Vielstimmige Erzählung

Aninka Ebert

Sechs neue Überlebensgeschichten in der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“

136 biografische Alben von ehemals jüdischen Bewohnern im Bezirk Tempelhof-Schöneberg sind in den sieben Jahren seit Bestehen der Ausstellung entstanden. Sie erzählen ganz bewusst von deren ganzen Leben und fokussieren nicht nur die Jahre der Verfolgung und Ermordung. Dieser konsequent biografische Ansatz war für die Senatsverwaltung für Kultur das Argument, die Ausstellungsinstallation für zwei Jahre auf den Weg zur Dauerhaftigkeit zu bringen.

Die Ganzjährigkeit macht den Besuch inzwischen auch für Menschen möglich, die von weit her kommen. So für die Amerikanerin Gertrud Bloch, die ein Album über sich und ihre Schwester anregte. Der Autor ist Piet Faber aus Holland, dessen Eltern die beiden Schwestern versteckten, bis sie in die USA auswandern konnten. Überleben durch Auswanderung konnte auch Hellmut Stern, bis er über China nach Israel und USA schließlich 1961 nach Berlin zurückkehrte und erster Geiger der Berliner Philharmoniker wurde. Die Künstlerin Gertrud Sandmann konnte durch den Mut ihrer Freundinnen versteckt in Berlin überleben. Ihr Familienalbum erinnert auch an ihr couragiertes Engagement in der Frauenbewegung. Das Engagement Kurt Balls, der nach Folterung und Verschleppung in das KZ Sachsenhausen mit seinem Bruder nach Palästina auswandern konnte, ist auch im Kontext dieser Ausstellung bemerkenswert. Als Kurt Jacob Ball-Kaduri begann er schon 1943 mit einer Sammlung von Zeitzeugenaussagen, die den Grundstein für die Nationale Gedenkstätte Yad Vashem in Israel legte.

Die Erinnerungsarbeit, auf die sich immer wieder die Ausstellung anregt einzulassen, findet eine besondere Form im Album der Zeitzeugin Marion House. Nachdem sie letztes Jahr im Rahmen des Jugendprojekts „Gesicht zeigen“ in der Rückert-Oberschule gesprochen hatte, schrieben die Jugendlichen Texte zum Thema „Was hätte ich getan?“ Diese einfache Frage gibt der Vergangenheit eine besonders für Jugendliche begreifbare Aktualität. Denn sie bedeutet nichts anderes als das „Was tue ich, wenn....“, was in jüngerer Zeit so oft rund um das Thema „Eingreifen bei Übergriffen“ diskutiert wurde.

Dass die Ausstellung sich aus baulichen Sicherheitsgründen jetzt in neuen Räumen präsentieren muss, ist ein atmosphärischer Verlust, und es bleibt zu hoffen, dass es nur vorübergehend ist. Dennoch ist der neue Ort repräsentativ geblieben, nämlich im Sinne eines Bedeutungszuwachses aufgrund seiner Präsenz direkt im Eingangsbereich des Rathauses. Auch das stimmt die Nostalgiker milde, vor allem aber die Erleichterung darüber, dass alle Ausstellungselemente Platz gefunden haben. Die Reminiszenz an das vormals vertraute, blau getönte Tageslicht bilden die mit durchlässigem Stoff abgehängten Fenster, auf denen historische Gebäude des Bezirks Bezugspunkte zur Ausstellung herstellen. Es ist also ein weiteres Element hinzugekommen.

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