Ein Online-Besuch im Jüdischen Museum Berlin

Heike Avsar

Ende Januar 2021: Bildungstag des Kulturrings. Ich entscheide mich aus den Angeboten für einen Online-Besuch im Jüdischen Museum Berlin. Als ich den Online-Schaukasten betrete, weiß ich nicht, wohin zuerst schauen, was zuerst lesen, über diesen so wichtigen Ort der Erinnerungen und Mahnung für die jetzige und alle folgenden Generationen. Mein erster Gedanke: AfD. Ich erinnere mich noch gut an einen Nachmittag im Spätsommer 2017, als ich ahnungslos auf dem Nachhauseweg war und mich kurz vor meiner Haustür ein AfD-Wahlplakat förmlich ansprang, obwohl es an einem Laternenmast in mehreren Metern Höhe angebracht war. Darauf war eine junge Frau abgebildet. Blond, schwanger, rücklings auf einer Sommerwiese liegend, der Babybauch halb nackt unter dem „verrutschten“ T-Shirt. Darunter stand: „Neue Deutsche? Machen wir selber! Trau Dich, Deutschland!“ Ich war schockiert, angeekelt, dermaßen wütend, dass ich mir vornahm, nachts das Plakat zu entfernen. Leider war meine Leiter zu kurz.

Sie wissen schon, warum ihre Plakate in schwindelerregender Höhe angebracht werden. Mir fiel nun auch wieder Gaulands „Vogelschiss-Bemerkung“ in Bezug auf den Holocaust und die doch so ruhmreiche deutsche Geschichte ein, das ganze „völkische“ Gefasel und die unerträgliche Hetze der AfD, die den Zuhörer ins Dritte Reich zurückversetzen, als ich die ersten Briefe, Dokumente und Lebensgeschichten deutscher Juden lese.

Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums 1933: „Blutendes, brennendes Deutschland!“, schrieb der Berliner Arzt und Bakteriologe Erich Seligmann am Tag nach dem Reichstagsbrand in sein Tagebuch. Entsetzt über die sich anbahnende Hetzjagd der Nationalsozialisten gegenüber ihren politischen Gegnern, unter denen sich zahlreiche deutsche Juden befanden. Schon bald darauf wurde er von seinem Amt als Direktor des Wissenschaftlichen Instituts des Hauptgesundheitsamtes „beurlaubt“. 1939 konnte er Deutschland Richtung USA verlassen.

Nach dem reichsweiten Boykott gegen jüdische Geschäfte ließ sich der Tuchfabrikant Rudolf Gumpert von der Israelitischen Gemeinde Parchim bescheinigen, dass seine Familie seit mehreren hundert Jahren in Mecklenburg ansässig war. Durch den Nachweis erhoffte er sich Schutz vor antisemitischen Maßnahmen. Er verstarb 1940 in Parchim. Seine Frau wurde im November 1942 mit den letzten Parchimer Juden nach Auschwitz deportiert. Nur seine Schwester und eine Tochter überlebten.

„Meiner lieben fleißigen Ruth Wurm“, widmete die Lehrerin das hübsch illustrierte Fleißkärtchen der Siebenjährigen zum Schuljahresende anlässlich der Versetzung in die dritte Klasse. Ruth Wurm, Jahrgang 1925, war das einzige jüdische Mädchen in ihrer Hannoveraner Klasse, bei Lehrern und Mitschülern beliebt. Ab 1936 besuchte sie das Lyzeum, wurde nun als Jüdin ausgegrenzt, von Sportunterricht und Schulausflügen ausgeschlossen. Man mag sich nicht vorstellen, was das mit einer Kinderseele gemacht hat. Die Familie emigrierte Ende 1936 nach Kopenhagen, 1939 wanderten sie nach Großbritannien aus. Heute lebt Ruth Wurm in Australien. Im September 2012 besuchte sie das Jüdische Museum und sprach mit SchülerInnen über ihre Lebensgeschichte.

Es sind nur drei Schicksale von unzählig vielen, von denen im Jüdischen Museum zu lesen ist. Jeder, der sich jemals näher mit dem Dritten Reich befasst hat, weiß, wie ­viele Menschenleben auf brutalste Weise ausgelöscht wurden. Diejenigen, die überlebt haben, waren bis an ihr Lebensende traumatisiert. Man bekommt in dem Haus aber auch Einblick in Kultur, Religion und die Vielfalt jüdischen Lebens im Hier und Jetzt. Gerade in Berlin, in dieser lauten, bunten, multikulturellen Stadt, leben heute wieder viele Juden unterschiedlichster Nationalität. Die „Provokative Bewegung“ einer neuen Generation jüdischer KünstlerInnen zum Beispiel will sich nicht mehr von der deutschen Erinnerungskultur als Opfer vereinnahmen lassen. So wie sich Deborah Feldman, Autorin des autobiografischen Buches „Unorthodox“ und aufgewachsen in einer der weltweit strengsten ultraorthodoxen Gemeinden, aus der Vergangenheit löste, um ihren eigenen Weg zu gehen.

Während des „Besuches“ im Jüdischen Museum Berlin erinnerte ich mich an eine Literatursendung, in der ich auf Deborah Feldman aufmerksam wurde. Das brachte mich auf die Idee, ihr Buch zu lesen und darüber für den Kulturring eine Rezension zu schreiben. Denn auch sie wuchs mit einer traumatisierten Großmutter auf, die ihre gesamte Familie im KZ verloren hat, ohne je wirklich über die Vergangenheit gesprochen zu haben. Die Angst vor einer „Reinkarnation“ Hitlers ist noch heute und gerade in ultraorthodoxen Gemeinden mehr als präsent. Wenn sich eine junge Jüdin in dritter Nachkriegs-Generation noch wünscht, nicht jüdisch auszusehen, zeigt dies nur, wie wichtig es ist, nie aufzuhören, Antisemitismus und „Fremdenfeindlichkeit“ jeglicher Art zu bekämpfen.

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