Bundesfreiwilligendienst im multikulturellen Schmelztiegel

Hartmut Gering

Es war ein sonniger Vormittag im Mai, als sich gut 15 erwartungsfrohe Menschen vor der Mittelpunktbibliothek Adalbertstraße am U-Bahnhof Kottbusser Tor versammelten. Alle sind derzeit als Mitarbeiter im Bundesfreiwilligendienst beschäftigt, der seit 2012 auch im Kulturring in Berlin geleistet werden kann. Einmal monatlich gibt es für die „Bufdis“ einen Seminar- oder Bildungstag. So hat Karl Forster, unter anderem Mitarbeiter in der Redaktion des Kulturkalenders Marzahn-Hellersdorf, an diesem Tag zu einer Führung durch das Zentrum von Berlin-Kreuzberg eingeladen. Zu Recht wird dieses Gebiet als ein multikultureller Schmelztiegel bezeichnet, treffen doch hier auf engem Raum die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander.

Schon am Treffpunkt kann man an den zahlreichen Restaurants, Cafés, Clubs und Bars sehen, wie das Kreuzberger Alltagsleben auf eine bunte Kiezkultur trifft. „Die Gebäude hier am Platz repräsentieren die erste Sanierungsphase Kreuzbergs“, leitete Forster die Führung ein. „Weil sich Stadtplaner und Politiker radikal vom baulichen Erbe der Gründerzeit trennen wollten, wurden die Häuser hier mit einer beispiellosen Brutalität platt gemacht.“

Wenige Meter weiter, in der Dresdener Straße, geht es wesentlich beschaulicher zu. Und dabei sollten hier – ginge es nach den städtebaulichen Planungen der 1960er Jahre – tagtäglich zehntausende Autos auf der sogenannten Südtangente entlang brausen. Bedingt durch den Mauerbau, kam das Projekt eines Autobahnkreuzes am Oranienplatz glücklicherweise nicht zur Realisierung. So wurde die historische Bausubstanz erhalten und später behutsam restauriert.

Nach einigen Worten zur Geschichte der türkischen Zuwanderung, die sich bis ins späte 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, zeigte Forster linkerhand auf ein parkhausähnliches Gebäude – eine Kita! Tatsächlich als Parkhaus gebaut, hat sich dieses von Anfang an als überflüssig erwiesen, und so tummeln sich heute etwa 150 Kinder in der „Parkhaus-Kita“ mit ihrem wunderschönen Dachgarten. Rechterhand, in der Dresdener Str. 11, steht in einem begrünten Hof ein kleines Fachwerk-Häuschen. Heute Abstellplatz für Gartengeräte, befanden sich vor 100 Jahren hier vier Toiletten, was damals einerseits ein Luxus war, andererseits auf die erbärmlichen hygienischen Zustände hinwies, denn diese Einrichtung suchten auch unzählige Auswärtige auf.

Nun ging es zum Oranienplatz, wo sich, auch in dessen unmittelbarem Umfeld, Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Kaufhäuser und Geschäfte bekannter Firmen, wie Wertheim oder Leiser, niedergelassen hatten. So wurde die beiderseits des Platzes verlaufende Oranienstraße vor dem Krieg auch als „Kudamm des Ostens“ bezeichnet.

Weiter spazierte die Gruppe auf dem 1852 fertiggestellten und 1926 wegen mangelnden Verkehrsaufkommens und Geruchsbelästigung wieder zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal in Richtung Engelbecken. Auf dem Weg wies Forster auf zwei Gaststätten, die wegen ihrer Brathähnchen berühmt geworden sind: Die „Kleine Markthalle“ links und die „Henne“ rechts. Ein verblichenes christliches Kreuz an der Ecke Waldemarstraße verweist auf ein 1998 von den Aleviten gekauftes Gebäude, heute methodistische Kirche. Grundlagen der alevitischen Glaubensrichtung sind neben der Achtung der Natur auch die Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Nächstenliebe. Nahe dem Engelbecken thront auf einem Brunnen ein meditierender indischer Buddha. Von den Nazis 1942 eingeschmolzen, sitzt er heute, originalgetreu rekonstruiert, wieder an seinem alten Platz, inmitten des heutigen Rosengartens.

Was heute überhaupt nicht mehr zu sehen ist: An dieser Stelle trennte einst die Mauer die heutigen Bezirke Mitte und Kreuzberg. Der Weg führte nun weiter über den Bethaniendamm, vorbei an einem Kinderbauernhof an der Ecke Adalbertstraße. Ein 1981 auf Initiative von Besetzern der angrenzenden Mietshäuser am damaligen Mauerstreifen entstandener, tierisch idyllischer Flecken mitten im Häusermeer. „Fast 20 Jahre wehrten sich die Kinderbauern erfolgreich gegen eine Bebauung des Brachgeländes“, erklärte Forster.

Nur wenige hundert Meter weiter, wieder in der Oranienstraße, ist das historisch interessante Gebäude der ehemaligen Städtischen Blindenanstalt zu betrachten. Gleich nebenan: Das Haus der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, angrenzend an den Heinrichplatz, befindet sich der Club, der dem ganzen Kiez seinen Namen gab – SO36. Forster erläuterte den Teilnehmern die lange wechselvolle Geschichte des Hauses, das schon 1861 als Biergartenlokal eröffnet wurde und in dem heute regelmäßig Partys und Konzerte stattfinden.

Zum Ende der Tour stand eine Besichtigung der Umar Ibn Al Khattab-Moschee, direkt am U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof, auf dem Programm. Benannt nach einem frühislamischen Kalifen, erbaute sie der Islamische Verein für wohltätige Projekte zwischen 2004 und 2008. Der gut 1000 Gläubige fassende Gebetssaal mit seiner imposanten, zweigeschossigen Galerie vereinigt Baustile vieler Länder. Das Gebäude beherbergt außerdem Festsäle, eine Koranschule, Boutiquen, Cafés, sogar eine Fleischerei und einen Supermarkt. Im Untergeschoss war der Männer-Waschraum (u.a. Fußwaschung vor dem Gebet) zu besichtigen, und im 3. Obergeschoss konnten die Teilnehmer einen Blick auf die von einem Halbmond gekrönte Kuppel des Gebetssaales werfen. Abschließend entwickelte sich noch eine rege Diskussion über Wertvorstellungen der verschiedenen Glaubensrichtungen.

Nach fast drei Stunden Kultur kam langsam Lust nach Kulinarischem auf. So lud gleich auf der anderen Seite der Wiener Straße ein türkisches Restaurant zum Mittagessen ein. Wer nun aber denkt, dass es hier nur Döner, Börek oder türkische Pizza gibt, der irrt. In diesem Lokal kann sich der Gast frisch zubereitete türkische Gerichte schmecken lassen, wie zum Beispiel Lammhaxe mit türkischem Reis und Zaziki. Jeder stellte sich – natürlich nach „optischer Begutachtung“ – sein Menü, bestehend aus Hauptgericht und zwei Beilagen, individuell zusammen.

Wer nun immer noch nicht genug hatte von Kultur und Kulinarischem, konnte sich noch einem Spaziergang zum Türkischen Markt am Maybachufer anschließen und hier den Bildungstag bei buntem Markttreiben ausklingen lassen.

Für alle Interessenten seien an dieser Stelle schon mal die nächsten Themen und Termine für die Bildungstage genannt: Am 12. Juni führt Müller Jürgen Wolf durch die Bockwindmühle Marzahn, und am 31. Juli gibt es eine Besichtigung des Reichstagsgebäudes, inklusive der Kuppel.

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