Gleich biegt Onkel Wanja um die Ecke

Martina Pfeiffer

Das Berliner Tschechow-Theater freut sich über sein 20-jähriges Bestehen

„Wir waren bereits das zweite Mal hier. Es ist jedes Mal ein Genuss, die Jugendlichen unter der professionellen Anleitung schauspielern zu sehen. Ein dickes Dankeschön an das Team, was uns hier viele ­kreative Stunden ermög­lichte!“ (Eintrag der Lehrerin einer 6. Klasse)

Gästebücher sind vielsagend. In ihnen sprechen die Besucher*innen aus, wie die Veranstaltungen und die sie flankierenden Angebote beim Publikum ankommen.

Die Auswertung der Gästebücher ist ein wichtiges Instrument der Erfolgskontrolle, denn die Kommentare lassen Rückschlüsse auf die Besucherbedürfnisse zu. Hinsichtlich der Einträge kann das Berliner Tschechow-Theater im Stadtteil Marzahn Nord-West sich glücklich schätzen. Es hat durch Informations- und Überzeugungsarbeit in der Öffentlichkeit Vertrauen und Akzeptanz aufgebaut. Das Weiterempfehlungsverhalten wurde gestärkt, der Bekanntheitsgrad erhöht. Gegründet am 1. März 2002, schreibt das Tschechow-Theater 2022 mit seinem 20-jährigen Bestehen Geschichte.
Weitere Eintragungen seitens der Besu­cher*innen: „Vielen Dank für die tolle Be­glei­tung beim ‚Rotkäppchen‘. Wir kommen gerne wieder!“ „Eine wundervolle Ausstellung. So kann Inklusion im Bereich Kultur gelingen!“ „Das war das beste Stück, das ich je erlebt habe!“

Von außen unprätentiös im Parterre einer Hochhauszeile in der Märkischen Allee 410 gelegen: ein schlichter Eingang, daneben eine Fensterfront, darüber der Name der Einrichtung und eine repräsentative Auswahl der Angebote. Unmittelbar nach dem Betreten sind die atmosphärischen Schwingungen des Zimmertheaters zu spüren: behaglich, ungezwungen, familiär. Im Laufe zweier Dekaden hat dieses Theater illustre Gäste gesehen: bekannte Gastspielensembles und namhafte Politiker*innen. Dr. Alena Gawron, seit 2004 die Leiterin, blickt zurück: „Besonders stolz ist das ­Tschechow–Theater auf sein Alleinstellungsmerkmal, die Doppelinszenierungen von Einaktern Anton Tschechows, auf Deutsch und auf Russisch. Dafür haben wir zwei jeweils muttersprachliche Schauspieltruppen engagiert und zwei Regisseure. ­Diese doppelsprachigen Inszenierungen sind eine Besonderheit im europäischen Raum.“ Angefangen hat alles mit der Aufführung des burlesk-komischen Einakters „Der Bär“, gefolgt von „Das Jubiläum“ und „Der Heirats­antrag“. Das russischsprachige En­­semble des Haustheaters „T & T“ („Theater und Tanz“) unter Leitung der Regisseurin Natalija Sudnikovic teilte sich die Bühne mit den deutschen Schauspielern aus der Kölner Truppe „Die Möwe“.

Vor der Pandemie gab es rund achtzehn Veranstaltungen pro Monat. Die Kapazität von sechzig Plätzen war zumeist ausgelastet. Das Theaterteam konnte viele Interessierte zu einer bleibenden Partnerschaft bewegen. Zwischen fünfzehn und zwanzig Personen waren als Stammgäste dabei. Die Würdigung des großen russischen Realisten Anton Tschechow in Form von Lesungen, Filmen und Inszenierungen leistet einen unverwechselbaren Beitrag zur Bereicherung des kulturellen Profils: sowohl für den Kiez als auch in Bezug auf die Hauptstadt im Ganzen. Wer nach der Vorstellung das Theater verlässt, trägt auch fürderhin Tschechow im Tornister.

Stets aufs Neue hat der Erzähler und Bühnenautor diagnostiziert, wie bleiern die Atmosphäre in der Provinz sein kann. Onkel Wanja führt vor Augen:  Sich mit dieser Misere abzufinden, kann keine Option sein. Tschechow, der Sohn ehemaliger leibeigener Bauern, zeigt im Sozialen Verantwortung. So engagiert er sich für die schulische Bildung von Bauernkindern, mobilisiert Gelder für die Hungerhilfe und setzt sich für verbesserte Haftbedingungen ein. Mittellose Patienten behandelt der Mediziner Tschechow ­unentgeltlich.

1904 fährt der 44-Jährige mit seiner Frau Olga Knipper zuerst nach Berlin, dann in den Schwarzwald-Kurort Badenweiler. Von dort schreibt er nach Moskau etliche Briefe, in denen seine Eindrücke zu Deutschland im Mittelpunkt stehen. Jährlich zum Geburtstag des prominenten Mittlers zwischen der russischen und der deutschen Kultur gibt das Theater neben Szenischen Lesungen Abende zu verfilmten Tschechowstücken unter fachkundiger Einführung der ­Filmwissenschaftler­in Irina Vogt. Doch damit nicht genug.

„Wann ist das nächste Fest, Frau Tschechowa?“ wird Alena Gawron von der Anwohnerschaft des Öfteren gefragt. Immerhin macht für die Leute der „Leuchtturm“, wie sie im Quartier Marzahn Nord-West das Theater nennen, ein gutes Stück Kiezkultur aus. Kiezbewoh­ner*innen erinnern sich gerne an die Festivitäten auf dem Platz vor dem Havemann-Center und die „Früchte- und Gemüsefeste“ am Barnim­platz, die vom Theater ausgerichtet wurden. Bei diesen Gelegenheiten haben die Besucher*innen Wissenswertes über die Kulturgeschichte der Kartoffel erfahren, lernten schmackhafte Rezepte kennen und konnten sich an Wettbewerben im Kartoffelschälen oder im Kürbisschnitzen beteiligen. Das Tschechow-Theater lud alljährlich zum russischen „­Jolka-Fest“ ein und begründete damit für den Kiez eine Tradition. „Was kann man mehr erreichen, als starke Präsenz zu zeigen, der einzige originäre Kultur- und Kunstort im Stadtteil Marzahn-Nordwest zu sein? Wir haben die Integrationsarbeit geprägt, den Anspruch eingelöst“ – so Lutz Wunder, eines der Gründungsmitglieder und Leiter des Freundeskreises vom Tschechow-Theater. Die Bejahung kultureller Vielfalt ist Programm: Das Café für Flüchtlingsfrauen traf auf starke Resonanz, ebenso die Tanzabende mit internationalem Publikum aus Russland, Polen, Bulgarien, Vietnam, Lateinamerika …

Das Theater zeigt Wertschätzung für alle Altersgruppen. Bei den Sechstklässlern punktet der „Streit-Workshop“. Die Schulkinder erlernen Kommunikationsregeln und Techniken der Konfliktbewältigung. Des Weiteren liefen die Workshops „Zivilcourage“ und „Mobbing an der Schule“ unter Leitung des Theater­pädagogen Sven ­Zankl. Beim Deutschen Präventionstag war das Tschechow-Theater schon dreimal dabei: 2007 in Wiesbaden, 2010 in Berlin, 2013 in Bielefeld. Die Heranwachsenden spricht die „Kiezbühne“ mit Rap und Hip-Hop an. Auch von anderen Programminhalten lässt sich das junge Publikum anstecken. Die Kleineren wollen wissen: „Wie baut man eine Tuchmarionette?“ Oder sie wollen selbst so wild wie „Ronja, Räubertochter“ über die Bühne tollen. Ein resonanzträchtiges Angebot des hauseigenen „Kinderstudio Sonnenschein“ ist die musische Früherziehung unter der Leitung von Katharina Podolski. Spielerisch wird ein wesentlicher Beitrag zur Sprachförderung geleistet, indem die Kinder im „Mitmachtheater“ die Märcheninhalte in eigenen Worten wiedergeben. Heike Schmidt, Regisseurin und Dramaturgin, begleitet dieses Projekt. Bei der Auswahl der Kostüme und der Gestaltung des Bühnenbilds treffen die Knirpse die Entscheidungen. In der „Theaterwerkstatt“ mischen Junior*innen aus fünf Nationen mit. Das Konzept berücksichtigt nunmehr auch Erwachsene in der „Mehrgenerationenwerkstatt“, begleitet von Hannelore Wolter. Das Haus fungiert überdies als Partner im lokalen Kulturensemble. In Zusammenarbeit mit der Initiative „Gemeinsam statt Einsam“ etwa fanden Kabarettgastspiele ein beachtliches Echo bei Seniorinnen und Senioren.

Am Nachmittag des Gesprächs mit Alena Gawron und Lutz Wunder bildet ein gemalter Baum das Zentrum des Bühnenbilds. An diesem Baum sprießen frische grüne Blätter. Das gedeihende Gewächs steht sinnbildhaft für das Anliegen, welches die Leiterin zur Sprache bringt: Damit das beliebte Theater erhalten bleibt, sei unbedingt finanzielle Unterstützung vonnöten, und das möglichst schnell. Schön wäre beispielsweise, wenn sich Bürgerinitiativen stark machen würden. Und noch während Alena Gawron ihren Wunsch ausspricht, stürmen die ersten Kinder zur Türe herein, um das Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“ in ein lebensvolles Bühnengeschehen zu verwandeln.

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