LTI ausgerechnet in Dresden

Reinhardt Gutsche

Es gehört zu den elementaren Wirkungs- und Handlungsprinzipien des Kulturring in Berlin e.V., das produktive Aufeinandertreffen der Kulturen zu befördern und somit einen Beitrag für das friedvolle Zusammenleben von Berlinern unterschiedlicher ethnisch-kultureller Herkunft zu leisten. Bei uns ist Multikulti nicht gescheitert, sondern tägliche Lebens- und Handlungspraxis unserer Mitgliedsvereine und Partner. Kultur ist per definition „multi“, d. h. speist sich permanent aus vielen Quellen. Ohne solche Zuflüsse trocknet jede Kultur aus. In Berlin leben gegenwärtig Menschen aus über 165 Nationalitäten. Dazu kommen jährlich über zehn Millionen Touristen aus aller Welt. Dies vor allem macht Berlin zur Weltstadt. Wir wollen in keiner Monokultur leben.

Daher kann es uns nicht kalt lassen, wenn sich allmontäglich in Dresden, ausgerechnet in Elbflorenz als einer der europäischen Kulturperlen, eine beängstigend wachsende Zahl von „Bio-Deutschen“ zusammenfindet, um unter dubiosen Losungen für die Wahrung des deutsch-kulturellen Reinheitsgebots zu demonstrieren. Auch wenn einer der Initiatoren, der übrigens einer inzwischen untergehenden Altpartei entstammt, der Bewegung ganz clever ein modisches europäisches Label anklebt („Patrioten Europas“), die deutsch-nationale, schwarz-weiß-rote Provenienz unseligen Angedenkens ist unüberseh- und -hörbar. Dabei ist diese Wortkombination eine contradictio in adiecto, denn ein Vaterland namens Europa gibt es nicht, auf das sich dieser „Patriotismus“ beziehen könnte. Allerdings gab es nach dem krachenden Ende Hakenkreuz-Deutschlands Versuche, eine solche „Nation Europa“ zu kreieren, und zwar u. a. in Gestalt der Zeitschrift „Nation Europa. Monatsschrift im Dienste der europäischen Neuordnung“. Zu den Herausgebern gehörte zeitweise der NPD-Gründer Adolf von Thadden. Gegründet wurde sie 1951 vom ehemaligen SS-Sturmbannführer und „Chef der Bandenbekämpfung“ im Führerhauptquartier Arthur Ehrhardt und dem Schriftsteller und ehemaligen SA-Obersturmbannführer Herbert Böhme. An deren Aufbau maßgeblich beteiligt war auch der ehemalige stellvertretende Reichspressechef der NSDAP Helmut Sündermann. In den 1960er Jahren erwarb der Herausgeber der „National-Zeitung“ Gerhard Frey ein Drittel der Anteile. Wie man sieht, entstammt der Slogan „Europa unser Vaterland“ der NS-nostalgischen Diskursküche der Nachkriegszeit. Die Pegidisten sollten dies bedenken, in welcher begrifflich-propagandistischen Ahnenreihe sie da hängen. Auch bei unbewussten oder gar ungewollten Traditionsbezügen kann es passieren: mitgegangen, mitgefangen usw. Auch die aktuellen politischen Verwandtschaften, wenn nicht gar Stichwortgeber, sind nicht von ohne: Die „Identitäre Bewegung Deutschland (IBD)“, zu der u. a. auch die „Nationalen Sozialisten Rostock“ gehören, fordert „den Schutz des europäischen Kontinents vor Überfremdung, Massenzuwanderung und Islamisierung“ und eine geistig-kulturelle Revolution der Jugend auf der Grundlage der sogenannten „ethnokulturellen Identität“. Auch die sich als „unabhängige Menschenrechtsorganisation“ verstehende „German Defence League“ will die „jüdisch-christliche“, und „griechisch-römische“ Traditionen bewahren, die sie vom Islam bedroht wähnt. Sie ist eng vernetzt mit solchen rechtsrandigen und teilweise VS-beobachteten Organisationen, Parteien und Internetblogs, wie „Pax Europa“, „Die Freiheit“, „Politically Incorrect“ usw.

Erklärtes unmittelbares Anliegen der Dresdner Spaziergänger ist es nun, unsere „christlich-jüdisch geprägte Abendlandkultur“ vor einer drohenden Islamisierung zu bewahren. Was denn nun, bitte schön, hat man sich darunter vorzustellen? In meinem alten Brockhaus von 1932 heißt es unter diesem Stichwort „Abendland“ lapidar: „Die Gegend, wo vom Standpunkt Italien aus, die Sonne scheinbar untergeht.“ In dieser Definition ist eher von einer Sinnestäuschung die Rede als von religiösen oder sonstigen Prägungen. Beim näheren Hinsehen ist „Abendland“ schlicht eine späte Eindeutschung des alten lateinischen „Occident“, erst im Nachhinein mythisch aufgeladen. „Das ist ein ganz weiter Begriff, da lässt sich beliebig viel eintüten. Das Abendland ist ein Mythos, der vor allem im 17. und 18. Jahrhundert Hochkonjunktur hatte: Er steht für eine Wertegemeinschaft, die griechisch-römische Philosophie mit christlichem Denken verbindet und den Eindruck erweckt, als habe sich die Antike im Christentum vollendet. Dabei ist der Begriff immer als Kampf- oder Ausgrenzungsbegriff verwendet worden.“ So der bekannte Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz („Die Welt“, 7. 1. 2015). Vor allem für die deutschen Romantiker wie Novalis sowie die Gebrüder Schlegel war dieser Mythos die begriffliche Vorlage für eine kulturtradierte Europaidee. Dieses Gedankenkonstrukt eines europäischen Kulturraumes umfasste ihnen zufolge alle Länder mit einem romanischen, germanischen und christlichen Erbe. Da sich jeder Begriff durch sein Gegenteil definiert, galt auch das „Abendland“ als Antinomie nicht nur zu einem islamisch gedachten Orient oder Morgenland, sondern auch zu dem nach dem großen Schisma von der griechisch-orthodoxe Kirche geprägten Osteuropa, das ebenfalls als „morgenländisch“ bezeichnet wurde. Als mythischer Übervater wurde dabei Karl der Große als vermeintlicher Einiger Europas und Herr über das christliche Abendland verehrt. (Ihm und dieser Idee zu Ehren wird noch heute alljährlich in Aachen der Karls-Preis verliehen.)Hatte Oswald Spengler zwischenzeitlich den „Untergang des Abendlandes“ an die Wand gemalt (1922), so war der Abendland-Mythos wenig später das doktrinale Essential der Hakenkreuzler geworden, die sich als Retter und Fortsetzer der nunmehr germano-zentristisch interpretierten abendländischen Kultur sahen. Ihre darauf fußenden paneuropäischen Ordnungsvorstellungen hatten vor allem die slawischen, russisch-asiatischen und jüdischen Kulturen und Ethnien im Visier der Fremd- und Feindbilder. Die Folgen sind bekannt. Die Defensivphase des Hitler-Krieges wurde dann auch folgerichtig unter dem Banner der Verteidigung des christlich-abendländischen Europas gegen die gottlosen Bolschewisten aus dem asiatischen Osten geführt.

Dieser Geist sollte trotz oder gerade der Niederlage von 1945 wegen den westlichen Teil Nachkriegsdeutschlands als ideologischer Steinbruch dienen. „Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muß sie als Einheit sehen.“ So der erste Bundespräsident Theodor Heuss 1950 bei einer Schulfeier in Heilbronn.

Auffallend bei einem solchen Rückblick ist das Fehlen jeglichen spezifisch jüdischen Identitätsbezuges bei der Charakterisierung des Abendlandes. Dies wiederum stellt sich als eine Erfindung der Pegidisten und der „Neuen Rechten“ heraus, nach dem Schicksal der Juden in Europa von den mittelalterlichen Pogromen der Kreuzzügler auf dem Wege zum Heiligen Grabe über jahrhundertelange Ausgrenzung und Diskriminierung bis zur Shoah eine bemerkenswerte intellektuelle Leistung. Darauf muss man erst mal kommen.

Zu dem plakatierten, entschlossenen Willen der „Patrioten Europas“ gehört die Verteidigung der deutschen Kultur, vor allem auch der deutschen Sprache. Dies wäre ja ein edles Anliegen, denn schließlich gilt die Gegend um Meißen, kaum zu glauben, als Wiege der deutschen Hochsprache. Aber anstatt jüngste höchstpräsidiale Forderungen aufs Korn zu nehmen, die deutsche Sprache als Amts- und Verkehrssprache durch Englisch abzulösen, haben die abendländischen Patrioten keine anderen Sorgen als die „zwanghafte, politisch korrekte Geschlechtsneutralisierung unserer Sprache“. Man mag solche Mätzchen nun in der Tat für alberne Surrogate halten, die an den fortwirkenden sozial-ökonomischen Ungleichheiten der Geschlechter keinen Deut ändern. Aber darin nun gleich nichts weniger als die abendländisch-christlich-jüdisch-europäische Kultur in Gefahr zu sehen, ist dann doch reichlich an den Haaren herbeigezogen. Immerhin erheben die „Patrioten Europas“ nicht die Forderung der Bayern, alle Immigranten hätten, bitte schön, auch zu Hause deutsch zu sprechen (was, wie das allgemeine Hohngelächter obdessen anmerkte, in Bayern nicht nur den Immigranten schwerfallen dürfte...). Sieht man sich allerdings das Positionspapier der „europäischen Patrioten“ genauer an, dann kann man schon um die Zukunft der Sprache Luthers und Goethes besorgt sein. Allein die Textgestaltung lässt jedem Deutsch-Lehrer die Haare zu Berge stehen.

Bei diesem Thema sei an einen großen Sprachkritiker der Hakenkreuzler erinnert, Victor Klemperer. Seine profunde Kritik der „Sprache des Dritten Reiches“ (Lingua Tertii Imperii - LTI), aus deren Geist, wie gezeigt, so manche sprachlichen Versatzstücke der Pegidisten entstammen, entstand - in Dresden...

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