Kultur ist Selbstausdruck

Ulrike Dittmann

Eine Einladung

Jedes Jahr erzählen mir Freunde, Kollegen und Bekannte, dass der graue Winter nur schwer auszuhalten ist. Der Lockdown mit seinen Herausforderungen scheint in diesem Jahr die gefühlte Schwere bei allen zu verstärken. Kulturelle Erlebnisse, die sonst oft helfen, sind nur online zu finden. Immerhin! Auch ist meine Wahrnehmung, dass wir viel stärker auf uns selbst gestellt sind. Wir sind aufgefordert, unser Leben aktiv zu ergreifen und die freie Zeit, den Alltag selbst zu gestalten. Diejenigen unter uns, die ein Projekt, eine Aufgabe oder eine Idee haben und diese mit Leben füllen, kommen leichter durch die Krise.  
Also warum nicht selbst Kultur machen? Wer sagt denn, dass wir „Nicht-Berufenen“ lediglich zum Ansehen von Kultur auserkoren sind? Im Gegenteil, ich behaupte, Kultur ist Selbstausdruck, erhöht das Gefühl von Selbstwirksamkeit und unterstützt die Resilienz!

Wissen Sie, wie alt das älteste Kunstwerk ist? Das Internet beantwortet diese Frage nicht eindeutig. Einigkeit herrscht jedoch darin, dass die „ältesten“ Kunstobjekte tatsächlich sehr alt sind. Angezeigt werden mir beispielsweise
• eine 450.000 Jahre alte verzierte Muschel,
• 45.000 Jahre alte Höhlenmalereien,
• eine 40.000 Jahre alte Frauenfigur.

Genannt werden auch die kunstvollen Höhlen­malereien von Chauvet, geschnitzte Flöten und so weiter. 

Worauf ich hinaus will: Im Laufe unserer Evolution kam offensichtlich der Moment, wo wir das Bedürfnis hatten, etwas selbst zu erschaffen, etwas auszudrücken. Und dieser Moment scheint schon sehr früh in unserer Evolution gewesen zu sein. Ich stelle mir das so vor: Die Gemeinschaft saß in der Höhle, die Männer hatten vielleicht ein Tier erlegt. Das Feuer wirft Schatten, die Menschen träumen vor sich hin, und plötzlich richtet sich Jemand auf. Diese Person steht auf und beginnt zu malen. Etwas, was vor ihrem/seinem geistigen Auge erscheint, zum Beispiel ein Schwein. Was für ein magischer Moment!

Was meinen Sie, wie die Gemeinschaft darauf reagierte? Waren die Anderen voll ehrfürchtiger Bewunderung? Ich glaube nicht! Vielleicht waren sie neugierig – warum, wieso und wie überhaupt – und haben gestaunt. Vielleicht war es aber auch „natürlich“. Sicherlich war es etwas Besonderes und eine neue Form der Kommunikation. Ich denke, es war vor allem ein logischer Entwicklungsschritt. Es war an der Zeit.
Warum glaube ich das? Arno Stern, der Begründer des Malorts beschreibt, dass alle Menschen einer sogenannten Malspur folgen. Malen ist das Bedürfnis nach Selbstausdruck, es ist nonverbale Kommunikation. In diesem Kontext wird das Malen auch nicht als künstlerische Schöpfung betrachtet, da es hierbei nicht um eine Reaktion von außen geht. Nach Arno Stern trägt jeder Mensch seine individuelle Malspur in sich. Das spielerische Malen fördert demnach Fähigkeiten, die zur Entfaltung und Stärkung der Persön­lichkeit führen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die von Kindern frei und unbeeinflusst gemalten Formen innerhalb der Altersstufen über Kultur- und Ländergrenzen hinaus vergleichbar sind. Betrachtet man das Malen als individuellen Selbstausdruck des Moments, ist eine Bewertung des fertigen Bildes unsinnig, ja sogar hinderlich. Wer möchte schon gern in seiner individuellen Ausdrucksweise und Entwicklung bewertet werden?

Jeder Mensch hat meiner Ansicht nach seine Präferenzen, um sich jenseits des gesprochenen Wortes auszudrücken. ­Farbe, Form, Musik, Gedicht, Foto usw. Ich möchte Sie heute dazu einladen, sich ihren ganz persönlichen Raum für Selbstausdruck zurückzuerobern. Neues auszuprobieren und Altes wieder zu entdecken. Wir stecken alle voller Kreativität, wollen uns ausdrücken und uns erklären. Auf dem Weg vom Kind zum Erwachsenen ist manches von unserem Potenzial eingeschlafen. Nicht alles, was wir wahrnehmen, kann ausgesprochen werden. Dennoch ist es in uns und will Form annehmen. Erinnern Sie sich, als Sie Kind waren und nach einem Tag voller Spielen ins Bett gingen? Wir waren körperlich erschöpft, aber nie seelisch. Oft hatten wir beim Spielen die Zeit vergessen. So etwas erleben wir, wenn wir in unserem Element sind. Wir sind Selbstwirksamkeit und tun uns gut. Dann sind wir widerstandsfähig, halten Belastungen besser aus und kommen leichter durch Krisen. Unsere Resilienz wächst.

Meine Empfehlung ist, fangen Sie mit kleinen Schritten an. Wo zieht es Sie hin? Welches ist Ihr stärkster Sinn? Nichts, was Sie aus sich heraus tun, ist banal! Fokussieren Sie sich auf den Prozess (wie tut es?) und nicht auf das Ergebnis. Und vor allem bewerten Sie Ihr Ergebnis nicht. Es ist so gut, wie es hier und jetzt machbar war. Nicht das Ergebnis macht Sie stark, sondern der Prozess.

Wer eine Inspiration braucht, findet im Folgenden meine ganz persönliche und unvollständige Ideenliste (Reihenfolge variiert nach Tagesform):
• Musik: aufdrehen, mitsingen, tanzen, mal wieder musizieren, komponieren.
• Malen: am liebsten mit Aquarell oder Pastellkreide, ohne Thema, mit der schönsten Farbe beginnen. Egal was kommt. Und seien es „nur“ Kleckse.
• Stricken: schöne Farbe und Wolle, einfach geradeaus.
• Kochen: intuitiv, wonach steht mir ­gerade der Sinn? Oft wird’s lecker und gesund, wenn die Farben der Zutaten passen.
• Kneten: mit Knete, Salzteig, Ton oder einfach Brotteig, setzt Kräfte frei.
• Blumensträuße binden, Pflanzungen zusam­menstellen, Gartenplanung.
• Düfte kreieren: Aromaöle mischen für Raumluft, in die Creme, Parfüm, und mehr.
• Ostern steht vor der Tür: Eier bemalen und färben, Deko basteln, kleine Geschenke herstellen.
• Origami falten: zauberhaft, sehr entspannend, und es gibt so schönes Papier.
• Nähen: es gibt so grandiose Stoffe, einfach mal neue Kissen nähen?
• Fotografieren: nach Themen, was finde ich auf meinem Spaziergang, schöne Haustüren, Skurriles und vieles mehr.
• Mal wieder was bauen: mit Lego, Stabilbaukasten und so weiter.
• Schreiben: Briefe, Tagebuch, Gedichte mit kalligrafischen Federn?
• Mit anderen spielen: am besten Spiele aus dem Improvisationstheater, das geht sowohl off- als auch online per skype o. ä.
• Schnitzen: ein Stück Holz finden und schauen, was daraus entsteht.

Ich bin sicher, Sie haben noch viel mehr Ideen. Wichtig ist nur: Drücken Sie sich aus, sorgen Sie für sich und machen Sie Kultur! ;-) Denn unter Kultur versteht man im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbstgestaltend hervorbringt. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Tun.

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