KulTour: Filmstadt Weißensee – Von Joe May zu Caligari (I)

Steffen Wagner

Die Geschichte der Filmkunst und des Kinos ist untrennbar mit der Stadt Berlin verbunden. Die Brüder Skladanowsky aus Berlin-Pankow galten mit ihrer 1895 öffentlich vorgestellten Projektionstechnik „Bioscop“ als Pioniere des Kinos. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in und um Berlin zahlreiche Filme produziert, die Filmgeschichte schrieben. In dieser Zeit brauchte die Stadt den Vergleich mit Hollywood nicht zu fürchten. Neben den Studios in Potsdam-Babelsberg – die seit nahezu 100 Jahren Filme herstellen – waren die Ateliers in Berlin-Weißensee zwischen 1913 und 1928 ein wichtiger Produktionsstandort.

Die Tatsache, dass Weißensee ein herausragendes Zentrum deutscher Stummfilmproduktion war, geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Heute zeugen nur noch wenige Orte von der aufregenden und ruhmreichen Vergangenheit des Stadtteils. Diese Tour folgt dem versunkenen Mythos „Filmstadt Weißensee“ und lässt Studios, Kinos, Stars, Regisseure, Figuren und Geschichten wieder auferstehen. Eine spannende Reise in die Welt des Stummfilms.

Wir starten unsere Tour an der Bushaltestelle Berliner Allee Ecke Rennbahnstraße (Bus 156 ab S-Bahnhof Prenzlauer Allee). An der Fassade des Wohnhauses Berliner Allee 249 verweist eine Gedenktafel auf die bewegte Geschichte der Filmstadt Weißensee, die 1913 an diesem Ort ihren Anfang fand. In der Gründerzeit ihres Handwerkes genügten den Filmschaffenden Dachateliers in der Berliner Innenstadt. Doch schnell wurden die Geschichten komplexer, die Anforderungen an die Kulissen wuchsen, man brauchte mehr Platz. Die Filmfirmen zogen in die Vororte – dort waren die Grundstückspreise noch erschwinglich – die Deutsche Bioscop Gesellschaft ging nach Nowawes (heute Babelsberg) und die Deutsche Vitascope Gesellschaft ließ sich in Weißensee nieder. Der Abrissunternehmer Paul Köhler verpachtete der Vitascope ein Grundstück in der Franz-Joseph-Straße 5-7 (heute Liebermannstraße) und ließ ein Filmatelier nebst Bürogebäude errichten. Ab Oktober 1913 begann die Filmgesellschaft in Weißensee mit der Arbeit. Schon der erste Film aus den neuen Studios „Der Hund von Baskerville“ (1914, Regie: Rudolf Meinert) war laut Presse ein „sensationeller Erfolg“. Der Krieg verunsicherte zunächst die stets international ausgerichtete Filmindustrie. Mit Beginn des 1. Weltkrieges wurden ausländische Filme von deutschen Leinwänden verbannt. Für die Geschäfte deutscher Filmunternehmer bedeutete die fehlende Konkurrenz ökonomischen Gewinn, weil die Nachfrage nach deutschen Werken sprunghaft anstieg.

Von der Berliner Allee wenden wir uns nach links in die Liebermannstraße und treffen nach ca. 100 Metern auf ein rotes Backsteingebäude mit leicht angeschrägten Dächern und einem Bürotrakt im Eingangsbereich. Wir stehen vor einem Filmstudio – ein Erweiterungsbau der ersten Studios Berliner Allee Ecke Liebermannstraße – in dem u.a. der berühmte Monumentalfilm „Das Indische Grabmal“ (1922, Regie: Joe May; Drehbuch Fritz Lang) gedreht wurde. Während die zuerst errichteten Filmstudios an der Berliner Allee nach dem Konkurs der Produktionsfirmen 1929 einer Wohnbebauung weichen mussten, blieb das Ateliergebäude in der Liebermannstraße 24-28 bis heute erhalten. Auch hier wurden seit 1926 keine Filme mehr gedreht, nachdem der Produzent und Regisseur Joe May (May-Film) finanziell ruiniert war. Das Gebäude diente in der Folgezeit als Wäscherei und Färberei – derzeit haben sich auf dem Gelände verschiedene Gewerke angesiedelt: Handwerker, Künstler und Designer nutzen heute die lichtdurchfluteten Räume.

An dieser Stelle seien noch einige Informationen zu den Persönlichkeiten gegeben, die den Mythos der „Filmstadt Weißensee“ begründeten und häufig später Weltruhm erlangten. Fritz Lang debütierte als Regisseur in Weißensee – der Film „Halbblut“ (1919) gilt heute als verschollen – erste Achtungserfolge errang Lang mit dem 2-teiligen Abenteuerdrama „Die Spinnen“ (1919-1920). Auch die berühmteste deutsche Schauspielerin des 20. Jahrhunderts, Marlene Dietrich, begann ihre Filmkarriere in Weißensee. 1922 spielte sie an der Seite von Mia May, Emil Jannings und Curt Goetz eine Nebenrolle in „Tragödie der Liebe“. Der bekannte Regisseur G.W. Pabst drehte mit „Geheimnisse einer Seele“ (1926) in Weißensee einen „psychoanalytischen Film“. Die Berliner Chanson- und Kabarettkönigin Claire Waldoff wirkte in „Mieze Strempels Werdegang“ (1915) als Schauspielerin mit. Der in den Zeiten der Weimarer Republik äußerst populäre Darsteller, Regisseur, Autor und Produzent Harry Piel realisierte mit „Panik“ 1928 den letzten Film in den Weißenseer Filmstudios. Besonders Piels Actionszenen revolutionierten damals das Kino.

Wir setzen unsere Tour fort und treffen links auf die Parkstraße. Der begrünte Platz an der Kreuzung Liebermannstraße / Parkstraße trägt den Namen des Impressarios der Weißenseer Filmproduktion: Joe-May-Platz. Wie kein anderer prägte der in Wien gebürtige Jude Joe May (eigentlich: Julius Otto Mandel) das Filmschaffen in den Weißenseer Ateliers. Als Produzent, Regisseur und Autor war May omnipräsent – nach einer bewegten Laufbahn mit Gelegenheitsjobs (Autoverkäufer, Operettenregisseur) fasste er 1912 in der Filmbranche Fuß. Zunächst wurde May mit den Detektivfilmen der Stuart-Webbs Serie berühmt, die sich während der Kriegsjahre 1914-1918 großer Beliebtheit erfreuten. Nach dem Ende des Kaiserreichs realisierte May Monumentalfilme wie „Veritas vincit“ (1919) und „Das indische Grabmal“ (1921/22), die den Vergleich mit Großproduktionen aus Hollywood nicht scheuen brauchten. In Woltersdorf bei Berlin ließ der Geschäftsmann die „May-Filmstadt“ errichten, um unter freiem Himmel raumgreifende exotische Kulissen nutzen zu können. (Überreste „indischer Tempel“ kann der aufmerksame Spaziergänger noch heute bei Woltersdorf entdecken.) Nach dem finanziellen Aus für seine eigenen Filmgesellschaften arbeitete May hauptsächlich für die UFA, 1933 ging May – wie zahlreiche wichtige deutsche Filmschaffende – in die Emigration. Trotz einiger Achtungserfolge konnte er in Hollywood (nach der Umstellung auf den Tonfilm 1929) nicht wirklich Fuß fassen. In seinen letzten Lebensjahren (er starb 1954) waren May und seine Frau, die Schauspielerin Mia May, auf die finanzielle Unterstützung seiner Freunde (u.a. Otto Preminger und Robert Siodmak) angewiesen.

Joe May war eine herausragende Persönlichkeit der Stummfilmära, er gilt als Erfinder des deutschen Monumentalfilms und realisierte (in der kurzen Zeitspanne von 16 Jahren) 94 Stummfilme.

Wir verlassen nun die geschichtsträchtigen Orte und wandern die Parkstraße entlang in Richtung des Zentrums von Weißensee. Hier erschließt sich der ländliche Charakter des Stadtteils, der erst 1920 ein Teil Berlins wurde und bis heute einen dörflichen Charme bewahrt hat. Typisch für Weißensee sind die flachen, meist nur ein- oder zweistöckigen Wohnbauten, Bäume säumen die Straßen. Bis zum heutigen Tag ist Weißensee der einzige Stadtteil Berlins, der nicht mit der U-Bahn zu erreichen ist. Die S-Bahn fährt nur die Vororte Blankenburg und Karow an. Auf Höhe der Blechenstraße werfen wir links einen Blick auf den Ort, der dem Stadtteil seinen Namen gab: Der Weiße See. Die Parklandschaft, die den See umgibt, ist einen Abstecher wert. Bei Anwohnern und Besuchern ist der Weiße See als Oase der Erholung und als Treffpunkt sehr beliebt. Doch unsere Tour „Filmstadt Weißensee“ führt uns weiter auf der Parkstraße, bis sie nach einem scharfen Linksknick in die Berliner Allee mündet.

Die Berliner Allee ist die zentrale Straße im Stadtteil Weißensee, ihr Verlauf hat sich seit dem Mittelalter nicht mehr verändert. Sie diente als Fernhandelsweg zwischen Berlin und Bernau, das Dorf Weißensee profitierte lange Zeit vom Warenhandel und dem kontinuierlichen Ausbau des Verkehrsweges. Heute ist die Berliner Allee eine belebte Einkaufsstraße mit recht flacher Wohnbebauung, die in der Gründerzeit entstanden ist.

Unser Weg führt uns geradeaus zum Antonplatz. Der Begründer des städtischen Weißensee, Gustav Adolf Schön, benötigte für seine Bodenspekulationen frisches Kapital, sein Bruder Anton Matthias Schön unterstützte ihn finanziell. Ihm zu Ehren bekam der Platz 1874 den Namen Antonplatz.

Das ungewöhnliche „Wohnhaus mit Lichtspieltheater“ und der Schriftzug des Kinos Toni zieht die Aufmerksamkeit auf sich. In den 20er Jahren gab es an dem belebten Stadtplatz sieben Lichtspielhäuser, heute ist einzig das Toni übrig geblieben. Im September 1920 wurde das Kino am Antonplatz mit 700 Plätzen unter dem Namen „Decla-Lichtspiele“ eröffnet, später hieß es bis zum Kriegsende „UFA-Theater“. Die sowjetische Militäradministration enteignete die UFA und übergab das Kino 1947 dem Privatinvestor Herbert Bendel, der das Toni bis 1979 betrieb. (Bendel war der letzte private Kino-Pächter im Ostteil Berlins.) Nach der Schließung des Kinos durch die Staatliche Bauaufsicht übernahm die Bezirksfilmdirektion Berlin das Toni und eröffnete es nach einem grundlegenden Umbau (der Saal hatte nur noch 277 Plätze, es gab eine Bühne für Theateraufführungen, das Foyer wurde großzügiger) 1982 als Premierenkino. 1992 erwarb der Filmregisseur Michael Verhoeven das Toni von der Treuhand und ließ einen zweiten Kinosaal (Tonino) einrichten. (Nach einem Brand im Jahr 2007 wurde das Kino erneut komplett saniert.) 2010 diente das Toni – in Anerkennung für ein engagiertes und anspruchsvolles Programm – als Spielstätte für die Berlinale. Verhoeven, der inzwischen auch das „Filmtheater am Friedrichshain“ betreibt, gilt als wichtiger deutscher Filmregisseur, der sich häufig mit politischen und historischen Themen auseinandersetzt. Sein Film „Das schreckliche Mädchen“ erhielt 1990 eine Oscar-Nominierung als bester ausländischer Film.

Am Kino Toni endet der erste Teil der Tour durch die Filmstadt Weißensee. Die Fortsetzung der Entdeckungsreise finden sie in der nächsten Ausgabe der KULTUR NEWS.

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