Das Gedächtnis der Baumschulenweger Bürger

Dagmar Gleim

Der Kulturring lädt Anwohner aus Baumschulenweg ein, die Geschichte ihrer Lebens- und Arbeitsbiographie in diesem Ortsteil zu erzählen. Dazu gehört neben herausragenden persönlichen wie zeitgeschichtlichen Ereignissen auch der unmittelbare Alltag, der einem im Lauf des Lebens widerfahren ist. Voraussetzung ist, dass die so genannten Zeitzeugen schon länger als 30 Jahre in diesem Treptower Ortsteil leben. Die derart gesammelten Schilderungen, Geschichten, Ereignisse sollen in einem Sammelband zusammengefasst und veröffentlicht werden. Zusätzlich bietet der Kulturring die Möglichkeit, weitere Zeitzeugen in Gesprächskreisen und Vorträgen zu treffen. Ein Gespräch von Zeitzeuge zu Zeitzeuge sozusagen.

Ziel des Projekts „Lebensläufe in Baumschulenweg“ ist die Erweiterung und Bereicherung der Baumschulweger Ortschronik. Laut Reno Döring, Koordinator des Kulturring in Berlin e.V., hat im Osten Deutschlands im Großen wie im Kleinen eine historische Aufarbeitung mit all ihren Facetten und Umbrüchen nahezu kaum stattgefunden. Viel zu wenige markante Zeitphänomene wurden gewürdigt und medial dokumentiert. Es geht hier vor allem um den Zusammenhang: die örtlichen historischen Änderungen zu verbinden mit den Reflektionen der Zeitzeugen.

Nun ist er und in Zusammenarbeit mit Nico Hermann Geburtshelfer dieses Unterfangens. Beide haben diese Idee entwickelt. Erstgenannter ist hinreichend bekannt. Hermann, der junge Projektleiter, soll hier noch vorgestellt werden. Er kommt von seiner Ausbildung her für diese Aufgabe eher aus einem dafür atypischen, technisch-mathematischem Fach. Da er aber ein großes Interesse für Geschichte hegt, hat er sich umorientiert und den Bundesfreiwilligendienst Kultur und Bildung im Kulturring in Berlin e.V. für sich entdeckt. Viel mehr verrät er nicht über sich. Ihm geht es darum, die Zeitzeugen in den Vordergrund zu stellen, sie sollen das Wort bekommen.

Der Ortsteil Baumschulweg hat viele ältere Bewohner. Die größte Gruppe der Einwohnerschaft stellen die Senioren zwischen 65 und 75 Jahren dar. Das kommt dem Anliegen sehr entgegen, denn diese Altersgruppe erfüllt die Voraussetzungen ja am besten. So könnte man gut aus dem Vollen schöpfen. Hermann bestätigt das mit einer leichten Einschränkung: „Es gibt natürlich auch im Kulturring sehr viele beflissene Menschen in diesem Bereich, die sich auch vernetzt hier zeigen und ihre Erfahrung austauschen bzw. an diesen Veranstaltungen teilnehmen. Tatsächlich war es aber schwieriger, diese Personen für das Projekt zu gewinnen.“

Was liegt Hermann am Herzen? Geht es bei den Befragungen auch um die großen historischen Findlinge, an denen die deutsche Geschichte immer kleben bleibt, den Nationalsozialismus, Mauerbau und Mauerfall? Die Antwort fällt ein wenig kryptisch aus. Mit seinem Projekt ist er sehr auf die Arbeitsbiographie und Sozialstruktur vor Ort fokussiert. Auf der einen Seite möchte er den Menschen die Möglichkeit geben, einfach ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Andererseits gebe es natürlich sehr viele Lebensereignisse, die mit großen oder größeren historischen Markierungen, Zäsuren oder Ereignissen zusammenfallen. So zielen seine Fragen auch darauf ab, in welcher Weise z. B. der Mauerfall miterlebt wurde, und ob das Ereignis zu bestimmten Lebensentscheidungen, zu bestimmten Lebensentwürfen geführt hat.

Wichtiger sind ihm die Fragen nach dem Leben an sich: wie diese Menschen in den kulturellen, historischen, politischen oder sozialen Kontexten, die sie erlebt haben, in denen sie ihre Entscheidungen getroffen haben, ihre Kleinalltäglichkeiten zu ihrem besonderen Lebensereignis haben werden lassen, zu diesen individuellen Persönlichkeiten, diesen Menschen geworden sind, die sie sind. Klingt sehr verkopft und ein wenig abstrakt. Hermann bezeichnet sich durchaus auch als Forscher, der sich an wissenschaftlichen Standards orientiert und nach der Wahrheit strebt. Er macht den Eindruck, als agiere er als Katalysator, der, im Hintergrund versteckt, die Leute zum Reden veranlasst.

Auf die Frage, warum er für seine Befragung gerade in Baumschulenweg seine Zelte aufgestellt hat, antwortet er wie folgt: Was die Anwohnerschaft sehr interessant mache oder herausragend sein ließe, ist deren Heterogenität. Die Baumschulenweger können nicht als Durchschnittsmenschen definiert werden. Es gibt eine soziale Durchmischung, eine Vielfalt an Menschen, und in gewisser Weise ist man hier in Vielfalt geeint. Ohne große Industrialisierung vor Ort, wie in anderen Ortsteilen, könne man von einem Bezug sprechen, der sehr auf das Leben und das Wohnen fokussiert sei. „Dass ich hier lebe und dadurch natürlich eine Verbindung dazu fühle, diese Menschen, die ja auch im Umkreis leben, kennen zu lernen, macht mir das Bemühen um das Fremdverstehen natürlich einfacher, auch weil ich in dem gleichen Kontext lebe“, fügt er an.

Wie bereitwillig sind denn seine Quellen, das Gewünschte zu liefern? Es gab schon bei den Befragungen, die bei den Vorgesprächen abgelaufen sind, eine große Bandbreite. Die Beantwortungen gingen sehr in die Extreme von: „Ich habe doch eigentlich gar nichts Interessantes zu erzählen“ bis hin zu „Gut, dass Sie fragen. Ich habe meine Autobiographie fertig. Wir können morgen starten“. Die ganze Palette sei dabei gewesen. Interessant, dass einige Personen, die dachten, sie hätten nichts Berichtenswertes zu erzählen, erfuhren, dass sie eine Lebensgeschichte haben, die interessant oder von Wert ist. Mit der es auch die Möglichkeit gibt, diese für weitere Generationen, in einem wertschätzenden Rahmen dokumentiert, zur Verfügung zu stellen.

Spielte Bildung bei der Auswahl eine Rolle? „Mein Vater meinte immer, man steht auch ohne Referenz, ohne Ausbildung, ohne Studium, ohne Abschluss, im Leben.“ Hermann sagt, dass ihn das als Person nicht interessiert. Klingt nach fairer, demokratischer Herangehensweise.

Die Zeitzeugen sind gefunden, auf die Ergebnisse kann man gespannt sein. Ein bisschen Zeit muss allerdings investiert werden. Noch befindet sich das Ganze im Stadium der Vorbereitung. Nachdem Auswahl und Vorgespräche stattgefunden haben, wird mit den Interviews begonnen, die anschließend transkribiert und vorgestellt werden. Dann werden aus dem theoretischen Gerüst Bilder entstehen, auf denen Menschen zu sehen sind, die mit ihren Geschichten eine greifbare Dreidimensionalität herstellen.

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