Summe ich die weiße Fahne

Jörg Weidler

Was weiß ich schon von Dichterinnen? Nicht viel. Zum Beispiel Charlotte Grasnick.

B. Stein schrieb in seinem Nachwort „Wenn etwas in uns glüht…“ der im Berliner Verbrecherverlag herausgegebenen Gesamtausgabe ihrer Gedichte, illustriert von Prof. Dieter Goltzsche: „Dass sie sich nicht nur bestens mit den Künsten und besonders in der Literatur auskannte und ein sicheres Gespür für Gelungenes wie auch Misslungenes hatte, sondern selbst seit früher Jugend Gedichte schrieb, das wusste ich lange Zeit nicht.“

Bin ich wenigstens nicht allein.

Bekannt aus der DDR war mir ihr Mann, Ulrich Grasnick. Aber Charlotte? Das änderte sich nach einem Gespräch mit ihr und Gedichten bei einer Lesung von ihr vor einigen Jahren. Warum also sind Dichterinnen so unbekannt? Obwohl sie doch mindestens genauso gut sind wie ihre Dichterkollegen? Wegen des Patriarchates und weil Frauen weniger wert sind als Männer? Oder liegt das an der Überlieferung, weil es ein Männerberuf ist, Dichter zu sein? Charlotte Grasnick hat ein bedeutendes lyrisches Werk hinterlassen. Die Liebesgedichte stellen dabei das Rückgrat dieses Werkes dar.

Während der Buchvorstellung im Club in der Ernststraße 14-16 am 30.03.2010 lagen Erinnerung und Traurigkeit über den ungefähr fünfzehn Köpfen, die andächtig zuhörten bei den von U. Grasnick ausgesuchten Gedichten aus dem Buch „So nackt an Dich gewendet“ (Herausgeber B. Stein) und zwei Erzählungen von ihr. „Erinnerung und Traurigkeit“ machten sich breit, weil Charlotte Grasnick leider im April des vergangenen Jahres verstarb. „Muss denn so etwas erst geschehen, um zusammen zu kommen wegen der Gedichte von ihr“, fragte mich eine Bekannte von ihr. Und wegen dieser eingangs genannten Fragen, behaupte ich.

Es waren nicht alle Dichterinnen so berühmt und mutig wie die „Kindfrau“ Bettine von Arnim, deren 225. Geburtstag wir am 04.04.begingen. Aber mutig war Charlotte schon. Sie war eine kraftvolle Frau. In den Gedichten wie auch in ihrer späten Prosa, die uns Frank Büttner vorlas, war nicht der zweite Weltkrieg überraschenderweise ihre maßgebliche Erinnerung, sondern der plötzliche Umbruch an seinem Ende war ihre größere Irritation. „Die weiße Fahne, die ein Bauer, um das Dorf zu retten, einem Spähtrupp der Amerikaner entgegen trug, blieb für Charlotte ein Motiv, das über die tatsächliche Situation des mit dem Gefühl der Befreiung wie auch der Niederlage behafteten Kriegsendes hinauswies.“ ( B. Stein: Nachwort. „Wenn etwas in uns glüht…“)

Für die tatsächliche Situation brauchte es eine freie, starke Stimme, die Charlotte Grasnick besaß. Eine furchtlose, tapfere und geistreiche Frau, diese Ch. Grasnick, die von den Realitäten ausging, die sich nicht vom Gefühl der Befreiung oder der Niederlage leiten ließ. Man hatte den Eindruck, so B. Stein, dass sie viel von der männlichen Präsenz ausging, dass sie gerne ein wenig am Rande stand, einen Schritt zurück trat, um die Männer glänzen zu lassen. Das ist eine Beziehung zu ihrem Ehemann und den beiden erwachsenen Söhnen und ist ein Psychogramm von Charlotte Grasnick.

Frau ist immer etwas leiser, deshalb hören wir sie nicht immer. Das spricht für ihre Ehrlichkeit, Tapferkeit und Klugheit. Sie ist angepasster, weiser. Kompromissbereiter. Bereit, die Niederlagen zuzugeben, die wir uns bzw. 6 andere einhandeln. Das ziehe ich aus ihren Gedichten und Erzählungen.

So sollte jeder Mensch sein. Egal, ob Mann oder Frau, das ist auf jeden Fall meine Meinung.

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