Kühne Metamorphosen im Dunstkreis des Surrealen

Martina Pfeiffer

Maria Otterbeins experimentelle Anläufe wider Gleichförmigkeit und Stillstand

Der Pluralismus von Ausdrucksformen verhindert die Verkürzung auf den einen Stil. „Mich im Vorfeld des künstlerischen Prozesses stilistisch festzulegen, entzieht mir eine intuitive Arbeitsweise“, erklärt Maria Otterbein und kommt damit Versuchen zuvor, sich simplistisch eingrenzen zu lassen. Die gebürtige Hessin hat Bildende Kunst in Kassel und Kommunikationsdesign in Köln studiert, mit dem Schwerpunkt Illustration und Animation. Seit 2016 lebt sie in Berlin: „Die Stadt spricht mich in vielen Facetten an, die mich atmen lassen.“

Das Konzept von Wandel und Wechsel wird zum konstanten Thema der Digitalkünstlerin. In ihrem Werkkosmos ist alles im Fluss. Ihr künstlerisches Terrain ist das Irgendwo zwischen Restbeständen der erkennbaren Gestalt der Dinge und einer von stetigen Übergängen geprägten Welt. Das von ihr gepflegte „Digitale Skizzenbuch“ gibt Einblicke in den Schaffensprozess und gerät selbst zum visuellen Kunstwerk. Statt fixer Lösungen bieten sich Widersprüche und Spannungen, statt kommoder Patente Reibungsflächen, anstelle des Eingängigen das vielfältig Ausdeutbare. Digitale Collagen mit der Benennung „characters“ lassen enigmatische Mischwesen in Erscheinung treten, deren Hände oder Füße im Nachhinein mit Bleistift ergänzt sind. Bei aller Inszenierung von Fremdheit stellt sich für den Betrachter bisweilen und paradoxerweise das Gefühl des seltsam Vertrauten ein, und doch entziehen sich die „characters“ einer schlüssigen Ausdeutung. Hermetisch erhalten sie sich ihre Rätselhaftigkeit und erweisen sich als letztlich unsondierbar.

Die surrealistische Bewegung um André Breton wirkt bei Maria Otterbein in spürbarer Hinsicht nach: Dinge werden aus dem gewohnten Kontext herausgelöst und kraft künstlerischer Fantasie neu zusammengespleißt. Im Verbund des Disparaten suggerieren solche Bildkompositionen eine sich durchhaltende Dialektik von Anziehung und Abweisung, Faszination und Bruch. Besieht man es sich genauer, so erfolgen über die Koppelungen von logisch Unvereinbarem implizite Einladungen zum Neu-Sehen. Das von den Surrealisten angewandte Verfahren der spontanen („automatischen“) Niederschrift des Gedankenflusses weiß die Künstlerin für sich zu nutzen: der Verstand als Kontrollinstanz bleibt außen vor, die Kräfte des Unbewussten werden durch a-logisches Vorgehen freigesetzt. Kausalitäten entgleisen, der berechenbare Ablauf gerät außer Kurs. Solchermaßen kann es gelingen, dem Imaginären auf die Spur zu kommen.

Dabei befand sich die Kunstschaffende nicht von Anfang an im Einzugsbereich von Unbewusstem und Traumgeschehen. Derjenige, der maßgeblich dazu beitrug, ihren vormals eher statischen Kunstbegriff aufzulösen, war der Maler Jean-Michel Basquiat, im New York der 1980er Jahre mit der Pop-Art-Größe Andy Warhol durch Freundschaft und Zusammenarbeit verbunden. Infolge seiner überbordenden Expressivität und des energetischen Pinselstrichs war Basquiat eine gefühlte Offenbarung: „Er malt impulsiv, aus der Intuition heraus und mit einer Brachialgewalt.“

Im Interdisziplinären setzt die Wahlberlinerin mit der Serie „Experiment with Sound“ Akzente. Diese Versuchsreihe ist von ihr selbst über Musiksoftware komponiert und am Midi-Keyboard ausgeführt. Im Interview fällt in diesem Zusammenhang der Name der isländischen Sängerin Björk, die im praktizierten Crossover unterschiedlicher Musikrichtungen unverbrauchte Impulse in die Branche einspielt. Neben seinen Musikvideos finden auch die Filme des französischen Experimentalkünstlers Michel Gondry bei der Interviewpartnerin Anklang. Der „Träumetüftler“ macht die Grenzen zwischen Realem und Surrealem mit einer das Auge verblüffenden Konsequenz liquide. Und er nutzt die Synergien, welche sich der Verschränkung von Bild und Klang verdanken.

Ein wesentliches Moment in der schöpferischen Tätigkeit Maria Otterbeins liegt im Überlassen weißer Flächen für sich selbst und für ihr Publikum. Die Zeichnungen ihrer jüngsten Ausstellung mit dem programmatischen Titel „No Title – Maybe Tomorrow“ im Lichtenberger Studio Bildende Kunst des Kulturrings setzen zumeist minimalistisch an. Sie verarbeiten das Kompositionselement des „white space“ und verzichten weitestgehend auf vororientierende Titel. Über diese Strategien nimmt Maria Otterbein die Kunstinteressierten als gleichsam Mitschaffende ins kreative Wechselspiel hinein. Denn ohne das Ineinanderwirken der variierenden Perspektiven von Schöpfender und den Betrachtern sei das Werk „unvollständig“ – so die im Gespräch ebenso präsent wie dezent wirkende Künstlerin.

In Anlehnung an die legendäre Frage, die der französische Regisseur François Truffaut dem von ihm bewunderten Alfred Hitchcock stellte, ist es auch im Fall der hier Porträtierten zweifellos reizvoll, zu ermitteln: „Frau Otterbein, wie haben Sie das gemacht?“ Zumal, wenn für die Betrachter Digitalkunst Neuland ist. Die Gefragte: „Zuerst analog auf Papier zeichnen, dann einscannen, in der Folge digital bearbeiten und oft dann noch animieren. Oder die andere Variante, wie bei der mit ‚Collage, digitale Zeichnung und Bleistift auf Papier‘ überschriebenen Arbeit: zuerst am Rechner gestalten und im Nachhinein die Ergänzung der Körperfragmente mit Bleistift vornehmen.“ Aquarellwirkung erzielt sie durch den Einsatz unterschiedlicher Digitalpinsel. Häufig sind biomorphe Elemente auszumachen, schwellende und fließende Kurven und Linien, die Ansätze organischer Formen erkennen lassen. Die meisten Arbeiten visualisieren laut der Digitalkünstlerin die drei thematischen Komponenten Technik – Mensch – Natur. Wenn auch nicht immer explizit dargestellt, werden diese doch evokativ aufgerufen. Und da zeigt er sich wieder, Maria Otterbeins Hang zur Technikphilosophie. Fortschrittsgläubig ist sie dennoch nicht. Die Auswüchse der Naturbeherrschung durch den Menschen und einen umfassenden „Fortschritt“ der Gattung homo sapiens stellt sie durchaus in Frage.

Die unsere Gegenwartsgesellschaft prägende Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche schickt sich an, die Erfahrungswirklichkeit massiv zu verändern. Dazu gehören auch neue Wege auf dem Feld der künstlerischen Gestaltung, wo sich im Wortsinn sehr viel „bewegt“. Die innovative Kraft, wie sie der durch Maria Otterbein vertretenen digital art innewohnt, lässt erwarten und darauf hoffen, dass noch eine Vielzahl kühner Kunstexperimente aus ihrem „Digitallabor“ folgen wird.

Maria Otterbeins Arbeiten wurden in Galerien, Projekträumen und im Museum ausgestellt sowie in Magazinen veröffentlicht. Für den Kulturring ist sie seit Oktober 2020 tätig.

https://mariaotterbein.myportfolio.com
www.instagram.com/kulturring.berlin

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