Wir dachten, in den Achtzigern geht es bergauf | 11 Fragen an Petra Hornung zu dreißig Jahren deutsch-deutscher Vereinigung

Es ist der 13. August 1961. In den frühen Morgenstunden beginnt in Berlin der Bau der Mauer. Bewaffnete Grenztruppen reißen das Straßenpflaster auf, errichten Barrikaden und spannen Stacheldraht. Die Mauer war ein Symbol des Kalten Krieges, der die Welt in Ost und West aufteilte. Am 7. Oktober 1949 war die DDR auf dem Gebiet der sowjet­ischen Besatzungszone gegründet worden. 1989 brachte eine friedliche Revolution den Fall der Mauer, das Ende der DDR und ebnete den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. Doch Deutschland ist in Vielem noch immer ein Land der zwei Gesellschaften. Der Weg zur „Vollendung der Einheit“ scheint mühevoller als gedacht oder erhofft. Matthias Platzeck, Chef der Kommission 30 Jahre Deutsche Einheit, macht zwischen Ost- und Westdeutschland eine wachsende Kluft aus. Er geht so weit zu sagen, dass die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die Demokratie, am Rande einer Krise sei. Nun sind es drei Dekaden her, dass sich Bewohner beider Seiten aneinander gewöhnen und sich schätzen lernen konnten. Friedlich ist damals die Vereinigung abgelaufen, aber auch für alle zufriedenstellend? Um das beantworten zu können, befragten wir Petra ­Hornung, freie Kunstwissenschaftlerin und schon über Jahre nicht nur beim Kulturring bekannt als exzellente Laudatorin, die quasi pars pro toto über ihre Sicht der Dinge spricht. Und herausgekommen sind viele überraschende, dem Klischee entgegen­stehende Antworten, formuliert mit der Sorgfalt einer feinen Differenzierung, die gerade deshalb ein Bild entstehen lässt, in dem sich so Mancher wiederfinden mag – aus Ost und West.

Dagmar Gleim: Der Himmel hat das Leiden unseres Volkes viele Jahre beweint. Er schien unwandelbar und unvergänglich, und doch hat er sich verändert. Heute ist er klar, aber schon morgen kann er mit Wolken bedeckt sein.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Haben Sie eine Idee, wer das gesagt haben könnte und wann, wenn auch in etwas abgewandelter Wortwahl.

Petra Hornung: Ja, es ist ja eine emotionelle Schilderung, und es hat mit Befindlichkeit zu tun, aber auch mit einer Unsicherheit, die hat man ja zu allen Zeiten.

DG: Könnten Sie diesen Spruch auch auf die Zeit in der DDR, in der Sie gelebt haben, anwenden?

PH: Ja, das ist so allgemeingültig. Wie es ist, könnte man es auch für die DDR anwenden. Es ist eine Beschreibung für eine Befindlichkeit, die auch um Klarheit geht, und – wenn man die hat, oder meint, gefunden zu haben – die man trotzdem wieder in Frage stellt. Das kann dir heute auch passieren. In dieser Allgemeinheit.

DG: Eine schöne Antwort, dennoch, ich hake noch einmal nach. Wissen Sie, wer das gesagt haben könnte? Der Spruch ist von mir ein klein wenig abgewandelt worden.

PH: Vielleicht Christa Wolff, keine Ahnung, ich weiß es nicht.

DG: Es ist auch ein Mitglied eines, ich sage es in Anführungsstrichen, geschundenen Volkes. Mit größerem Ausmaß des Leids.

PH: Nein.

DG: Häuptling Seattle, aus einer Rede, gehalten im Januar 1854.

PH: Der Schmerz ist ja nicht immer begrenzt auf bestimmte Abschnitte in der Geschichte. Er kommt immer wieder vor. Eigentlich ist Macht in allen Gesellschaftsordnungen mehr oder weniger intensiv und brutal präsent. Es gab ja nie Abschnitte in der Geschichte, die zu aller Zufriedenheit waren.

DG: Dann gehen wir einmal in medias res. Hat die Herkunft der Deutschen in der Bundesrepublik noch eine Relevanz, oder fühlt man sich als Ostdeutscher gebrandmarkt, herabgesetzt, verstoßen und abgelehnt?

PH: Also, was man fühlt, weiß ich nicht, das ist höchst unterschiedlich. Das kommt darauf an, wie die Lebenswege nach 89 weitergegangen sind, erfolgreich oder ge­bremst oder schicksalhaft tragisch oder so richtig gut durchgestartet. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Es gibt immer noch die Prägung in meiner Generation. Die Wende ist jetzt dreißig Jahre her, und ich habe das Eine wie das Andere erlebt. Und das Schöne für mich ist einfach: ich kann vergleichen, mich freut das mehr, als es mich belastet. Es gibt mentale Unterschiede. Das wird sich aber verwischen in den nächsten Generationen.

DG: Ich finde es gelungen und authentisch, dass Sie die Antworten so individualisieren. Demnach gibt es nicht nur die Meckerossis, es ist von Individuum zu Individuum ver-schieden.

PH: Die Bedingungen, unter denen Menschen nach der Wende leben oder gelebt haben, die spielen eine Rolle. Wenn es dir gut geht, findest du das alles ein bisschen besser als andere, die keine Arbeit mehr hatten und kein Geld und somit wenig Wertschätzung. Das kommt auf die eigene Mentalität an und auch auf eine bestimmte Klarheit, wobei auch nicht jeder in der Lage ist, diese zu finden. Insgesamt ist es ein großes Glück, das muss ich jetzt mal sagen, dass die Wende kam, wie auch immer.

DG: Sie fühlen sich wie eine Deutsche ohne Wenn und Aber. Oder ist etwas Drittes daraus geworden?

PH: Mit der Bezeichnung „ich bin ein Deutscher“ schwingt immer auch die ganze Vergangenheit mit. Zu DDR-Zeiten wurde dieser Terminus fast vermieden. Dieses deutsch sein, stolz sein, dass ich ein Deutscher bin ... Dies war immer beladen mit dem Blick auch auf die Geschichte. Das ist bis heute bei mir so geblieben. Ich würde mich schwer tun. Diese Selbsteinordnung hat aber nichts mit der Wende zu tun.

DG: Ich wollte gar nicht auf den Stolz zu sprechen kommen. Gleichwohl glaube ich, dass Sie schon einen gewissen Stolz haben. Was ich wissen wollte ist, ob Sie sich als Bundesdeutsche sehen und nicht mehr als Ostdeutsche.

PH: Ich bin eine Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Das hat weniger mit Gefühl zu tun, und ich fühle mich auch nicht herabgesetzt mit meiner Teil-DDR-Biografie.

DG: Sie hätten wahrscheinlich auch nicht gedacht, es reiche eine Reform der DDR, dann wäre die Vereinigung nicht passiert?

PH: Na ja, 1989 waren wir ja aufgerüttelt ohne Ende und auch wirklich bereit, alles Mögliche zu riskieren. Diese prekäre Situation damals musste ein Ende haben. Ich war im Verband der Bildenden Künstler, und dort wurden die ganzen Plakate gemalt, und wir sind auf die Straße gegangen, weil sie lächerlich geworden war, die ganze Situation. Eine Reform, wie es nach der Wende vom Runden Tisch ausgedacht war, das wäre vielleicht auch möglich gewesen. Aber das war von „drüben“ dann ja mehr oder weniger nicht gewollt. Man sagte immer, ein bisschen schwanger gibt es nicht, so wie es sie ein bisschen Kapitalwirtschaft auch nicht gibt. Da gibt es bestimmte Gesetze, damit die funktioniert. Es weiß aber niemand, ob das mit einer interessanten, politischen oder ökologischen Perspektive oder einem Konzept anders gegangen wäre, denn wir leben ja nicht in einer Demokratie, die nicht auch zu verbessern wäre. Die ist ja nicht ein für alle Mal so, wie sie ist, festgeschrieben.

DG: Das ist das Wesen der Demokratie. Die ist immer mit losen Enden versehen.

PH: Ja, aber die Demokratie funktioniert auch nur, wenn sie eine innere Mitte hat, und sich nicht die Pole Arm und Reich beständig zu entfernen scheinen.  Das hat nichts mit „losen“ Enden zu tun. Ich bin der Meinung, die Zeit des „Runden Tisches“ hätte auch eine Chance für eine westdeutsche Reform sein können. Die wurde nicht genutzt.

DG: Warum auch? Sie gelangten ja in ein effizientes System. Immerhin war es ein kapitalistisches System, das ein nicht kapitalistisches System auffing, unterstützte, um die Vereinigung überhaupt zu realisieren. Das sind ja Gelder, die nicht einfach so vom Himmel gefallen sind. Das waren Mittel, die erwirtschaftet wurden im Rahmen des kapitalistischen Systems. Ich möchte mal annehmen, dass die damaligen sozialistischen Länder nicht diese Möglichkeiten hatten, und es auch sicher nicht wollten, dieses Riesenobjekt Vereinigung mitzustemmen.

PH: Weiß ich nicht, das ist auch eine Sache, die nicht eindeutig zu beantworten ist. Heute redet man zum Beispiel ganz anders über die Rolle der Treuhand als vor fünf oder zehn Jahren. Und das freut mich sehr, dass ein bisschen differenzierter geguckt wird.

DG: Sind Ost und West, das ist wieder eine Frage, die in ähnlicher Form Ihnen schon gestellt worden ist, per se unterschiedlich wegen der unterschiedlichen Sozialisation, möglicherweise anderer Unterrichtsinhalte in Schule oder der Bildung allgemein? Meine Erfahrung ist, dass man sich auf gleichem Niveau gut verständigen kann, da hat man die meisten Schnittmengen. Da spielt es überhaupt keine Rolle, wer wer ist und von wo er kommt. Es sei denn, man spricht explizit über dieses Thema. Ist der Eindruck richtig?

PH: Das stimmt natürlich ganz genau. Das passiert Ihnen auch, wenn Sie interessante Leute treffen, die Sie aus irgendwelchen Gründen sympathisch finden, ob sie aus Polen kommen, aus Italien, aus Russland oder so. Das ist immer eine Geschichte, die hat mit Werten zu tun, die natürlich über Grenzen hinaus gehen. Ich würde sagen, selbst international gibt es immer schon Unterschiede zwischen Deutschen und Italienern so wie zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen. Aber Tugenden, so typische deutsche Tugenden, wie Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit, sind gleich, nach wie vor. Aber das ist auch ein wenig klischeehaft. Und natürlich, ob man Bücher liest oder nicht, das hat nichts mit den Grenzen zu tun. Das hat damit zu tun, welche Interessen man hat, und da findet man auch Verbündete, ob im Osten oder im Westen, spielt überhaupt keine Rolle, welche Bücher, welche Filme, welche Musik einen faszinieren.

DG: Es stimmt zumindest überein mit dem, was ich festgestellt und kennengelernt habe. Ich habe recht schnell Anschluss gefunden, wenn man das so sagen darf, als ich in den östlichen Teil Berlins gezogen bin. Und das geht auch, bewusst oder gefühlt, mit ähnlichen Schwingungen des Geistes einher. Trotzdem glaube ich, dass ich mich mit dem Einen oder Anderen schwerer tue, weil die Sicht der Dinge, sei es gesellschaftlich oder politisch, weit auseinanderklafft.

PH: Es gibt schon gewisse Prägungen. Das finde ich aber interessant, weil man doch über kurz oder lang merkt, die hatten eine andere Lebenssituation. Und wenn man offen aufeinander zugeht, und alles andere sympathisch ist, dann empfindet man das mehr als Bereicherung, denn als Abgrenzung. Ich sehe das genau wie Sie, es kommt darauf an, wie man auf die Leute zugeht. Und da gibt es ganz einfach mentale Unterschiede.

DG: A propos mentale Aufgestelltheit, ich habe bisweilen die eine oder andere Unzufriedenheit gehört, die eine oder andere unglückliche Formulierung und beziehe mich auf die Wahrnehmung der neuen Einwanderer, die nicht so sehr gelitten sind, insbesondere im Osten. Können Sie sich in diese Stimmung hineinversetzen?

PH: Das kann man ja auch nicht mit ja oder nein beantworten: Menschen, gut dass sie hier sind oder, wären sie mal dort geblieben.

Eine von den großen Tugenden im Osten war die Einstellung, dass alle Menschen auf der Welt gleich sind. Das gab es überhaupt nicht, wenn da jemand eine rassistische Äußerung machte. Oder Führers Geburtstag erwähnte, das wäre das Letzte gewesen. Aber es gab auch keine Integrationprogramme. Da gab es Leute aus Bulgarien, viele aus Vietnam zum Beispiel, die wurden ausgebildet und sind sozusagen als Ärzte, Facharbeiter oder Ingenieure wieder zurückgegangen. Und sind bis heute noch dankbar. Aber die waren unter sich, das war auch so gewünscht, und man war trotzdem froh, dass sie das Land wieder verließen, um zu Hause tätig zu werden. Hilfe zur Selbsthilfe! In Westdeutschland aber wird mit der Benennung Mulitikulti suggeriert, Integration sei eine leichte Angegelegenheit, ist sie aber nicht… Da müssen die Unterschiede akzeptiert werden. Es wird jetzt kritisiert, dass die Kanzlerin in 2015 die „Schleusen“ geöffnet hat. Ich muss sagen, ich fand die Situation so unerträglich und viele andere Intellektuelle auch. Die haben gesagt: „Mensch, die ganze Welt kann doch hier nicht zugucken, dass die Leute hunderterweise verrecken und ersaufen, absaufen." Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als diese Entscheidung kam. Das ist eine weibliche Entscheidung, eine zutieftst weibliche Entscheidung und eine christliche dazu. Ob sie richtig war, weiß ich nicht, es bringt auf jeden Fall einen Haufen Probleme, das muss man zugestehen. Aber unsere polnischen Mitbürger, alles Katholiken, die sagen, bleibt wo ihr seid oder lassen sie einfach ersaufen. Das ist für mich ein viel größeres Problem. Aber es gibt auch jene Hasspredigten von der Kanzel, in denen gesagt wird, dass wir Deutschen alle Idioten seien. Das muss reglementiert werden, da muss unsere Demokratie geschützt werden. Das sind wieder zwei Seiten, die wichtig sind, benannt zu werden. Es stimmt, es gibt eine Ausländerfeindlichkeit und immer unzufriedene Leute. Es ist genug Blödsinn passiert in den letzten Jahren nach der Wende. Es gibt keine einfachen Antworten, diese Arbeitslosogkeit, die man ja überhaupt nicht kannte, die eine ganze Generation beschädigt hat.

DG: Sie sprechen jetzt wieder von Ostdeutschland?

PH: Das ist wie in Amerika. Die haben einen Frust, die Männer, die arbeitslos sind und beschädigt, die Frauen natürlich auch. Männer kommen noch schlechter damit zurecht. Die Leute aus der DDR hatten ja anfangs große Hoffnungen, wollten Umschulungen machen und waren motiviert. Aber viele sind auf der Stelle getreten.

DG: Aber die DDR hätte auch keine Jobs mehr gehabt, die war schon Anfang der Achtzigerjahre pleite. Die Schulden zu tilgen hieße, neue Schulden aufzunehmen.

PH.: Was ist denn heute anders? Die Bundesrepublik hat auch Schulden.

DG: Da steht aber doch ein anderer Wert hinter, das ist doch ein ganz anderes Wirtschaftssystem.

PH: Das war so ein Argument und jeder hat die Klappe gehalten. Da wurde das ganze Schalck-Golodkowski-Imperium gar nicht mit einbezogen in die Bewertung – ein Todschlagargument…Aber offiziell wurde die finanzielle Situation am Ende der DDR heute revidiert – neuere Recherchen haben das ergeben.

Die Achtzigerjahre waren im Übrigen auch eine spannende Zeit. Intellektuelle und Künstler dachten ja noch, in den Achtzigern geht es bergauf. Das war eine hochinteressante Zeit. Ich war ja im Verband Bildender Künstler und konnte in das westliche Ausland reisen. Ich hätte auch ein Arbeitsangebot im Westen haben können. 1985 war ich sogar in Stuttgart. Ich hätte dableiben können, aber ich bin nicht gegangen, ich fand es hier im Osten interessanter, denn wir hatten noch die Illusion „Mehr Demokratie“.

Letztlich wollten sich die Leute nicht mehr bevormunden lassen, sie wollten die Reisefreiheit. Dass sie nun unbedingt Demokratieverfechter waren und deshalb in den Westen wollten, kann man nicht sagen. Ich spreche über meine Wahrnehmung, das kann ein anderer anders sehen.

DG: Das ist selbstverständlich. Meine Fragen wachsen ja auch aus dem, was ich glaube wahrgenommen zu haben. Ohne Anspruch auf Wahrheit und den Glauben, es besser zu wissen.

DG: Eine letzte Frage: Hat man denn das Gefühl, eine Heimat verloren zu haben?

PH: OK, man hat seine Wurzeln und bisweilen auch eine interessante Geschichte, aber eine Heimat verloren? Nee. Aber man möchte schon als ehemals „fremdes Volk“ dazugehören, aber schließlich gab es ja die Deutsche Einheit.

DG: Zum Schluss etwas Versöhnliches vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: Nachdem der Solidarpakt den Wiederaufbau und Neubau der Infrastruktur im Osten möglich gemacht habe, brauche es jetzt „einen neuen, einen ganz anderen Solidarpakt – einen der offenen Ohren und des offenen Austauschs, einen Solidarpakt der Wertsschätzung“. Frau Hornung, ich danke Ihnen ganz herzlich.

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