Kinder, wie die Zeit vergeht.

Wolfram Haack

Als Concerto Brandenburg 1998 das Licht der Welt erblickte, war es ein turbulentes Jahr mit bis heute spürbarer Nachwirkung: Dem Kabarett geht unwiederbringlich die dickste Birne verloren, Pinochet wird in London festgesetzt und wieder frei gelassen, die Feldlerche ist Vogel, die Wildbirne Baum, die Unke Tier des Jahres; in Belfast und Dublin bestätigen Referenden das Karfreitagsabkommen. Viktor Orbán wird Ministerpräsident in Ungarn, Jelzins Russland taumelt in den Staatsbankrott, Ariel Scharon wird israelischer Außenminister, Bulgarien schafft die Todesstrafe ab, das kanadische oberste Gericht erkennt den Rechtsanspruch der Ureinwohner auf ihr vor der Ankunft der Europäer besiedeltes Land an. Beim ICE-Unglück von Eschede finden 101 Menschen den Tod; über die Ponte Vasco da Gama, die in Lissabon auf siebzehn Kilometern den Tejo überspannt, rollt erstmals der Verkehr, und eine Handvoll junger Musikerinnen und Musiker aus Ost und West beschließen zusammen, historisch informiert zu musizieren.

Die Entscheidung, ein Jahr drauf zum Kulturring in Berlin zu stoßen, hatte neben vielen praktischen auch bürokratische Gründe, zum Beispiel, dass die daraus resultierende Rechtsform des jungen Ensembles den Musikerinnen und Musikern unter dem Dach des Vereins mehr Zeit für die eigentliche, die künstlerische Tätigkeit einräumte. Concerto Brandenburg wurde in kürzester Zeit ein gefragter Klangkörper und war bald in aller Munde und Ohren. Zum zehnjährigen Jubiläum konstatierte Franziska Mönch in den „Kulturnews“: „Bis heute fühlen sich Koryphäen der nationalen und internationalen Konzertszene wie Christine Schornsheim (Hammerklavier), Doerthe-Maria Sandmann (Sopran), Alexander Bader (Klarinette) … dem Orchester verbunden …“

2004 besuchte Elisabeth II. Berlin. Concerto Brandenburg spielte für das Oberhaupt des Commonwealth im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums auf. Zwei Jahre zuvor hatten MusikerInnen des Ensembles den damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau auf Staatsbesuch in Spanien begleitet und spielten historisch informiert vor Juan Carlos I. Das war im Sommerschloss El Pardo, in dem bis 1975 der frühere Gönner des Königs, der Diktator Francisco Franco residiert hatte. 2007, in Kataloniens Hauptstadt Barcelona, konzertierte Concerto Brandenburg im ungleich moderneren „Palast der katalanischen Musik“ in Barcelona, wo 1936 mitten im Bürgerkrieg während des „kurzen Sommers der Anarchie“ Alban Bergs Violinkonzert postum uraufgeführt wurde. Nun standen in diesem Musikpalast aus Glas und Gleichheit die Solistinnen Martina Dallmann und Sarah Christ mit Concerto Brandenburg auf der Bühne und musizierten Haydns Konzert für Flöte und Harfe.

„Eines der Erfolgsrezepte von Concerto Brandenburg bleibt seine musikalische Vielseitigkeit“, schrieb Mönch. Kluger Schachzug oder glücklicher Zufall, das trifft bis heute nicht nur auf die musikalische Praxis des Orchesters zu. Concerto Brandenburg ist sich im besten Sinn auch mit seiner musikpädagogischen Vermittlungsarbeit treu geblieben, immer hart am Publikum. Das ist auch der Unermüdlichkeit der Vermittler geschuldet. So trug auch die zweimalige Zusammenarbeit mit dem langjährigen Vorsitzenden des Philharmonischen Chores Berlin Michael Seyffert für Concerto Brandenburg reiche Früchte. 2015 zeichnete ihn der Chorverband Berlin mit der Geschwister-Mendelssohn-Medaille für sein Lebenswerk aus. Der Kulturring hat jede Zusammenarbeit mit Concerto Brandenburg nach Kräften gefördert. Angefangen hat das ausgesprochen früh – schon für die Programme der ersten Silvester-Festkonzerte zeichnete der Kulturring als Veranstalter verantwortlich. Von 1999 bis heute ist das so geblieben. Mit Unterbrechung der Coronajahre 2020 und 2021 werden sie in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche kontinuierlich einem breiten Publikum präsentiert. Ein Stein, auf den man bauen kann, ist auch Petra Hildebrand-Wanner, die mit ihrer Agentur „Auris Musikmanagement“ schon lange Entscheidendes beiträgt zum Gelingen der Silvester-Festkonzerte.

Jenseits werblicher Erklärungsversuche meint „Alte Musik“ mehr als Darmsaiten, ventilloses Blech und historische Stimmungen, nämlich Aufklärung. Zu deren Avantgarde gehört Concerto Brandenburg spätestens seit 2003, als das Beethoven-Projekt zusammen mit den Neubrandenburger Philharmonikern und Jörg-Peter Weigle, dem künstlerischen Leiter des Philharmonischen Chores Berlin, Gestalt annahm. Aufeinanderfolgend konnte erstmals ein bei weitem nicht klassik-affines Publikum die neun Sinfonien Beethovens in historischer und heutiger Aufführungspraxis in kurzen Abständen miteinander vergleichen. Das war wirklich Neuland.

2014 wurde der Kulturring in Berlin ­zwanzig Jahre alt. Im alten Kulturforum Hellersdorf wurde gefeiert. Illustre Gäste wie ­Petra Pau, damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Kai Wegner, damals noch nicht Regierender Bürgermeister, und viele mehr machten ihre Aufwartung und gratulierten. Concerto Brandenburg spielte in Hellersdorf ebenso selbstverständlich wie vor Königin Elisabeth und König Juan Carlos live. Große Oper eben. Auch darin hatten die MusikerInnen Übung. Spätestens seit dem legendären Theatersommer 2008, im Opernorchester der Don Giovanni-Inszenierung des Goethe-Theaters Bad Lauchstädt.

2016, im „annus horibilis“ mit den Terroranschlägen in Brüssel, Nizza und auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin, zu Füßen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, standen genau dort Proben zum Silvester-Festkonzert an. Der Schock erreichte alle. Der Solist sagte ab. Im Juni „der Welt abhanden gekommen“ als Orchester in Residenz bei der Eröffnung des Skulpturenparks Wesenberg in Mecklenburg, im Dezember Trauer und Unsicherheit der noch einmal Davongekommenen. Es lag nahe, das Konzert abzusagen. Doch von den gut eintausend verkauften Konzertkarten wurden nur ganze vier zurückgegeben. Concerto Brandenburg nahm die „Mauerische Trauermusik“ von Mozart ins Programm, der Countertenor Eric Jurenas sprang kurzfristig als Solist ein, der Dirigent Christian-Friedrich Dallmann fand die richtigen Worte der Anteilnahme. Concerto Brandenburg widmete dieses Konzert dem Frieden, der Vernunft und der Versöhnung. „Geschöpf-Titan-Mensch“, Silvester 2019 feierten wir zusammen mit unsrem treuen Publikum voller Vorfreude auf seinen 200. Geburtstag ­Ludwig van Beethovens „­Eroica“ und seine Prometheus-Musik, lyrisch gepaart mit Kästner und ­Goethe.

Und schon schreiben wir 2024. Das Orchester hat viele neue junge Gesichter und ­Concerto Brandenburg einiges vor. Gleich im März Oper. Erst in Minimal-Besetzung Henry Purcells „Dido und Aeneas“ im „Jugendkulturzentrum Pumpe“, Karfreitag und Ostersonntag Christoph Willibald Glucks „Iphigenie in Aulis“ bei den Osterfestspielen im Schloss­theater Rheinsberg. Im Wonnemonat Mai gibt es Beethovens „Missa solemnis“ in der Philharmonie und im Juli die Wiederaufnahme der „Iphigenie“ an frischer Luft – im reizvollen Heckentheater des Schlossparks Rheinsberg.

Uns allen im Kulturring ein kultur- und glückvolles Jubiläumsjahr!

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