In der C-Zone

Torsten Preußing

Mobiles Guggenheim-Lab besuchte den Stadtrand

Ein Linienbus auf Sonderfahrt. Er wurde von dem berühmten BMW-Guggenheim-Labor geordert, um in Berliner Stadtgebiete vorzudringen, wohin sich VIP-Panorama- und Sightseeing-Straßenschiffe kaum verirren. Die Idee dazu hatte Maurice de Martin, der von Hause aus Musiker ist, sich aber als transdisziplinärer Künstler versteht und als solcher auch als Professor in Bern den Taktstock schwingt. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass die Hochkultur das Eine, doch nicht das für jedermann Erschwingliche ist. Jedermann braucht aber einen Hauch Kultur, viele wollen auch selbst das ausüben, was wir unter Kunst verstehen, und nicht nur an zentralem Ort. So entstand de Martins Projektidee „C-Zone“, mit dem er „Guggenheim“ bereichern wollte. Inspiriert von den Berliner Zonentarifen A-B-C des Nahverkehrs, organisierte er Expeditionen in den tiefen Berliner Osten, um Spuren kulturellen Lebens auch in der Randzone zu finden. Und es hat geklappt, wie meine Bleibe im Ziehharmonika-Schwenkbereich beweist.

Marzahn eroberten sich die Gäste von der Riesen-Pyramide und dem 0RWO-Haus, also von der Landsberger Allee aus. Wobei hervorzuheben ist, dass die Geschichte dieser früheren Filmfabrik und der heutigen Musikfreaks, die sich nicht filmen ließen und deshalb immer noch ihre Studios und Übungssäle tapfer in Besitz halten, weitaus stärker interessierte und Anteilnahme erregte als der Renommierbau, der vor Jahren von der Fundus-Gruppe Köln errichtet worden war.

An der Feuerwache an der Märkischen Allee ging es noch „wie die Feuerwehr“ vorbei, aber an der Stelle, wo am 8. Juli 1977 die Montage der Häuser der größten zusammenhängenden Neubausiedlung Europas begann und wo ein Gedenkstein an die Namenspaten der „Allee der Kosmonauten“ erinnert – Valeri Bykowski und Siegmund Jähn – da hielt der Bus, und es konnte auch dem Anliegen Genüge getan werden, dem sich das Guggenheim Lab verschrieben hat: mobiles Labor zur Urbanität und urbanem Leben zu sein. Folglich ließen sich an dieser Stelle bestens alte wie moderne Aspekte des Städtebaus und der Städteplanung diskutieren. Namentlich das Modewort, das im Fremdwörter-DUDEN wohl nur in neuesten Ausgaben übersetzt wird – Gentrifizierung – tauchte beim Anblick der ersten Marzahner Hochhäuser auf Plattenbaubasis auf. Im Wortstamm befindet sich das englische Wort „Gentry“, das den „verarmten Adel“ meint, in der deutschen Anwendung aber noch weitaus tiefere Schichten im Auge hat.

Mit einer „lndoor out“-Ausstellung zu widersprüchlichen Prozessen des Stadtlebens hat die Galerie M an der Marzahner Promenade gerade ihren Neustart vollzogen. Leiterin Karin Scheel hatte deshalb viel zu erzählen über Gegenwart und Zukunft sowie ihr Ausstellungskonzept, das auf kostbare Exponate wie die großen Häuser in der Innenstadt nicht zurückgreifen könne. Ihr gehe es deshalb auch um die Präsentation der „Tageskunst“, der Werke junger Künstler, die ihre Ateliers in der Nachbarschaft haben, wohin sich auch der Lab-Zug begab.Ganz anders der Ansatz im Berliner Tschechow-Theater, wo die Prinzipalin Dr. Alena Gawron ein wahres Füllhorn theatralischer Möglichkeiten über die erstaunte Gästeschar ausgoss. Von deutsch-russischen Lese-, Spiel- und Lernprojekten für Erwachsene wie für Kinder (Studio „Sonnenschein“) berichtete sie ebenso wie über das kabarettistische Zugpferd und nicht zuletzt über die „Erbepflege“, besonders in Gestalt des Nachlasses vom Namenspatron Anton Tschechow. Dann betrat Nina Gaus die Bühne, diese wunderbare deutsche Frau aus Sibirien, der einst die bis aufs Blut und in den Krieg eskalierte deutsch-sowjetische Feindschaft die heimatlichen Wurzeln in der autonomen Wolgarepublik der Russlanddeutschen raubte. Mucksmäuschenstill lauschten die Guggenheim-Touristen ihrer Lebensgeschichte und zeigten sich am meisten verblüfft, dass ein Berliner Verwaltungsakt bestimmt hatte, dass sich Nina Gaus und ihre Landsleute nach ihrer Einwanderung aus Russland im 0stteil Berlins niederlassen durften.

Nach einer kurzen Transitfahrt durch Brandenburg, sprich Ahrensfelde, empfingen schließlich die „Himmelsschlüsselchen“ vom Kulturhochhaus an der Wittenberger Straße den „Lab-Tross“. Der labte sich an selbst gebackenem Kuchen und an der unvergleichlichen Gastfreundschaft von Marina, Susi, Erika und Elke. lm Empfangssalon mit seiner bizarren Atmosphäre aus „Tausendundeiner Nacht“ und „Einer trage des Anderen Last“ sah man viele staunende wie ungläubige Augen, dass hier Menschen auf selbstlose und originelle Weise ein Werk verrichten, das sowohl sozial aber auch kulturell seines Gleichen sucht. Marina Bikádi – die Hochhauschefin – wollte ihre Gäste nicht überfordern, legte eine CD ein und beschränkte sich in ihrer Begrüßungsrede auf markante Beispiele guter Taten von Betonia bis zum Alleinerziehenden-Projekt „Jule“, vom Blockhaus bis zum Kinderkeller: Und ihre Zuhörer, die sogar auf dem Fußboden saßen, schienen gebannt. Allerdings hatten sie zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstellung davon, was sie z.B. erwartete, wenn sie erst einmal mit dem Lift in die 10. Etage des elfgeschossigen Hauses der Wohnungsbauserie WBS 70/11 hinauf gefahren waren. Die Pensionen „11. Himmel“ und „Himmelhoch.c“ standen ihnen offen. Und als sie wieder unten waren, da waren es die offenen Augen der Besucher, die diesen Glanz trugen, den Kinderaugen beim Märchenhören oder -sehen versprühen. Es war der Zauber des Augenblicks, von einem kleinen Glück berührt worden zu sein. Schade, dass es abermals an Nordwestmarzahns Bewohnerschaft vorbeigeflogen ist.

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