Ein Kamel vorm Balkon

Kerstin Kibgis

Als ich vor Jahren eines schönen Tages den Balkon betrat, um genüsslich meinen Feier­abendkaffee zu trinken, staunte ich nicht schlecht. Circa zehn Meter von mir entfernt stand ein Kamel. Mein erster Gedanke war: „Oha!“, doch dann sah ich weiter hinten ein Zirkuszelt, das auf dem großen, freien Areal vor meinem Balkon im Laufe des Tages aufgebaut worden war.

Da stand es also, das Kamel, graste friedlich, und ich schaute ihm dabei zu. „Na, dir scheint es hier ja genau so gut zu gefallen wie mir“, dachte ich, während mein Blick über die weitläufige Brache schweifte. Ja, diese große, urwüchsige Wiese hatte es mir angetan. Sie bot herrlichen Freiraum für alle Sinne. Das Auge konnte ungehindert in die Weite schweifen. Mit einsetzender Dämmerung sah man, so es das Wetter zuließ, sogar die blinkenden, roten Lichter auf dem Fernsehturm. Und auf diesem, wie man so sagt, „toten Stück Land“ wimmelte es nur so von Leben. Wildkaninchen und Igel tummelten sich hier. Im Frühjahr sangen die Vögel im angrenzenden Buschwerk bis in die späten Abendstunden ihre Hochzeitslieder. Und wenn man ganz großes Glück hatte, konnte man Meister Reinecke auf der Mäusejagd beobachten. Mein Mann und ich saßen so manches Mal stundenlang auf dem Balkon und guckten und horchten. Wir brauchten keine Unterhaltung vom Fernseher. Wir hatten sie unter unserem Balkon. Aber wie alles im Leben wäre es schon ein Witz, wenn sich Alt-Stralau ohne irgendeinen Wandel durch die Jahre bewegt hätte. Heute besteht hier für das Kamel keine Möglichkeit mehr, sich zu verpflegen. Auch ein Zirkuszelt fände hier keinen Platz mehr. Und meinem einst so schönen Ausblick sind nun Grenzen gesetzt. Auf der ehemals wilden Wiese steht jetzt ein großer, weißer Wohnblock, davor gemähter Rasen, auf dem die Kinder der zumeist jungen Familien spielen. Hier hat sich vieles verändert. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

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