Und das alles nur wegen der Liebe

Bernd Grünheid, Ingo Knechtel

25 Jahre Projekte „Rosa Winkel“ im Kulturring

In der Zeit des Nationalsozialismus waren mehr als 700 homosexuelle Männer allein im Strafgefängnis Plötzensee in Untersuchungshaft oder in Strafhaft, dreißig von ihnen wurden hingerichtet. Ein Satz, eine Tatsache und bis heute schockierend. „Und das alles nur wegen der Liebe“, so formulierte es der Historiker Dr. Klaus Berndl 2006 im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags in seiner Einführung in die Ausstellung zur Homo­sexuellenverfolgung in der NS-Zeit.
Die Schicksale jener grausamen Zeit zu erforschen, sie der Öffentlichkeit näherzubringen und den Opfern wieder ein Gesicht zu geben, hatte sich der Kulturring zum Ziel genommen. Dies war eine wesentliche Säule des Leitbilds des Vereins, wie es sein Vorstand im Oktober 1996 beschlossen hatte. Vorausgegangen waren Publikationen und Ausstellungen zu jüdischen Opfern in mehreren Berliner Bezirken.

Die Ausstellung im Deutschen Bundestag war ein Höhepunkt unserer Arbeit mit diversen Projektgruppen und der Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Rosa Winkel“. In mühevoller Recherchearbeit haben sich seitdem weit über einhundert Mitarbeiter mit unzähligen Akten befasst, haben Gespräche geführt und sich menschlichen Schicksalen zugewandt, die in ihrem Ausmaß für viele von ihnen bis dahin unvorstellbar waren und ihnen nun manchmal den Schlaf raubten.
Um dieses Engagement zu würdigen und auch allen Mitarbeitenden zu danken, lohnt ein Rückblick auf 25 Jahre intensiver Arbeit. Und ein Ende ist noch lange nicht in Sicht. Der Blick hat sich geweitet, es geht nicht mehr nur um die Verfolgung homosexueller Männer im Nationalsozialismus. Es geht auch um die Zeit danach, um die beiden Deutschlands. Und es geht um queere Menschen in ihrer Gesamtheit, um Diskriminierungen, um Hass und Hetze und um Benachteiligungen bis in die Gegenwart. Hier lassen sich überraschende und zugleich erschreckende geistige Verbindungen und Wurzeln feststellen, deren Überwindung für ein kulturvolles Leben in der Zukunft Voraussetzung ist.

Doch blicken wir zurück, wie alles begann. Konzept und Idee wurden 1996 in einem kleinen Kreis geboren. Projektleiter Ulrich Becker und Projektkoordinator Ingo ­Knechtel – im Hinterkopf die erfolgreichen Vorhaben zu jüdischen Schicksalen – grübelten, ob es möglich und sinnvoll wäre, weitere Opfergruppen der Verfolgung in der NS-Zeit auf vergleichbare Weise zu erforschen. Sie als Nachbarn, als Mitbürger darzustellen, anhand ihrer Biografien und ihrer Schicksale das Unrecht aus der dunklen NS-Zeit aufzudecken, war ein wichtiges Anliegen. Die Homosexuellenverfolgung ins Auge zu fassen, lag durchaus nahe, gab es doch darüber noch zu wenige Erkenntnisse. Doch könnte es für solch einen Ansatz Unterstützer geben? Und gäbe es ausreichend Material, um eine Forschung zu ermöglichen? Der Gedanke festigte sich und gemeinsam mit dem Vorstand wurden Interessierte und Verbündete gefunden. Um das erste Projekt „Rosa Winkel“ zu starten, kam unerwartet Hilfe „vom Amt“. Das damalige Arbeitsamt VI in der Lichtenberger Gotlindestraße war auf der Suche nach niveauvollen und vor allem inhaltlich neuen Projekten der Arbeitsförderung. Das Konzept überzeugte und wurde in die Planung für 1997 aufgenommen. Gleichzeitig gab es Hilfe aus einer weiteren Richtung. Der Historiker Dr. Günter Grau – auf das Projekt angesprochen – erinnerte sich, dass im Archiv des Landgerichts Berlin bis Dezember 1989 Strafakten aus der NS-Zeit unerschlossen lagerten, die inzwischen vom Landesarchiv übernommen worden waren. Aus diesem Fund wurde es also möglich, die Strafsachen gegen Homosexuelle zu erschließen. Am 15. September 1997 begann also ein hochmotiviertes Team von anfangs acht Mitarbeitern, sechs Frauen und zwei Männern, mit der Arbeit. Rund 17.000 sog. Ermittlungsfälle wurden aufgespürt. Akten zu 2.046 Verfahren gegen 3.040 Beschuldigte wurden gesichtet. Erstmals konnte die Strafverfolgung gegen Homosexuelle in der damaligen Reichshauptstadt zahlenmäßig belegt werden. Nach den zwei intensiven ersten Jahren erschien im Jahr 2000 die viel beachtete Publikation von ­Andreas Pretzel und Gabriele Roßbach „Wegen der zu erwartenden hohen Strafe“ und 2002 in Zusammenarbeit mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft „Opfer unter Vorbehalt“. Zur Buchpremiere im Landesarchiv Berlin sprach der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit.

Andreas Pretzel und Dr. ­Carola Gerlach gründeten 2001 die AG Rosa Winkel beim Kulturring in Berlin, ein auf Dauer angelegtes ehrenamtliches, wissenschaftliches Koordinierungsgremium der zeitlich begrenzten einzelnen Projekte. Die Arbeitsgemeinschaft engagierte sich in der Bürgerbewegung der Schwulenverbände für die Aufhebung der NS-Urteile nach § 175 StGB und deren Nachwirkungen auf das Leben der Homosexuellen nach dem Krieg, verlegte unter anderem mit Gunter Demnig in Berlin Stolpersteine und einen Gedenkstein für die homosexuellen Opfer in Lobetal. Im Jahr 2003 entstand die erste Ausstellung zum Thema „Ich ahne nun, dass die Luft ganz dick ist, Schicksale Homosexueller in Berlin-Mitte 1933–1945“, erarbeitet vom Team um Ursula Meinhard. Die Ausstellung wurde im Museum Mitte und im Kriminalgericht Moabit, dem Ort der Täter, gezeigt. Die Eröffnung übernahm die damalige Justizsenatorin Karin Schubert.

Ein neues Projekt mit Dr. Klaus Berndl als Kurator überarbeitete die Ausstellung mit berlinweiten Aussagen zur Homosexuellenverfolgung. Seitdem wird sie ständig erweitert und ergänzt. Unter dem Titel „Ausgrenzung aus der Volksgemeinschaft. Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit“ wurden die überarbeiteten Tafeln erstmals 2006 im Deutschen Bundestag gezeigt, kurz danach in der Akademie der Künste als Hintergrundinformation für die Entwürfe des neuen „Denkmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“ im Berliner Tiergarten.

Im Frühjahr 2009 setzte Koordinatorin ­Astrid Lehmann mit einem Projekt-Neustart in der Friedrichstraße 128 neue Akzente. Für die Darstellung homosexuellen Lebens in Berlin wurden nun unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Gerlach in Präzisionsarbeit, Bezirk für Bezirk, schwul-lesbische Treffpunkte ermittelt und dokumentiert, teils in Zusammenarbeit mit Jens Dobler, dem damaligen Leiter des Schwulen Museums Berlin. Die Recherchetätigkeiten wurden auf das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde ausgeweitet. Daraus entstanden erfolgreiche Ausstellungen zur Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus – zu Opfern und Tätern – unter anderem in den Rathäusern Spandau, Charlottenburg und Treptow sowie im Potsdamer Landtag. Eine ausleihbare Wanderausstellung wurde erstellt. Nach vielen kontroversen Diskussionen entschied die beratende AG Rosa Winkel 2013, die Rechercheinhalte der Projekte auf die Schicksale lesbischer Frauen und später auch auf Verfolgungsbiografien transsexueller Menschen auszuweiten. In mühevoller Kleinarbeit wurden in den Archivbeständen relevante Akten aus den Bereichen Fürsorgeerziehung, Justiz und Polizei gesucht, gelesen und ausgewertet. Die Ergebnisse des LSBTI-Projekts präsentierte die AG Rosa Winkel am 23. August 2019 in der Fotogalerie Friedrichshain mit der Ausstellung „Ich bin so! So bin ich! Verfolgung von Trans* und Lesben in der NS-Zeit“. Der AG-Leiterin Dr. ­Carola Gerlach war der Erfolg ihrer aufwändigen Forschungsarbeit für die Ausstellung leider verwehrt, sie verstarb ein Jahr vor Eröffnung nach kurzer, schwerer Krankheit. Es war auch die letzte Rosa Winkel-Ausstellung vor Beginn der Corona-Krise. Eine unmittelbar vor Pandemiebeginn für die Ausstellungsebene im Rathaus Charlottenburg-Wilmersdorf geplante Neuauflage musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Nach wie vor gibt es pandemiebedingte Einschränkungen und Auflagen, an die sich die Projektverantwortlichen erfolgreich anzupassen wissen. So werden zum Beispiel Originalakten und Dokumente im Landesarchiv abfotografiert oder gescannt, um sie zu Hause am mobilen Arbeitsplatz oder im Büro der Koordinierungsstelle Mitte am Ernst-Reuter-Platz zur Erfassung und Bearbeitung in der Datenbank verfügbar zu machen. Die Arbeit an den Archivalien bildet zugleich die Grundlage für das vielfältige Beschäftigungstraining in den Projekten, das durch konsequente Förderung und Stärkung von individuellen Fachkompetenzen die Chancen der einzelnen Projekteilnehmer für eine Weiterbeschäftigung und/oder eine neue berufliche Zukunft unterstützt. Die Fülle des vorliegenden Materials und die neuen Zielstellungen werden also auch in Zukunft reichhaltig Stoff bieten, um die Öffentlichkeit an der Erforschung der Schicksale teilhaben zu lassen. Und sicher wird es in Zukunft noch wichtiger sein, mit zeitgemäßer Präsentation oder Interaktion sichtbarer in Erscheinung zu treten, um damit junge Menschen oder auch Zugewanderte mit anderen Lebensentwürfen anzusprechen. Dafür hofft der Kulturring auch weiter auf Unterstützung seitens der EU, des Bundes, des Landes Berlin und seiner einzelnen Bezirke.

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