Erinnerung an den Potsdamer Künstler Werner Nerlich

Reinhardt Gutsche

Die „Kultur News“ sind eine gute Plattform, gelegentlich auch an Künstler vergangener Zeiten zu erinnern, die auf die eine oder andere Art mit der Geschichte des „Kulturbundes“ verbunden sind, auf dessen Tradition sich der „Kulturring in Berlin“ ausdrücklich bezieht und in dessen Nachfolgeorganisation „Kulturbund e. V.“ er als Kollektivmitglied fungiert. Zu solchen erinnerungswürdigen Persönlichkeiten gehört auch der Potsdamer Grafiker und Maler Werner Nerlich, dessen 15. Todestag sich am 15. September jährte.

Seine frühe Prägung erfuhr der während des Ersten Weltkrieges in Neu-Babelsberg am Griebnitzsee geborene Werner Nerlich in einem von jüdisch-bildungsbürgerlicher Weltläufigkeit imprägnierten liberalen kulturell-geistigen Milieu. Zum Bekanntenkreis der Familie gehörte kein Geringerer als die Bauhaus-Ikone Mies van der Rohe. Er war es auch, der dem Jüngling davon abriet, angesichts der wirtschaftlichen Unwägbarkeiten den Architektenberuf anzustreben und stattdessen empfahl, zunächst sicherheitshalber das solide Malerhandwerk zu erlernen. Nerlich befolgte diesen Rat, bevor er dann in Berlin-Charlottenburg bei Hans Orlowski und Max Kaus Malerei studierte und sich danach in München näher mit der Wandmalerei befassen wollte. Seitdem bewegte sich das künstlerische Streben Nerlichs im Spannungsfeld zwischen Kunst und Architektur, zwischen freier Gestaltung und solidem Handwerk, zwischen zweckfreiem künstlerischen Spiel und funktionsgerichteter angewandter Form.

Der Kriegsdienst durchkreuzte zunächst die künstlerischen Aspirationen Werner Nerlichs. Ihn, der diesen Krieg verabscheute, verschlug es an die Ostfront. Er landete nach kriegsgerichtlicher Verfolgung wegen Wehrkraftzersetzung in einem Strafbataillon und durchlitt in vorderster Linie das Inferno von Stalingrad, dem er nur durch Desertieren gerade noch rechtzeitig mit halbwegs heiler Haut entkommen konnte. Dem Feuerschlund und Stahlgewitter entronnen, schloss sich Nerlich sodann in sowjetischer Kriegsgefangenschaft jenen mitgefangenen Kriegskameraden an, die im Nationalkomitee „Freies Deutschland“ (unter schwarz-weiß-roter Fahne!) durch Frontpropaganda an die Adresse ihrer einstigen, noch kämpfenden Kameraden mithelfen wollten, die Apokalypse dieses Krieges, Menschenleben rettend, zu verkürzen. Seine Aufgabe als Künstler war es hierbei, Plakate, Flugblätter usw. zu entwerfen. Wie Klaus Mann und Stefan Heym in amerikanischer, Alfred Döblin in französischer und Konrad Wolf in sowjetischer Uniform, kehrte auch Werner Nerlich auf Seiten der alliierten Kriegsgegner Deutschlands kämpfend in seine Heimat zurück. Er war unmittelbar an der Befreiung des Vernichtungslagers Treblinka beteiligt und wurde noch am Tage der deutschen Kapitulation in Berlin verwundet.

Die Kriegserlebnisse und die persönlichen Richtungsentscheidungen, die daraus erwuchsen, sollten auch Nerlichs künftigen Weg als Künstler bestimmen, nachdem er in seine Heimatstadt Potsdam zurückgekehrt war. Wie schon etwa die „Novembergruppe“ nach dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution gab es auch unmittelbar nach 1945 in Deutschland Künstler, die aktiv gestaltend und umwälzend in den anstehenden gesellschaftlichen Transformationsprozess auf ihre Weise und auf ihrem Gebiet eingreifen wollten und vor allem ein neues Verhältnis von Kunst und Gesellschaft anstrebten. In Potsdam war Werner Nerlich von Anfang an einer der ersten und aktivsten unter ihnen. Sein organisierendes Interesse und kreatives Engagement galt dabei vor allem dem Neuaufbau der künstlerischen Ausbildung, der Gebrauchsgrafik - er war einer der bekanntesten Plakat- und Schriftgestalter der DDR - sowie der Kunst am Bau. So war er Gründungsdirektor der Landesmalschule Brandenburg, der Fachschule für Angewandte Kunst Potsdam und später der Fachschule für Werbung und Gestaltung Berlin-Schöneweide mit einer Dépendance in Potsdam für Restauration und Farb- und Oberflächengestaltung. Als Landes- und später Bezirksvorsitzender des Künstlerverbandes kümmerte er sich mit Nachdruck, wie sich Zeitzeugen erinnern, um die sozialen Belange der Verbandsmitglieder und organisierte in der Villa Kellermann und im Potsdamer Marstall die ersten juryfreien Kunstausstellungen, u. a. mit Werken von Karl Hofer und Max Pechstein.Der mit Otto Nagel befreundete Mitbegründer des Kulturbundes in Brandenburg war natürlich auch nolens volens in die damaligen kulturpolitischen und ideologischen Glaubenskämpfe in der Hochzeit des Kalten Krieges und des Spätstalinismus‘ involviert, was ihn aber andererseits nicht davon abhielt, sich für den Erhalt der Potsdamer Garnisonkirche und des Stadtschlosses einzusetzen - leider vergeblich, wie sich erweisen sollte. Die politischen Plakate, die er in den Nachkriegsjahren und der späteren DDR schuf, sind von der zeittypischen, noch von der Zwischenkriegszeit inspirierten Ikonographie geprägt, wie sie mit ihren verkürzten Botschaften und signalhaften Bildmontagen, daran sei erinnert, so auch etwa in Frankreich oder Italien verbreitet waren.

Als Kunstlehrer legte Prof. Werner Nerlich in der Ausbildung der Studenten nachdrücklich Wert auf ein transdisziplinäres, komplexes künstlerisches Herangehen, aber auch auf das Vermitteln solider handwerklicher Fertigkeiten. Mit seinen zahlreichen Wandgestaltungen und anderen architekturbezogenen Werken im öffentlichen Raum wie dem Metallrelief an der Schwimmhalle Am Brauhausberg, dem Wandbild im Alten Rathaus und die Glockenstele auf dem Alten Friedhof hat er in seiner Heimatstadt Potsdam seine unverwechselbaren Spuren hinterlassen, aber auch im Ausland großes Ansehen erworben. Sofern noch nicht - wie vielerorts - einer geschichtsverleugnenden Bilderstürmerei zum Opfer gefallen, wirken sie heute schon wie archäologische Fundstücke aus einer untergegangenen Epoche in einem total transformierten städtebaulichen Umfeld, fremd und unverständlich für die einen, von verblassender Vertrautheit für die anderen. Sie widerspiegeln, da gibt es nichts zu deuteln, ein unzweideutig affirmatives, produktiv eingreifendes Verhältnis ihres Schöpfers zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die sein Schaffen gleichermaßen ermöglichten wie konditionierten und an denen er sich ohne Wenn und Aber mitverantwortlich fühlte.

Nach 1973 wandte sich Nerlich dann ganz der freien Malerei zu. Berühmt wurden vor allem die Ostsee-Motive aus dem Mönchgut-Zyklus. Mit ihrer kompositorischen Unruhe und kontrastreichen Farbdynamik geht ihnen jene gelassene Beschaulichkeit, meditative Versenkung und Melancholie ab, die eigentlich bei solcher Art von Gegenstand, Technik und Lebensphase des Künstlers zu erwarten wären. Die farbliche Kraft und kompositorische Bewegtheit dieser Aquarelle zeugten eher von einer Künstlerseele, die weit davon entfernt war, mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Sie scheinen eher von produktiver Aufbruchs- als resignativer Endzeitstimmung zu zeugen. Diese Landschaftsbilder aus dem Mönchsgut zwischen Klein-Zicker, Thiessower Haken und Moritzdorf im Süden der Insel Rügen sind eher sehr persönliche psychographische Äquivalente aufgewühlter innerer Seelenlandschaften des Künstlers, deren genaueren Bezüge heute nicht mehr zu ermitteln sind. Sie können ihre unbewussten Quellen ebenso in den kränkenden Umständen seiner Entlassung als Rektor wie in den tiefen seelischen Ablagerungen der Erinnerung an die Feuerstürme des Krieges haben.

Werner Nerlich war es nicht mehr vergönnt, die Millenniumswende zu erleben. Er legte, 84-jährig, am 15. September 1999 für immer den Pinsel aus der Hand, wie Picasso gleichsam „in den Stiefeln sterbend“. Führte er ein heroisches Leben? Gewiss hätte er ein solches Prädikat entrüstet von sich gewiesen, sowohl im Hinblick auf sein künstlerisches Schaffen wie auf sein Engagement während des Krieges an der Ostfront. Die gesellschaftliche Wertschätzung von Heldentaten ist erfahrungsgemäß - zu recht oder zu unrecht - den Schwankungen fluktuierender historischer Umstände unterworfen. Dies musste wohl auch der Potsdamer Ehrenbürger und Schöpfer des Potsdamer Stadtwappens Werner Nerlich erfahren - mit fortwirkenden Folgen...

Aber die Größe wirklichen Heldentums besteht bekanntlich nicht im Erheischen kurzlebiger, äußerer Anerkennung, sowenig großes Künstlertum zweckgerichtet vordergründig auf den kurzfristigen Erfolg schielt. Vielleicht war Werner Nerlich als Mensch und Künstler das, was der Kunstschriftsteller Karl Scheffler einen „innerlich heroischen Menschen“ nannte. Man werde dazu, so Scheffler, „zum guten Teil schon, indem man sich zweckfrei macht. Wer ohne Zweck ist, oder vielmehr, wer nur den einen Zweck anerkennt, der Gott heißt oder Notwendigkeit oder Gewissen oder wie man es sonst nennen will, zu dem erst kommt rechte Kraft. Jene Kraft, die nicht will, sondern muß.“

Zum 100. Geburtstag von Werner Nerlich wird 2015 in Potsdam eine spezielle Ausstellung vorbereitet - d. Red.

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