eltern meines Vaters in Manhattan und nahmen mich und meinen Bruder mit zu Broadway-Aufführungen. "Fiddler on the Roof" mit Zero Mostel, "Kismet" mit Anne Jeffreys, Radio City Music Hall. Im Alter von acht Jahren wollte ich also bereits unbedingt Schauspieler werden.

Das war doch ungefähr zur gleichen Zeit, als Sie mit Ihrer Familie nach Palo Alto gezogen sind?
M.L.: Wir zogen nach Palo Alto, Kalifornien, als ich neun war. Ein Freund meines Vaters hat mir ein Vorsprechen ermöglicht, um Kinderrollen in einer Reihe von Tonbändern zu Lernzwecken  einzuspielen, die in San Francisco produziert wurden. Ich trat der Schauspielergewerkschaft AFTRA bei und verdiente im Alter von zwölf Jahren fünfzehn Dollar pro Stunde. 1968 war das eine Menge. Ich war im Palo Alto Children's Theatre aktiv, das immer noch eine großartige Ressource für PA-Kinder ist. 1970 fing ich an  bei den späteren TheatreWorks zu spielen, heute eine der bekannteren regionalen Theatergruppen des Landes. Nur nebenbei: Sie erwähnten die Rolle des Claudius in einer Tourneeproduktion von "Hamlet" in London, 1989. Das Aufregendste auf dieser Tour war, dass ich eines Tages durch Southwark wanderte, über den Fluss, wo Shakespeare, Marlowe, Jonson und die anderen ihre Stücke aufgeführt hatten. Ich traf auf eine archäologische Ausgrabung, die sich als Ruine des Rose Theatre erwies, in dem Shakespeare seine Karriere begonnen hatte.  Es war das erste elisabethanische Theater, das jemals ausgegraben wurde, und es hätte nur noch weniger Tage bedurft, dies zu zerstören, um darüber einen Büroturm hochzuziehen. Ich alarmierte die Zeitung "Evening Standard". Die berichtete darüber, und die daraus resultierenden Proteste führten dazu, dass sie das Bürogebäude so umgestalteten, dass die Ruinen des "Rose" immer noch erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Ich bin stolz darauf, dass ich einen kleinen Teil dazu beigetragen habe. Die Eigentümer dieses Gebäudes verfluchen mich wahrscheinlich immer noch.

Auf der Bühne spielten Sie auch die Rolle des Cyrano de Bergerac. Sie haben sich kürzlich in einem anderen Bühnenstück wieder mit dem Thema Cyrano beschäftigt. Was war der Grund, warum Sie sich künstlerisch zu der Figur des berühmten Helden von Edmond Rostand hingezogen fühlten?
M.L.: Ich spielte den Cyrano 1983 bei TheatreWorks in Palo Alto. Das war ein Wendepunkt für mich, an dem sich meine Liebe zur Schauspielerei in eine größere Liebe hin zum Schreiben wandelte. Man kann das Universum, das auf dem leeren Blatt Gestalt annimmt, auf eine Weise steuern, die mich begeistert. Im Fall von Cyrano erfuhr ich bei der Recherche für die Rolle, dass der Dramatiker Edmond Rostand sein Stück aus dem Jahr 1897 an der realen Figur des Savinien de Cyrano de Bergerac ausgerichtet hatte. Der hatte im frühen 17. Jahrhundert in Frankreich gelebt. Der echte Cyrano war ein frei denkender Libertin, der an die Wissenschaft glaubte. Jetzt, im 21. Jahrhundert,  tun es einige immer noch nicht. Italo Calvino beschrieb Cyrano als "den ersten Schriftsteller der modernen Welt, der sich zu einem atomistischen Konzept des Universums in seiner phantastischen Dimension bekannte". Und er war einer der ersten, der Science-Fiction als sozialen Kommentar nutzte, indem er Dinge über Kirche und Staat sagte. Hätte er sie direkt gesagt, wären Kopf und Nase weg gewesen.  In seinen Büchern "Voyages to the Empires of the Moon and Sun" stellte er sich verschiedene Arten vor, in den Weltraum zu reisen. Er beschrieb einen Heißluftballon, den Fallschirm, Raketenflüge, eine elektrische Glühbirne, einen Phonographen, einen MP3-Player und vieles mehr – Jahrhunderte, bevor andere dies Wirklichkeit werden ließen. Und ich war total genervt,  dass außerhalb Frankreichs, wo ihn viele kennen, die allermeisten Cyrano für eine großnasige Fiktion halten, die von Rostand geschaffen wurde. Also ging ich dann nach Bergerac in Frankreich, obwohl sich herausstellte, dass er dort nie gelebt hatte, habe eine Zeit lang Trauben geerntet und dann ein Theaterstück in Versen geschrieben. Es hieß "Die praktisch wahre Geschichte der letzten Tage des echten Cyrano de Bergerac". Ich erfuhr auch, dass der echte Cyrano, der Atheist war, erst nach einem ganzen Jahr an einer Kopfwunde gestorben war. Die echte Roxanne war römisch-katholisch und hatte sich die ganze Zeit um ihn gekümmert. Rostand ließ ihn nur wenige Tage nach seiner Verwundung sterben, und deshalb dachte ich, es wäre interessant, dieses Jahr näher zu betrachten. Ich hatte das Glück, dass einer meiner Freunde der Dramatiker John Guare war. John las das Skript und sagte mir, dass er zwar die Poesie darin mochte, das Stück aber als zu harmlos, zu lang und als noch ziemlich unfertig befand.

Aber zwischenzeitlich gab es eine weitere Überarbeitung, stimmt das?
M.L.: Es hat vierzig Jahre gedauert, bis ich endlich eine zynischere Seite entwickelt habe, um meiner romantischen Seite entgegenzuwirken, die für mich leichter ist.  Erst vor ein paar Monaten habe ich das Stück endlich beendet, es heißt jetzt "How Fast is Love". Vier Charaktere, ein Schauplatz, Aufführungsdauer ca. 90 Minuten. Es geht um zwei ältere Männer, die sich ihre letzten Tage in einem gemeinsamen Hospizzimmer teilen. Der eine war ein romantischer Schauspieler/Dichter, hatte kein Geld, lebte aber aus seinem Herzen. Der andere ist ein zynischer Trump-ähnlicher Geschäftsmann aus Queens, New York, der alles und jeden verkaufen würde, wenn der Gewinn stimmt.  Betreut werden sie von einer jungen Krankenschwester namens Roxanne. Die vierte Figur ist der Enkel des alten Dichters. Ich habe gerade angefangen, das Drehbuch an die Kinos zu schicken. Daumen drücken!

Ja, toi, toi, toi!  Kommen wir zu Ihrem Drehbuch "Saving America". 2017 lud die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Sie ein, aus dem Manuskript zu lesen, das Ihre zeitgenössische Version von "Don Quichote" ist.  Ihr Drehbuch über den alten, chronisch optimistischen Don Hotey gewann den Bronzepreis für Komödie beim PAGE International Screenwriting Contest 2019. Könnte man dieses Drehbuch als eine Darstellung der Rettung Amerikas bezeichnen?
M.L.: Als Kinder haben wir alle Fantasien. Ein Stock wird zum Schwert, ein Busch wird zu einer Festung, ein Baum wird zum Mast eines Piratenschiffs. Zumindest war das meine Kindheit. Quijote ist eine Figur, die das Kind in sich am Leben erhalten hat, während sein Freund Sancho mit seiner Hilfe im Verlauf ihrer Abenteuer sein inneres Kind entdeckt. George Bernard Shaw schrieb: "Manche sehen die Dinge, wie sie sind, und fragen nach dem Warum, andere träumen Dinge, die nie da waren, und fragen, 'Warum nicht'?" Das ist die Essenz von Quijote. Der wahre Zauber. Mein Land, die Vereinigten Staaten, ist jetzt in Gefahr. Einige schüren das Feuer, es hat sich seit den 1860er Jahren nicht mehr so gespalten angefühlt. Wir entfernen uns voneinander vermittels genau der Technologien, die uns hätten zusammenbringen sollen.  Du bist in deiner Blase, ich bin in meiner. Irgendjemand oder irgendetwas muss uns retten. Warum nicht eine Geschichte? Ich habe einmal geschrieben, dass jeder Schritt, den wir tun, mit einer Geschichte beginnt. Wir sagen uns, dass wir an der Ecke fündig werden, und erst dann machen wir uns auf den Weg dorthin. Ich liebe es, Geschichten zu erzählen, denn man kann jedes Problem lösen, zumindest auf dem Papier.

Können Sie mit Blick auf "Saving America" ein Beispiel dafür geben, wie Sie ein Problem auf dem Weg des Schreibens gelöst haben?
M.L.: In dieser Geschichte stelle ich mir vor, dass Ingenieure eine neue Art von Asphalt auf Siliziumbasis entwickelt haben, der Sonnenlicht in Elektrizität umwandeln kann. Ich habe einen Großteil meines Lebens an geographischen Orten wie Kalifornien, Spanien und Kroatien verbracht, wo die Straßen so heiß werden, dass man sie nicht mit bloßen Füßen betreten kann. Ich dachte immer, wie schade, dass niemand den verfügbaren Sonnenschein nutzt, um unsere Klimaprobleme anzugehen. Allein in den Vereinigten Staaten gibt es über 4 Millionen Meilen Straße. Die könnten nicht nur Strom speichern, sondern den auch an Haushalte, Fabriken und Fahrzeuge weitergeben. Gleichzeitig spalten uns Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Donald Trump, Narrengold, wenn es dieses je gab, will "bohren, bohren, bohren". Künftige Generationen müssen es ausbaden, die Flutkatastrophen werden ihn kalt lassen. Er inspirierte mich zu Storm Tyler, meinem Bösewicht in der Geschichte, der versucht, die neue Technologie zu durchkreuzen, weil er selbst in fossile Brennstoffe investiert hat.  Die Deutschen haben lange Zeit perfekte Filmbösewichte abgegeben.  "Casablanca" als Beleg. Nun ist Trump aus dem Schatten herausgetreten und bietet seine eigenen Dienste an. Perfektes Bösewicht-Material, mit dem Quentchen Possenreißerei zum Spaß zwischenrein. Er ist wie eine Figur aus der Commedia dell'arte, die andere zum Spaß ohrfeigt. In einer Szene in einem Bordell in Nevada bricht ein Kampf zwischen Schwarzen und Weißen, Amerikanern mexikanischer Herkunft, Indianern und anderen aus. Mein Held Don Hotey stellt sich auf einen Tisch und bringt sie dazu, für einen Moment mit dem Kämpfen aufzuhören, indem er ruft: "Wisst ihr, welchem Stamm ich angehöre? Legt eure Hand auf einen Tisch, dann schlagt mit einem Stein darauf. Wenn das weh tut, wisst ihr was, nämlich: du und ich, wir gehören demselben Stamm an. Der Stamm heißt: 'Meine Hand tut mir weh, wenn ein Stein auf sie draufschlägt'. Oder, wie wir auch genannt werden, der Stamm namens 'Streichle sanft meine Hand und es fühlt sich gut an.' So einfach ist das, Leute. Wir sitzen im gleichen Boot." Das ist natürlich naiv. Der Kampf fängt in dem Moment wieder an, in dem sich Don Hotey entfernt. Genau wie bei Cervantes, als der Herr den Diener Andres wieder verprügelt, sobald Quijote davonreitet. Aber gleichzeitig steckt in Dons Appell die unkomplizierte Wahrheit eines Kindes: Können wir nicht irgendwie miteinander auskommen? Um Hemingway zu zitieren: "Ein hübscher Gedanke, oder?". Wie von einem Baby.  Darin liegt ein Charme, den auch ich versuche, in meine Geschichte  hineinzunehmen. Charme ist wie ein Zaubertrank, er kann alles einfacher machen. Wenn der Bösewicht das merkt, kann es sogar gefährlich werden.

In Ihrer Kurzgeschichtensammlung "The Great Game" (2012) beschäftigten Sie sich mit dem Mythos, dass der amerikanische Westen wild sei und es in Europa umgekehrt wäre. Vielleicht ein paar Worte zu dieser interessanten Gegenposition?
M.L.: Das ist nur ein Zusammenspiel auf dem Kompass. Ich sagte etwas  über das Nachkriegseuropa hinter dem Eisernen Vorhang. Der alte Westen der Vereinigten Staaten war rau und gesetzlos, bis eine Gesetzesordnung eingeführt wurde. Osteuropa war schroff, überall Ecken und Kanten und genauso gesetzlos, weil das Gesetz das war, was jemand hinter verschlossener Tür als ebendieses festsetze.  Gleichzeitig herrschte im Westen, von Ausnahmen abgesehen, Ordnung. Ordentliche Gerichtsverfahren, in der Wirtschaft, eine offene Kunst, kaum mehr etwas Geheimes. In den meisten Fällen waren die Menschen auch wirklich die, für die sie sich ausgaben.  Im Osten Europas hingegen konnte man sich nicht sicher sein. Die Staatspolizei hatte ihre Informanten überall.  Der eigene Freund oder die eigene Familie spionierte einen vielleicht aus. Das ist ziemlich krass und "wild". Heute ist es wieder so, dass einige russische Freunde nicht sagen, was sie denken, weil sie wissen, dass Putin ihnen über die Schulter schaut. Wir dachten, Geschichte schreitet voran? Nicht immer.

Eine der Geschichten in diesem Buch trägt den Titel "Berlin-Warschau-Express". Können Sie etwas dazu sagen?
M.L.: Auf jeden Fall. Ich beschreibe, wie selbst nach dem Mauerfall "umbenannte Kommunisten, die vor nicht allzu langer Zeit noch Stasi-Spitzel gewesen waren, aus Gewohnheit ihre Nachbarn durch Spitzenvorhänge beobachteten". Eine andere Geschichte, die ich immer wieder erzähle, ist die, wie ich 1980 mit einer österreichischen Freundin in einem Zug von Wien nach Budapest reiste. An der Grenze wollten bewaffnete Wachleute, die so aussahen als kämen sie direkt aus dem Hauptcasting für "Mission Impossible", meinen Pass zu sehen. Sie wollten wissen, warum ich nach Budapest komme. Ich zu meiner Freundin auf Englisch: "Sag ihnen, ich komme deswegen, weil ich mir ihre militärischen Einrichtungen anschauen will." Die arme Heidi wurde kreidebleich. "Du Michael, die verstehen hier keinen Spaß". Gott sei Dank hatten sie kein Wort Englisch verstanden, sonst hätte ich wahrscheinlich die Anzahl der Jahre danach in eine kalte Steinmauer eingeritzt, zumindest bis zum Mauerfall zwanzig Jahre später.

Im "American Studies Journal Blog" habe ich einen Ihren neueren Essays gelesen:  "German Distance, American Naivety". In Ihrer Betrachtung der Deutschen und der Amerikaner enden Sie mit dem Satz: "Die Wahrheit ist, dass wir viel zu lehren haben – und viel zu lernen." Was genau gibt es auf beiden Seiten zu lehren und zu lernen?
M.L.: In diesem Essay erzähle ich, wie gewartet wird, um in Manhattan über die Straße zu gehen. Neben mir stand ein Fremder, und während wir beide darauf warteten, dass der Verkehr weniger wurde, kamen er und ich in ein spontanes Gespräch über den Tod unserer Väter. Ich glaube, im ganzen Leben könnte ich mich nie in einer so tiefen und zugleich legeren Weise mit einer fremden Person in Deutschland austauschen. Aber dann stelle ich auch fest, dass ich als Amerikaner nicht immer so sensibel war, was die historischen Feinheiten Europas angeht,  wie jemand, der hier aufgewachsen ist. Ich nehme zu viel als selbstverständlich hin. Ein gutes Beispiel wäre mein Scherz mit dem ungarischen Grenzbeamten im Jahr 1980, dass ich die militärischen Einrichtungen dort sehen wolle. Von zwei Ozeanen eingefasst, mögen die USA aufgrund ihrer Größe gewissermaßen als riesige "Insel" wirken… Ich denke, Europa kann weiterhin von unserer Offenheit und unserer Innovationsbereitschaft profitieren. Und wir Amerikaner können viel von den Erfahrungen der Europäer lernen, die so eng beieinander leben. Den Europäern ist es bewusst, dass die Alternative zur Koexistenz allzu leicht der Krieg sein kann.

Ein weiterer bemerkenswerter Essay im "American Studies Journal Blog" ist "Erich Mühsam und die Berliner Ideenfabrik".  Sie haben Ihr Schreibbüro und Ihre Forschungsbibliothek im selben Gebäude, in dem Erich Mühsam mit seiner Frau Zenzl arbeitete und lebte. Alt-Lietzow 12. Können Sie erklären, warum Sie sich Mühsam so nahe fühlen, wie Ihr Essay verrät?
M.L.: Ich kam zum ersten Mal nach Europa, als ich im Sommer 1958 zwei Jahre alt war. 1961/62 verbrachten wir wieder ein Jahr in Wien, wo mein Vater Ivo recherchierte und ein Buch über europäische Diplomatie schrieb. Genau zu der Zeit wurde die Berliner Mauer gebaut. Ich erinnere mich an ein Picknick, das wir eines Tages in Sichtweite eines Maschinengewehrturms an der ungarischen Grenze machten. Ich wusste also bereits, dass Europa ein gefährlicherer Ort war als mein Zuhause in New Haven, Connecticut. Später erfuhr ich, dass mein Vater, seine Schwester und seine Eltern den Nazis in Jugoslawien nur knapp entkommen waren und dass mein Großvater zuvor aus dem Konzentrationslager Kerestinec bei Zagreb geflohen war. Er war verhaftet worden, weil er gegen die Vorschrift  verstoßen hatte, die sich gegen Juden richtete, die als Juristen tätig waren. Erich Mühsam war ein jüdischer Dichter, Dramatiker und Essayist, der in der Nacht des Reichstagsbrandes 1933 von den Nazis verhaftet und 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet wurde. An der Wand an der Stirnseite des Künstlerhofs, direkt unter der Bibliothek, in der ich arbeite, befindet sich ein Schablonenbild von Mühsams Porträt. Vor ein paar Wochen hat es jemand mit gelber Farbe besprüht. Vor allem seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der Entdeckung von über 600 Kilometern Militärtunneln unter Gaza – länger als die Londoner U-Bahn – und dem tragischen Verlust von Menschenleben auf beiden Seiten schwappen die Spannungen wieder in die entlegensten Winkel des Lebens in Europa. Zugleich ist es bis zur Ukraine höchstens eine Fahrradtour. Trommeln schlagen, Kugeln fliegen. In den USA ist eine große politische Partei dabei, erneut einen Kandidaten zu nominieren, der Vergeltung gegen seine politischen Feinde schwört, diese Feinde als "Ungeziefer" bezeichnet und behauptet, Einwanderer würden das Blut des Landes verderben, obwohl er selbst der Sohn einer eingewanderten Mutter ist und auch sein Vater der Sohn von Einwanderern war. Rote Hüte statt brauner Hemden. Das zerbrochene Glas im US-Kapitol am 6. Januar war ein weit entfernter Schrei aus der Reichskristallnacht, aber selbst ein kleiner Schritt in Richtung politischer Gewalt ist ein Warnzeichen. Geschichte wiederholt sich. Erich Mühsam nutzte die Satire, um die Grausamkeiten und Gefahren seiner Zeit zu thematisieren. Lachen ist eine mächtige Waffe. Nichts geht Trump mehr unter seine Orangenhaut, als dass Menschen über ihn lachen. Putin und Kim Jong Un lassen so etwas nicht zu, weil es die Macht unterminiert,  den Möchtegern-Kaiser ohne Kleider zeigt. Alexei Navalny hat gerade bitter für die Macht seines tiefgründigen Humors bezahlen müssen – bester Humor, und seiner war mehr als messerscharf. In der Weimarer Republik bediente sich Mühsam der Satire – bis die Marschstiefel ihn eingeholt hatten.

Seit 1998 leben Sie in Berlin. Hier sind Sie Mitglied der "Kunstlerhof"-Gruppe. Im Interview mit der Deutschen Welle erklären Sie, was Berlin für Sie so besonders macht: Statt sich "in so vielen blauen Himmeln zu verlieren" – bevorzugen Sie Berlin als einen Ort voller Dynamik. "Ein stimulierender Ort, der nicht bloß zum Entspannen taugt". Inwiefern bewegt Sie die Metropole  Berlin – emotional, künstlerisch, kulturell oder wie auch immer?
M.L.: Ich habe nie die allzu bequemen Mitte gemocht. Die betäubt. Ich habe das Leben am Rande der Gesellschaft immer genossen. Lange Zeit war Berlin nur einen Atemzug vom Rand entfernt. Als ich sieben Jahre nach dem Mauerfall hierher zog, hatte ich dieses Gefühl immer noch. Nächtliche Partys in verlassenen Fabriken, späte verrauchte Nächte in der Paris Bar, die Lizenz, zu sein, was und wer immer man sein wollte. Das Schöne an den Siebenundsechzig, ist, dass man mal hier, mal da große Teile seines Lebens verbracht hat. Ich bin immer wieder umgezogen, um etwas Neues auszuprobieren. Großstadt, Kleinstadt, ein neues Land. Die Berge, das Meer. Im Osten und Westen der USA und in Europa.

Gibt es noch andere Orte außer Berlin, die Sie als "Zuhause" bezeichnen würden?
M.L.: Wenn man genug Zeit an einem Ort verbringt, verlässt er einen nie und auch man selbst verlässt ihn nie wirklich. Man hat sein Leben dort reininvestiert, und das ist eine Investition, die weiter wächst. Ich war zweimal länger in Manhattan. Damals war's perfekt. Im West Village in den frühen 70er Jahren, ein kleiner Spaziergang auf dem Backsteinpflaster zum alten Waverly Theater an der Bleeker-Street. Später, vier Jahre oben im Pfarrhaus von "The Little Church Around the Corner" in der East 29th Street. Heimat trägt man im Herzen, ist doch so, und diese beiden sind immer noch da. Aber die Menschenmassen, der Lärm und das Gezerre um jeden Tisch oder jedes Taxi begannen mich langsam zu zermürben. Ich habe auch zweimal in London gelebt, das erste Mal als Theaterstudent, und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, wenn ich mich daran erinnere. Später drehte sich mein Leben dort zu sehr ums Geld. Geld sollte ein Werkzeug sein, kein Hauptmotiv. Palo Alto war so lange mein Zuhause, aber wenn man nicht gerade in der High-Tech-Branche tätig ist, ist das nicht der Weltmittelpunkt und ich bin ab und an lieber dort, wo  was los ist.   Mein Leben in Palo Alto wurde mir zu bequem, zu vorhersehbar. Und auch Cadaqués ist in gewisser Weise wie eine sehr kleine Stadt, in der man sich einfach in eines der Cafés setzt und früher oder später das Gefühl hat, dass die Welt zu einem kommt, vor allem Künstler aus aller Herren Länder, aber letztendlich ist es ein Dorf. Da brauche ich mehr Koffein.

Und Berlin, hat der Ort genug von diesem Koffein für Sie?
M.L.: Berlin bietet für mich das perfekte Tempo. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Es ist weltweit eine wichtige Metropole, aber die Gebäude überragen einen nicht übermäßig und man kann immer noch den Himmel sehen. Ich nutze das Netzwerk der Botschaftseinrichtungen hier – da ist immer etwas und jemand Interessantes – um einen voranzubringen. Meine Arbeit mit dem English Theatre Berlin hat sich gelohnt. Außerdem haben meine Frau Katarina und ich drei Kinder: Lukas, 14; Alex, 13 Jahre; und Katarina, 11. Katarina besucht hier die Staatliche Ballettschule. Dies ist eine großartige Stadt, um hier Kinder großzuziehen. Die Tatsache, dass sie so Multikulti ist, bedeutet, dass wir uns als Teil von etwas Größerem fühlen. Und wie ich der Deutschen Welle gesagt habe, fasziniert mich die Stadt als Schriftsteller. In der Zeitspanne von nur einem Leben hat sich Berlin von einer liberalen Weimarer Republik in Richtung Nationalsozialismus entwickelt,   zu einer Stadt, die durch eine Mauer geteilt ist, dann der Zusammenbruch dieser Mauer und hin zur Integration in eine Europäische Union, die noch im Werden begriffen ist. Als Sohn eines Historikers gefällt es mir ganz besonders, inmitten der geschichtlichen Ereignisse zu stehen. Im Auge des Hurrikans zu sein, ist natürlich noch etwas anderes- So oder so, die Aussicht von hier aus ist schön. Immer an vorderster Front.

Der Potsdamer Platz, das ehemalige "Waste Land", vom Krieg verwüstet und dann lange Zeit die vielen Kräne, ist für Sie jetzt "ein Symbol der Wiedergeburt Berlins", wie Sie gesagt haben. "Berlin war eine Stadt, die sich im Minutentakt neu erfand" – das betonen Sie in der Geschichte "Berlin-Warschau-Express". Würden Sie zustimmen, dass Berlin metaphorisch einem Menschen ähnelt, der ein neues Leben beginnt?
M.L.: Als ich hierher kam, habe ich immer noch getrunken – sehr viel. Ich konnte die Nacht nicht durchschlafen, ohne aufzuwachen, um an meiner Flasche zu nuckeln, den Tank aufzufüllen, bevor ich wieder ohnmächtig wurde. Ich wusste, dass ich zwei Möglichkeiten hatte: Mit dem Trinken aufzuhören oder zu sterben. Das englischsprachige AA in Berlin hat mich gerettet, mir geholfen, mich im Alter von siebenundvierzig Jahren neu zu erfinden. Das in einer Stadt zu tun, die sich neu erfunden hat, war ein großer Trost. Denn ich wusste, wenn eine Stadt und ein Land so viel verändern können, dann kann es auch ein Mensch.

Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie irgendwann, außer in Berlin, noch woanders auf diesem Globus heimisch werden?
M.L.: Ich kann nicht hellsehen. Aber das ist jetzt mein Zuhause. Basislager. Drei meiner vier Kinder sind hier geboren. So viele meiner Freunde sind hier, andere nur eine kurze Zugfahrt entfernt. Auf der Seite meiner Mutter Johanna sind beide Großeltern in Deutschland geboren, Nachkommen französischer Hugenotten, die im 17. Jahrhundert nach Preußen gekommen waren. Ich bin seit 21 Jahren da, wo ich jetzt lebe. Ich habe noch nie in meinem Leben so lange in einer Wohnung gelebt. Ich mag meine Nachbarschaft. Sollte es also einen Grund geben, umzuziehen, dann fällt mir keiner ein.

Michael, dürfen wir wissen, was Sie in naher Zukunft noch so vorhaben?
M.L.: Im weiteren Jahresverlauf  wird der Verlag PalmArtPress  eine Sammlung meiner Sachtexte mit dem Titel "Blood Oranges and Other Sticky Things" veröffentlichen. Das Buch enthält Essays und Interviews aus Europa und den USA sowie Artikel, die ich für "Politico" geschrieben habe, darunter "Berlin is No Longer an Island", über den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt 2016. Eines meiner Lieblingsinterviews handelt von Nachtzügen in Europa, die ich beim Reisen noch immer bevorzuge. Da gibt es siebzehn Essays, die ich für den Blog des "American Studies Journal" geschrieben habe, und etwa ein weiteres Dutzend, das jetzt zum ersten Mal veröffentlicht wird. Seit meiner Studienzeit führe ich auch ein persönliches Tagebuch. Einige dieser Einträge werden ebenfalls vorkommen.

Lieber Michael Lederer, vielen Dank für die Zeit, die Sie uns gewidmet haben. Es war für uns eine große Freude, Sie als Gast bei uns zu haben.  Sie haben uns tiefe Einblicke in Ihr Denken und Wirken gewährt. In ein Leben, das einen wichtigen Beitrag für die Kultur und die Gesellschaft leistet. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie viel Glück und gutes Gelingen für alles, was Ihrerseits geplant ist. Nochmals ganz herzlichen Dank für diese angeregte "Wort-Wörtliche Begegnung"!

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