Ein Schatz wurde gehoben

Hannelore Sigbjoernsen

Nicht immer macht geschulte Vortragskunst ein großes Erlebnis aus. An diesem Abend im Oktober 2010 in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Pankow-Niederschönhausen, in der seit einigen Jahren der Kulturring Mitveranstalter der „Schönhauser Lesungen“ ist, war es vor allem der Inhalt der Dokumente, aus denen Bildhauerin Evelyn Hartnick-Geismeier vortrug, der fesselte.

Nie zuvor waren sie bisher an die Öffentlichkeit gelangt. Stunden davor waren sie erst fertig vom Handschriftlichen in den Computer übertragen, damit daraus vorgelesen werden konnte: Briefe eines 17jährigen jungen Mädchens, das sich 1948 - aus der Kleinstadt Finsterwalde kommend – im noch kriegszerstörten Leipzig an der Kunstgewerbeschule bewirbt, um der Mission des Vaters zu folgen. Er war Maler und wurde - gerade 41 Jahre alt - in den letzten Kriegstagen von sowjetischen Scharfschützen getötet. Sie, die Tochter Evelyn, wollte ebenfalls malen können – koste es, was es wolle.

Beim Hören der fast täglich an ihren damals in Hamburg studierenden Freund geschriebenen Briefe hatte man den Eindruck, dass es die Kraft eines Herkules gekostet haben muss, allen Hindernissen zum Trotz das gestellte Lebensziel zu erreichen und Künstlerin zu werden.

Schon mit der Aufnahme an der Schule lief alles gegen sie. Die sorgende Mama hatte das Mädchen für die Prüfungstage mit einem Veilchenhütchen mit Schleier ausgestattet, wie sie selbst schrieb. Ihre Bewerbung stand auf einem Kopfbogen der winzig kleinen, von der Großmutter betriebenen Zigarrenfabrik. Die Mutter hatte den eigenen Bildungsweg mit „Höhere Töchterschule“ angegeben und wollte damit beeindrucken. – Voraussetzungen, um im damals proletarisch orientierten Ostdeutschland sofort als „Fabrikantentochter“, als „bürgerlich“ abgestempelt zu sein und keine Studienchance zu bekommen. Max Schwimmer war es, der sich des Mädchens annahm, das nach dem Ablehnungsbescheid der Verzweiflung nahe war, und in ihrer Bewerbungsmappe das Talent entdeckte.

Dann aber begannen während ihrer Leipziger und Berliner Studienjahre 1948 bis 1956 erst die eigentlichen Auseinandersetzungen zwischen Politikdrill und Kunststudium. Es war Nachkriegszeit, die Zeit des Kalten Krieges, der offenen Sektorengrenzen und verwirrender Kontraste zwischen Ost und West.

Viele Briefe entstanden bei Kerzenlicht, wurden auf Schulheftseiten, auf Packpapier geschrieben. Aus Finsterwalde mussten Kohlen mitgeschleppt werden. Die vom Freund geschickte „Westseife“ wurde wie ein Schatz gehütet. Sie berichtet über Ängste, die sie während eines Hochschullehrgangs erlebt, in dem sie endlich die „Deutsch-Sowjetische-Freundschaft“ lernen soll und den Tod des geliebten Vaters vergessen. Das von ihr, in einsamer Wut auf die gelehrte sozialistische Kunsttheorie umgeschriebene Märchen der Gebrüder Grimm vom Schneewittchen und den sieben Zwergen, in dem am Ende der Volkspolizist und das zum Sozialismus bekehrte Schneewittchen heiraten, spricht für sich.

Sie berichtet ihrem Freund aber auch von vielen bewegenden Momenten großer Hilfsbereitschaft, die sie durch Lehrer und Kommilitonen erfahren hat - von heute zum Teil berühmten Künstlern der „Leipziger Schule“ und von Berliner Kollegen.

Nun endlich, da sich die gesamtdeutsche Kunst auch zu ihrer „Ostgeschichte“ und ihren Protagonisten wie Schwimmer, Heisig, Tübke u.a. bekennt, sind diese persönlichen Schriften der seit 53 Jahren in Berlin-Pankow lebenden Bildhauerin Evelyn Hartnick-Geismeier von besonderem Wert. Neben der Widerspiegelung des Alltäglichen legen sie Zeugnis darüber ab, welcher persönlichen Anstrengungen und Kämpfe es bedurfte, sich gegen eine künstlich geschaffene Lehre, gegen den postulierten „sozialistischen Realismus“, mit einer eigenen humanistischen Kunstauffassung durchzusetzen.

Gut wäre es, könnte dieser Briefschatz eines Tages gedruckt werden und als Buch erscheinen.

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