100 Jahre Kantschule in Karlshorst

Michael Laschke

Das schnelle Wachstum der 1895 offiziell anerkannten „Kolonie Karlshorst“, in der sich, ganz im Gegensatz zu den ursprünglichen Erklärungen der Gründer, keine minderbemittelten Arbeiter ansiedelten, sondern vielfach mittlere Beamte und Kaufleute, Lehrer, Künstler sowie Gewerbetreibende, ließ bereits in der zweiten Hälfte des Gründungsjahrzehnts Forderungen nach Möglichkeiten für eine höhere Bildung der Kinder laut werden. Fräulein Elise Höfer eröffnete 1904 ihre „Höhere Schule für Mädchen“, die ein Jahr von Meta Horter weitergeführt wurde; bis 1909 in der Dönhoffstraße 9 und danach in der Wildensteiner Straße 7. In vier Klassen wurden Mädchen und Jungen unterrichtet. Ab 1908 zahlte die Gemeinde einen Zuschuss. Im Gegenzug hatte die Schule nach dem Lehrplan eines Reformrealgymnasiums in den Klassen VII bis V die Schülerinnen und Schüler für die Tertia vorzubereiten. Die Gemeinde übernahm 1912 die Hortersche Privatschule und integrierte sie in das Realgymnasium bzw. das Lyzeum, die 1912 eröffnet wurden. Damit können die Karlshorster in diesem Jahr den 100. Jahrestag ihres staatlichen Gymnasiums feiern.

Über ein eigenes repräsentatives Schulgebäude verfügten Gymnasium und Lyzeum allerdings noch nicht. Für ersteres entstand seit 1912 unter Bauleitung von Goger das Gebäude an der Treskowallee 8, an der Peripherie der Kolonie gelegen. So hatten auch die Friedrichsfelder Schüler keinen zu weiten Fußweg. Das stattliche, neoklassizistische Hauptgebäude war und ist nicht nur stadtbildprägend für Karlshorst, gewissermaßen eine Landmarke, sondern als überaus beliebtes Fotomotiv weithin bekannt. Der dreigeschossige Putzbau über hohem Sockel hat einen komplizierten, durch dreizehn Achsen gegliederten Grundriss. Die mittleren sieben Achsen sind durch ionische Kolossalpilaster zusammengefasst. Porträtreliefbilder von Luther, Schiller, Goethe, Kant, Stein, Gauß und Helmholtz schmücken die Fassade.

Weniger bekannt ist, dass erst 1919/20 in einem weiteren Bauabschnitt der Komplex nach Süden und entlang des Römerrings (heute Römerweg) erweitert wurde. Die Anschrift für das Lyzeum lautete danach Römerweg 2. Dieser Eingang in das Gebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen und viel später in die Gestaltung des Vorgartens einbezogen. Er befand sich etwa in der Mitte des Römerwegflügels und war durch die über drei Geschosse laufenden Kolossalpilaster, wie auch am Eingang Treskowallee, markiert. Die Schultür (schon Jahrzehnte durch ein Fenster ersetzt) war durch darüber liegende Schmuckelemente und seitliche Sockel gerahmt. An den früheren Eingang erinnert heute noch immer die Pflasterung des Baumstreifens gegenüber.1945 wurde die „Marie-von-Ebner-Eschenbach-Schule“ aufgelöst und das Kant-Gymnasium nach Rummelsburg verlegt. Seine Karlshorster Geschichte ist damit abgeschlossen.

Der Komplex wurde 1945 zunächst von der Sowjetischen Besatzungsmacht belegt, der zerstörte Flügel am Römerweg wieder aufgebaut. Auf Beschluss der Regierung der DDR wurde die 1950 neu gegründete Hochschule für Planökonomie in diesem Gebäudekomplex untergebracht. Es war die erste Neugründung einer Hochschule in Ostdeutschland. Die spätere Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ (HfÖ) hatte durch ihre große Zahl ausländischer Studierender einen hohen Anteil daran, dass über Jahrzehnte der Name des Berliner Ortsteiles Karlshorst internationalen Klang erhielt. Seit 1991 befand sich hier der zentrale Campus der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft (FHTW). Sie war im Zuge der Neustrukturierung der Berliner Hochschulen zunächst als Abteilung der Technischen Fachhochschule Berlin geführt worden und ist gegenwärtig als Hochschule für Technik und Wirtschaft die größte „University of Applied Sciences“ in Berlin.

Bei einer hundertjährigen Schulgeschichte ist allerdings nicht nur das Gebäude interessant, sondern ebenso das Leben in diesem: Geprägt durch ein Lehrerkollegium mit seinem hohen humanistischen Anspruch in drei Perioden deutscher Geschichte und den Lebenserwartungen vieler Generationen von Mädchen und Jungen. Über dieses „Innenleben“ der Kantschule berichten der Erzählkreis Karlshorst unter Leitung von Eva Badel und die Geschichtsfreunde Karlshorst im Kulturring in Berlin e.V. in einer gemeinsamen Veranstaltung am 12. Juni 2012 um 19 Uhr im Kulturhaus Karlshorst. Bisher noch nicht veröffentlichte Zeitzeugenberichte, Dokumente und Bilder lassen einen interessanten Abend erwarten. Sie sind herzlich eingeladen.

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