Kulturring im dreißigsten Jahr

Ingo Knechtel

Wie war es damals, Ende 1990? „Wir Kulturbund-Mitglieder in der Prenzlauer Allee 72 weigerten uns, alles zu bewegende Gut, unter anderem Schreibmaschine und Mitgliederkartei, in der Bezirksgeschäftsstelle abzuliefern, schon gar nicht die Schlüssel für die Einrichtung. Wir hätten sogar eine Mahnwache einrichten wollen, damit niemand unerlaubt in unsere Räume eindringt.“ So erinnert sich unser Vorstandsmitglied Hannelore ­Sigbjoernsen an die Stimmung im Jahr der Einheit. Was war geschehen in dieser wilden Zeit, nur wenige Jahre vor der Gründung des heutigen Kulturrings in Berlin? Zum Ende der DDR schien auch manches am Ende, was ein solches nicht verdient hatte. Im Kulturbund musste niemand Mitglied sein, er war Nische und Heimat zugleich für viele, die ihren Interessen nachgehen, gemeinschaftlich kreativ sein, sich austauschen, sich Freiräume schaffen und die Gesellschaft auf ihre Weise mitgestalten wollten. Er war längst kein Intellektuellen-Verband mehr, es zählte für ihn nicht die Kunst und Kultur im engen Sinne, er gab Raum für einen ganz breiten Kulturbegriff. Die demokratische Erneuerung, Ziel aus der Gründungszeit nach 1945, hatte die Menschen erreicht, ihre Rückwirkung veränderte über die Jahre, bei allem Eingebundensein ins System, den Kulturbund in eine Organisation mit viel Strahlkraft und rund 260.000 Mitgliedern. Sie war finanziell und strukturell abgesichert. Hinrich Enderlein (FDP), in den 1990er Jahren Kulturminister in Brandenburg, erkannte das Potenzial, als er sagte: »Das müsste man in den Westen exportieren.« Doch die Zeiten waren nicht so. Überall wurde abgewickelt, so geschehen auch im Kulturbund. Dieser war inzwischen ein gemeinnütziger Verein geworden, Landesverbände entstanden. Alle mühten sich dezentral um eine Finanzierung, die Gruppen und kleine Vereine am Leben halten konnte. Einiges gelang, vieles ging leider verloren. In Berlin war der Kulturbund angesichts der Vielfalt und des kulturellen Angebots plötzlich einer unter vielen. Die alte Struktur wurde von heute auf morgen zerschlagen, so wie es Hannelore Sigbjoernsen eingangs geschildert hat. Doch es gab viel Elan, viel Freude und auch Optimismus, etwas Neues anzufangen. Und es gab noch keine mit heute vergleichbare Bürokratie. Ich erinnere mich daran, wie Reno Döring vom Kulturbund in Treptow schon Ende 1990 berichtete, er habe mit seinem ehrenamtlichen Vorsitzenden per Hand nach einer kurzen Beratung im Arbeitsamt die ersten ABM-Anträge ausgefüllt und vor Ort unterschrieben. Wenig später startete die erste Maßnahme. Im Prenzlauer Berg und Lichtenberg wurden eigene Vereine gegründet und Projekte initiiert. Die Kulturbundgruppen in Köpenick (Club 7 Raben) und an der Humboldt-Universität arbeiteten weiter, neue Initiativen entstanden wie die Projektgruppe Multikultur. In der alten Kulturbund-Zentrale mühten sich die verbliebenen Mitarbeiter um Bundesgeschäftsführer Dieter Zänker, die Berliner Strukturen zusammenzuführen. Nach einem Gründungsaufruf am 25. November 1993 kam es am 5. März 1994 in den Räumen des Lichtenberger Kulturvereins in der Frankfurter Allee 285 (Ecke Rosenfelder Straße) schließlich zur Gründung des Berliner Kulturrings. Der Nutzung des Namens „Kulturbund“ für diese Neugründung wurde vom Amtsgericht Charlottenburg widersprochen, der Name sei noch anderweitig in Benutzung, und es sei noch der Antrag eines „Kulturbund Berlin“ in Bearbeitung. Im traditionsreichen Club der Kulturschaffenden in der heutigen Jägerstraße 2–3, der wieder seinen alten Namen hervorgeholt und sich „Club von Berlin“ genannt hatte, sollte ein Kulturbund Berlin e. V. ins Leben gerufen werden, ein erfolgloses Unterfangen. Nach der Gründung monierte das Amtsgericht im Mai 1994 dann wiederum den Namen, da der Verein noch nicht mindestens in der Mehrzahl der Berliner Bezirke vertreten war, so lautete der Kompromiss dann Kulturring in Berlin e.V.

Kurz darauf starteten die ersten eigenen Projekte: Am 1. Juli 1994 begann die Arbeit für 28 Mitarbeiter in drei ABM: Spuren jüdischen Lebens in Lichtenberg und Friedrichshain, Europas Künstler in Berlin und Seniorenaktion. Noch im selben Jahr begannen weitere ABM in Treptow und Hellersdorf. Ab März 1995 hatte dann der Kulturring alle in Regie des Kulturbund e.V. laufenden Projekte übernommen. Damit war der Verein mit einem Mal ein großer Träger der Arbeitsförderung im Kulturbereich geworden. Auch beim Senat fand der neue Verein Beachtung. Schon im Juni 1994 war der Kulturring Mitveranstalter von Kulturtagen in Berlin, die im Polnischen Kulturinstitut in der Karl-Liebknecht-Straße stattfanden. Ich erinnere mich an zwei interessante Kulturgespräche: „Landesehe ohne Mitgift? Zum Stellenwert der Kultur bei einer Länderfusion Berlin/Brandenburg“, mit Berlins Kulturstaatssekretär Dr. Winfried Sühlo und Brandenburgs Kulturminister Hinrich Enderlein, sowie „Deutschland – fremde Heimat“, mit ausländischen Kulturarbeitern, die seit Jahrzehnten in Berlin leben.

Viel ehrenamtliches Engagement kam über die Jahre hinzu – ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Kulturrings in der Zeit nach 1994. Die Vielseitigkeit der Vereinsarbeit – kein Wunder angesichts des angetretenen Erbes des Kulturbunds – brachte und bringt immer Neues hervor. Unser Logo entstand schon in der Anfangszeit. Dieter Zänker, erster ehrenamtlicher Geschäftsführer des Kulturrings, hatte sich einfach an den Computer gesetzt und experimentiert, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Bis heute gilt: Die kreative Arbeit im Verein spiegelt die Inspiration, ja die Visionen der Akteure wider. Ihnen ist alles zu verdanken, und ihnen wollen wir auch weiter Freiräume bieten und ihr Engagement würdigen. Wenn wir auf die 30 Jahre Kulturring zurückblicken, werden wir in den kommenden Monaten viele von ihnen in Erinnerung rufen, nicht nur um ihr Wirken zu würdigen, sondern um durch ihre Ideen und Aktionen neue Inspirationen für das Heute und Morgen unseres Vereins zu gewinnen. Vor zehn Jahren hatte Kai Wegner, heute Regierender Bürgermeister, den ­Kulturring auf seiner Feier gewürdigt: „Zwanzig Jahre Kulturring in Berlin, das sind zwanzig Jahre starke Arbeit in der Kultur, aber auch in der Bildung […] [sie sind] mittlerweile für unsere Stadt, für die Politik, aber vor allen Dingen auch für die Menschen in unserer Stadt, ein unverzichtbarer Partner in vielen Bereichen“. Worte des Lobs, die uns in den letzten Jahren begleitet und angespornt haben. Wir freuen uns auf die nächsten zehn und auf ein Jahr 2024 voller Kraft, Elan, Begeisterung und Initiativen.

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