Ich habe immer wieder Frieden gesucht

Dagmar Gleim

Die Geschichte einer Spätaussiedlerin im Kulturbetrieb

So wird man als Gast gerne empfangen: mit dezentem Lächeln und einer Flasche kühlen Mineralwassers an einem schwülwarmen Tag. Auch Tüchlein für mögliche feuchtklebrige Hände werden angeboten. Wer soweit voraus- und mitdenkt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein sensibler Mensch. Obwohl Irma Ehrlich, 64 Jahre alt und Mitarbeiterin im Medienpoint in der Crellestraße, ein wenig Scheu vor dem Interview hatte, tut sie doch alles, um es dem Fragenden so angenehm wie möglich zu machen.

Ehrlich ist seit 1998 in Deutschland, in Berlin. Sie gehört zu den Russlanddeutschen, die ab etwa 1980 in die Bundesrepublik gekommen sind. Sie kam, weil sie sich schon immer als Deutsche empfunden hatte. Die Fragen sind kaum ausgesprochen, da verweist sie auf ihren russischen Ausweis, in dem sie als Deutsche ausgewiesen wird. Dieser Hinweis auf die deutsche Abkunft wird im Gespräch immer wieder wie ein alles erklärender Beweis dargeboten. Ehrlich war eine Deutsche in der Sowjetunion und später in Russland und ist hier, im Land ihrer Ahnen, eine Deutsche. Sie selbst beschreibt sich auch ganz nüchtern als Spätaussiedlerin. Aufgewachsen und erzogen in der Sowjetunion, hat sie mit ihren Eltern und zwei Brüdern in der Kleinstadt Krasnoturjinsk im Bezirk Swerdlowsk gelebt, einem Ort, der den Meisten geografisch sicher nicht bekannt ist. Die Stadt liegt am Ostrand des Nord-Urals, man könnte sagen, am Scheideweg von Europa und Asien. Irma Ehrlich hat sich nie, was ihre Zugehörigkeit betrifft, am Scheideweg befunden. Für sie war klar, dass sie eine Deutsche und somit auch Europäerin ist. Wie, wann und warum ist ihre Familie dort hingelangt, wer hat den Anfang gemacht? Ehrlich kann es nicht sagen. Ihre Großeltern hat sie nicht mehr kennen gelernt. Beide Eltern sind früh zu Waisen geworden. Ein Grund, nach Deutschland überzusiedeln ist sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass in ihrer Familie immer Deutsch gesprochen wurde. Die Eltern waren beide Lehrer und haben natürlich Hochdeutsch gesprochen. Auch deutsche Zeitungen gab es. „Ich fühle mich als Deutsche, weil meine Eltern Deutsche waren. Ich wollte einfach zwischen Deutschen leben, das war mein Wunsch“, untermauert Ehrlich, die als Buchrestauratorin, Setzerin und Buchbinderin gearbeitet hat, ihr Motiv noch einmal.

Sicher trägt zu diesem Wunsch auch die Tatsache bei, dass ihre Eltern nach Sibirien deportiert wurden. Dort war der Alltag immer ein harter. Mit einem dezenten Lächeln im Gesicht relativiert sie es etwas: „Die Deutschen schaffen das, die sind fleißig.“ Wohlgelitten als Deutsche waren sie nicht durchgehend. Das hätte nach dem Überfall auf die Sowjetunion auch verwundert, obwohl sie letztlich ja auch Opfer des großen Krieges wurden. Ihr Vater wurde in die Arbeitsarmee gezwungen und landete in Krasnoturjinsk, ihrer Geburtsstadt. Kurz nach dem Krieg durfte die Mutter Sibirien verlassen und gründete dort mit dem Vater eine Familie.

Ehrlich geht mit diesen Angelegenheiten sehr vorsichtig um. Einer ihrer Brüder hat das häufiger zu spüren bekommen, Schuldzuweisungen, Häme, Faschist, wer weiß, was er sich hat anhören müssen, sie spricht es nicht aus. Gleichwohl hat auch sie verbale Demütigungen manchmal erlebt. Aber sie versagte sich angemessene Repliken, das war und ist einfach nicht ihr Stil: „Meine Meinung steckt im Kopf. Bis jetzt.“ Es waren kleine Leute, Trinker, denen die hässlichen Bemerkungen rausrutschten.

Zurück nach Deutschland und in die Crellestraße, Berlin-Schöneberg. Wird sie hier respektvoll behandelt von den sogenannten autochthonen „Geburtsdeutschen“? Hat sie eine angemessene Beschäftigung gefunden, in einem Team, das hinter ihr steht, ihr hilft und sie nicht als Außenseiter brandmarkt? Ja!! Und sie geht zurück zu ihren Anfängen in Deutschland, sie spricht vom großen Glück, dass sie nach ihrem halbjährigen Sprachkurs auf eigene Initiative eine gute Beschäftigung in einem Familienbetrieb gefunden hatte. Und das, obwohl die Jobsituation beileibe nicht so rosig war und ist, wie uns die Politik stets glauben machen will. Ganze 18 Jahre ist sie jetzt schon hier. Nun tut sie Dienst als Bundesfreiwillige im Schöneberger Medienpoint. Und auch hier fühlt sie sich gut, sie ist das zweite Jahr hier. „Wir sind ein Team und Frau Büchner, meine Chefin, hilft immer, wenn ich etwas brauche.“ Ehrlich repariert Bücher und beseitigt kleine Schäden an ihnen. „Ehe die Bücher weggeworfen werden, versuche ich, sie wiederherzustellen“. Sie kann ein Buch von Anfang bis zum Ende von Hand herstellen. Das wäre ein schönes Geschenk für gute Freunde. Gibt es die, oder einen Partner? Schwer zu beantworten, sie zögert ein klein wenig. Ehrlich ist allein nach Deutschland gekommen.

Und möchte deshalb auch dort bleiben. Mit ihren ehemaligen Sprachkurskommilitonen telefoniert sie noch dann und wann. Am Anfang hatte man sich noch öfter getroffen. Was ist mit der russischen Community, da kann sie doch als zweisprachige Deutsche Kontakt aufnehmen und helfen? Sie könnte Ämtergänge begleiten, Formulare ausfüllen helfen, übersetzen. In diesem Rahmen könnte man sich zugleich treffen, austauschen, die Traditionen pflegen. Zeitweilig in die russische Seele schlüpfen und sich danach wieder rausschälen. Sie hat es probiert, es hat nicht geklappt. Und die Gemeinschaft lebt zum großen Teil in Marzahn, das ist weit weg. Ihre Eltern sind ein Vorbild für sie, ihnen möchte sie nacheifern. „Ich fühle mich gut. Ich lebe in Friedenau. Und ich sage immer wieder, ich habe den Frieden gesucht. Frieden habe ich gefunden.“ Ein schöneres Schlusswort lässt sich wahrlich nicht finden.

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