Aufeinander treffen

Ingo Knechtel

das können wir auf vielfältige Weise. Die Journalistin Sabine Kroh berichtete in der Berliner Zeitung über Begegnungen im Impfzentrum in der Arena Treptow, derzeit ein Treffpunkt der Generationen. Ein junger Fahrradfahrer, bei anderen Gelegenheiten, weil er auf dem Fußweg fährt, von einer alten Dame mit Rollator verflucht, schiebt in diesen Tagen ihren Rollator zur Impfkabine. Menschen sind füreinander da, erzählen sich beim Aufeinandertreffen ihre Geschichten. Interessant, spannend, berührend. Die Geschichte von einer alten Dame mit einer Nummer am Handgelenk, eintätowiert in Theresienstadt, geht unter die Haut. Eine Spritze unter die Haut ihres Arms erzählt viel von Hoffnung und Lebenswillen. Szenenwechsel: Bestimmt erinnern Sie sich an die Bilder von der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten. Da geht selbstbewusst, in einem leuchtend gelben Mantel, die 22jährige Amanda Gorman an all den älteren, zumeist weißen, würdevoll mit „the Honorable“ begrüßten Repräsentanten zum Rednerpult und reißt nicht nur in Washington alle mit, als sie ihr Gedicht „The Hill We Climb“ vorträgt. Als Nachfahre von Menschen, die ihre Ketten gesprengt haben, tritt sie an, die Welt zu verändern. „Blicken wir daher nicht auf das, was zwischen uns, vielmehr auf das, was vor uns steht und schließen dann die Kluft“, sind ihre Worte. Ich muss an Dora Gerson denken. Die Schauspielerin und Kabarett-Sängerin war gerade einmal 35 Jahre alt, als sie 1935 für das Platten-Label Lukraphon des Jüdischen Kulturbunds im Keller einer Synagoge in Berlin „Die Welt ist klein geworden“ aufnahm. Die gestreamte Eröffnung der Ausstellung Nachbarn im Rathaus Schöneberg brachte mir ihr Leben und diesen Titel nahe. „Wirst Du die Macht, die du dir schufst, zum Guten wenden? Wird sie dich blenden mit ihrer Pracht? Die Welt ist klein geworden, sehr Widerschein geworden, von dem, was Menschenkraft aus ihr gemacht.“ Dora Gerson wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Ihre Stimme vergesse ich lange nicht, ihre Texte haben die Zeit überlebt und sind wie für’s Heute geschrieben. Immer wieder treffen überall Generationen aufeinander, Menschen mit Zielen im Leben, mit Leidenschaft, Kreativität und Engagement. Ihnen ein Gesicht und eine Stimme zu geben, im Vergangenen wie im Heutigen, diesem Ziel haben wir uns als Kulturring verschrieben. Unsere Projekte stehen dafür, ein Beispiel finden Sie in diesem Heft: Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain. Diese Geschichten haben viele von uns selbst erlebt. Wir sollten sie uns noch viel öfter erzählen, und auch die von den Menschen, die nicht mehr unter uns sind. „Schaut hin!“, heißt das Leitwort des Ökumenischen Kirchentags in diesem Jahr, und wir sollten uns dieser Herausforderung generationsübergreifend und gemeinsam stellen.

Archiv