Der diskrete Charme der Flanerie
Ein essayistischer Streifzug & Interview mit Sabine Lata zum Maler Lesser Ury

Text und Interview: Martina Pfeiffer
Der Flaneur – nichts weiter als ein Spaziergänger in der City? Ein Geck gar, oder schlimmer noch, ein Bummelant? Nun, wer das meint, der hat noch nichts gehört von der Flanerie als einer besonderen Lektüre der Stadt. Die Gedanken-Gänge des Stadtbeobachters verdanken sich einem schlendernden Fußgängertum, begleitet vom schweifenden Blick. Die neue Sichtweise: eine kameraartig-mobile, gleichsam filmische Art der Wahrnehmung. Flanierkönig Franz Hessel spricht im Berlin der 20er Jahre vom "riesigen Magazin erster Blicke" des schau-lustigen Müßiggängers. Die Eindrücke ausgedehnter Streifzüge werden im Notizbuch oder auf dem Skizzenblock festgehalten. Eine Fülle von Realitätspartikeln, von vorbeihuschenden Impressionen – diese bewahrt der Flaneur in seinem sich kontinuierlich erweiternden visuellen Arsenal auf: Archivar von Momenten, gesammelt in der modernen Großstadt mit ihren Straßen und Plätzen, ihren Passagen und Schaufenstern, mit ihren Leuchtreklamen, den Cafés und Bars, Kaschemmen und Hinterhöfen. Flanierlust hat nichts mit dem Bedürfnis nach einem gepflegten Spaziergang zwecks Rekreation zu tun. Und Einer, der mit dem "Baedeker" ausgerüstet durch die Straßen zieht – nein, auch das ist unser Mann nicht. Die hastende Passantenschar und der hektische urbane Verkehr, die Vielzahl der Lichter und die scharfen Farbkontraste machen das Schauen für den Flaneur zu einem sinnlich-ganzheitlichen Erleben. Die Metropole in sich aufnehmend, bewegt er sich da, wo die Stadt tobt und auch da, wo sie verdämmert.
Der Flaneur tritt als Schwellenfigur zwischen Tradition und Moderne auf, als Bindeglied zwischen Ehemals und Neuerdings. Zwar ist er touchiert von den Energien der Stadt, von der Flut der Eindrücke – von alledem sieht er sich getragen, doch nie mitgerissen. Sein Flanieren: Kein zielloses Umherirren und dennoch alles andere als planvolles Vorgehen. Ein Balanceakt. Umgeben vom wogenden Getümmel und dennoch in Distanz zur Menge. Unvoreingenommen sein Blick, der das auf ihn Einströmende aufnimmt, aber nicht wertet. Flanerie-Optik geht in die Literatur und in die Bildende Kunst ein. Bereits im 19. Jahrhundert verschmilzt beim französischen Dichter Charles Baudelaire der Wahrnehmungsmodus des Künstlers mit dem des Flaneurs. Um sich von der nervösen Geschäftigkeit der Vorübereilenden, vom fortwährenden Aufblitzen und wieder Verlöschen abzusetzen, ist die Fortbewegung des eleganten "Stadtstreichers" – anfangs noch in Paris – betont langsam, um nicht zu sagen gemächlich. Walter Benjamin machte die Figur des Flaneurs unsterblich. Wie wir bei diesem Kunst- und Kulturkritiker erfahren, ist der Typus des Dandy-Flaneurs mit provokanter Gelassenheit sogar mit einer Schildkröte unterwegs, um das Tempo der Fortbewegung ins Extreme zu drosseln und damit das Bürgertum zu verblüffen.
Zu einem Zentrum der Umherstreifenden entwickelt sich auch Berlin. Der Flaniergestimmte, er protestiert gegen die Devise "Zeit ist Geld" und bürgerliche Effizienzerwägungen. Gegen die Tendenz, zum Funktionsteil im Produktionsprozess mit verinnerlichten Zeitdiktaten, zum Rädchen im Räderwerk degradiert zu werden. Die prekäre Identität des modernen Menschen durch Kontrollverlust, Instabiliät und Beschleunigung bilden die Folie, vor der sich der passionierte Fußgänger gewollt abhebt. Der Maler Lesser Ury (1861 – 1931) war sowohl auf den Pariser Boulevards als auch auf dem Berliner Pflaster zu Gange. Berliner Leben in der Umgebung des quirligen Tiergartenviertels, dazu die jähen Reflexe und farbigen Kontraste, all dies beobachtet der Maler und bannt das sich Verflüchtigende auf die Leinwand. Mit dem Flaneur teilt Ury die Vorliebe für die nächtliche Szenerie. Sein Freund, der Kunsthistoriker Franz Hermann Meißner schreibt: "Wer bei Anbruch der Nacht auf der Fußgänger-Insel mitten im Potsdamer Platz steht und in die Leipziger Straße hineinsieht, den umtobt nervenerschütternd die ganze Hölle. Von den elektrischen Lampen, den Gaslaternen, den Reflexen aus Läden […] dem Lackanstrich auf den Gefährten und auf dem Asphalt namentlich, wenn er von Regen feucht und glatt ist, schießt ein Orkan von Blitzen – ein Läuten, Schnauben, Rasseln, Rollen, ein Vorübergleiten, Wandeln, Auftauchen und Verschwinden von Menschen mischt sich dahinein – es ist ein wildes Chaos, das eines Menzels – oder eines Urys würdig ist."
Und noch ein anderer Ort alimentiert die neue Schau-Lust: das Café, darunter ausgesprochene "Künstlercafés". Unter den Künstlern selbstverständlich auch Intellektuelle, Theater- und Zeitungsleute sowie "Lebenskünstler". Der Journalist Egon Erwin Kisch damals: "Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muss, wenn man ein Kaffeehaus hat." Man trifft sich zum Schwätzchen halten, zum Philosophieren, zum Rauchen und in die Runde schauen, zum Schach- oder Kartenspielen. Maler stellen gemeinsam mit Galeristen Überlegungen zur Bildauswahl für die mögliche nächste Präsentation an. Schriftsteller kommen vorbei, um Verleger für ein Manuskript zu interessieren oder um von Feuilletonredakteuren Aufträge für Rezensionen an Land zu ziehen. Nicht selten machen sie im Café Notizen zum geplanten Roman: Sinneseindrücke, Gesprächsfetzen, Bemerkungen hie und da aufgeschnappt. Mit Theaterleuten lässt es sich über die verpflichteten Schauspieler ablästern oder bei der Gelegenheit das selbstverfasste neue Bühnenstück schmackhaft machen. Zeitungen liegen aus, was sich trefflich eignet, das Gelesene gleich in der Runde zu zitieren. Schwadronierend konnte man beeindrucken oder sich auch blamieren.
Das "Café Bauer", ein Caféhaus im mondänen Wiener Stil, bietet einige hundert (inter)nationale Zeitungen täglich an. Das Café am Boulevard Unter den Linden Ecke Friedrichstraße – 1884 das erste öffentliche Café in Berlin mit elektrischem Licht – ist Lesser Urys bevorzugter Aufenthaltsort. Hier schaut er sich die Gäste an, liest Zeitung, verköstigt sich oder spielt Billard. Mal ist das Café dickevoll, mal sitzen nur wenige Besucher oder Pärchen an den Tischen, je nach Tages- oder Nachtzeit. Daseinsfreude ebenso wie Großstadteinsamkeit und ihre Anschauungsobjekte, hier kann der Maler sie ausgiebig studieren.
Um beim Licht zu bleiben – neu und überraschend bei Lesser Ury: ins Dunkel verlegte Straßenszenen. Die mit tausend Augen gesehene Nacht. Gleißende Lichter auf regennassem Asphalt. Die Szenerie durchschossen von einem "Orkan von Blitzen", wie es Franz Hermann Meißner geschrieben hatte. Dazu setzt Ury mit sicherer Hand sattes Schwarz. Selbst Schatten und Kontraste hatten die französischen Impressionisten, schwarz meidend, weitgehend in Komplementärfarben gemalt. Ury schafft seinen eigenen impressionistischen Stil. Der Eindruck von unterschiedlich temperiertem Licht und dessen Spiegelungen lassen seine nächtlichen Straßenszenen wirken, als werde man bei der Betrachtung inmitten der geschäftigen Großstadt Zeuge eines namenlosen Geheimnisses. So malt nur einer, den die Lektüre der Stadt dazu gebracht hat, sich in die Dinge, auch in das Flüchtige und leicht Übersehbare, zu vertiefen.
Hervorzuheben: Die Flanerie wurde auch von Damen betrieben – sozusagen als "Flaneuserie". Künstlerinnen, die als Flaneusen gelten dürfen, das waren u.a. George Sand, Virginia Woolf, Martha Gellhorn, Jean Rhys, Agnés Varda und Sophie Calle.
Heute unterhalte ich mich mit Sabine Lata. Die Kunsthistorikerin hat 2023 eine Monographie mit dem Titel "Lesser Ury – Maler der Moderne" veröffentlicht. Dabei geht sie u.a. auch auf Urys Beobachtungsgabe, seine großstadttypische Motivik und das Lebensgefühl im modernen Berlin ein.
Frau Lata, wenn wir uns Lesser Urys Werke näher anschauen, was verrät die neue Sicht auf die Großstadt über den Künstler, dem wir diese Bilder verdanken?
S.L.: Sicherlich hat Lesser Ury seine Umwelt mit sehr wachen Augen wahrgenommen. Er hat Berlin durchstreift, vielleicht tatsächlich zu Fuß, war auf den breiten Straßen unterwegs, im Tiergarten, in den Cafés, hat die Hot Spots der Stadt aufgesucht und das Treiben der Menschen, der Flaneure und Amüsierwilligen beobachtet. Als Künstler hat er sich immer für das Licht und seine Effekte, seine Farben interessiert. In seinen Landschaften schwelgt er in Farben, in Italien sucht er das Sonnenlicht und malt seine Wirkung auf die Steine, auf das Wasser. Die Großstadtnacht bietet ihm nun alle Möglichkeiten, Kunstlicht darzustellen: das Licht der Gaslaternen, das elektrische Licht, die Scheinwerfer der Autos, die Regenpfützen, die das Licht zurückwerfen etc. Das muss ihn herausgefordert und fasziniert haben.
Die strenge Fluchtpunktperspektive bei Ansichten von Straßenzügen in der Metropole geben Urys Szenen etwas Unwirkliches, oftmals sind die Figuren angeschnitten dargestellt. Was wird damit erreicht in Bezug auf Sicht und Darstellung der modernen Großstadt und ihrer Menschen?
S.L.: Ich finde, die Anwendung diese strengen Fluchtpunktperspektiven, die den Szenen etwas Unwirkliches verleihen, oder auch diese merkwürdigen Bildausschnitte machen Urys Kompositionen zu etwas sehr Speziellem, es sind beinahe abstrakte Bilder, die da entstehen, die Wirklichkeit ordnet sich der Komposition unter. Gleichzeitig muss man auch an Fotoschnappschüsse denken.
Manche seiner Bilder vermitteln den Eindruck, als stünde der Maler auf geheimem Beobachterposten und betrachte von dort aus das Großstadtgetriebe, die Passanten und die vorbeifahrenden Droschken, z.B. auf dem Bild "Frühling im Tiergarten". Wie macht der Maler das?
S.L.: Ury hat gewiss sehr viel beobachtet. In den Cafés hatte er dazu Gelegenheit und konnte es unbemerkt machen, während die Besucher mit anderem beschäftigt waren, mit Lesen, Schreiben, Nickern oder Nachsinnen. Auf „Frühling im Tiergarten“ vermittelt Ury, er stünde auf geheimen Beobachtungsposten, indem er zwischen dem Betrachter und der Dame in der Kutsche eine Reihe schlanker Baumstämme platziert, die fast wie ein Vorhang wirkt. So wird der Betrachter scheinbar Zeuge des Zusammentreffens einer jungen Frau mit einem Spaziergänger.
Paris bei Tag und bei Nacht, hat Lesser Ury mehrfach gemalt. Mit fast 65 Jahren reiste er nach London. Zuvor war er u.a. in Italien, Holland und Belgien unterwegs. Was ist das Spezifische an Berlin, das in seinen Bildern zum Ausdruck kommt? Was faszinierte ihn am alten Stadtzentrum - Unter den Linden, Pariser Platz, Leipziger Straße - das man flanierend erkunden konnte?
S.L.: Mit Berlin verband Ury wohl eine Art Hassliebe – so kann man es vielleicht sagen. Er konnte fürchterlich auf Berlin schimpfen und musste ja auch in unregelmäßigen Abständen die Stadt zeitweise verlassen. Als moderne Metropole lieferte ihm Berlin jedoch mit den langen, schnurgeraden Straßen, den interessanten Blickachsen, den Flaneuren und Passanten, dem Kutschen- und Autoverkehr unendlich viele Motive. Ury war fasziniert von Automobilen, die er auf seinen Bildern sehr häufig festhielt.
Berliner Leben in der Umgebung des Tiergartenviertels, mit Wagemut zu koloristischer Akzentsetzung und zum Spiel mit Lichtreflexen sind das eine. Ury malte später aber auch die "Nächtliche Szene am Kurfürstendamm mit Blick auf die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche" (1925). Ab Mitte der 20er Jahre war der Kurfürstendamm die erste Adresse des Amüsierbetriebs. Wie fängt Lesser Ury die Atmosphäre auf dem Gemälde ein?'
S.L.: Die Wiedergabe dieser besonderen Stimmung, also wenn die Nachtvergnügungen ihr Ende gefunden haben und alle zu den Autos streben, um heimzufahren, ist ihm hier wirklich gut gelungen. Es ist einerseits die Regenstimmung, die der Darstellung die besondere Atmosphäre verleiht, herbeigezaubert durch die Reflexe der Scheinwerfer in Form gelber Streifen und die silbrigen, zarten Lichter auf den glänzenden Gehsteigen. Die Figuren sind nur hingetupft ohne scharfe Konturen, aber durch ihre Dopplung erhält die Komposition auch eine dynamische Note. Man fühlt als Betrachterin regelrecht den Regen und die Eile der Frauen, in die Wagen zu steigen.
Ja, das Atmosphärische einzufangen, wie meisterhaft er das beherrscht, erkennt man auf den vielen Abbildungen seiner Gemälde in Ihrer Monographie. Sie schreiben, Lesser Ury schätze, wie viele bekannte Flaneure übrigens, das Flair des Café. Er war oft zu Gast im Café Bauer. Was zog ihn bereits ab den 1880er und 90er Jahren und dann auch später in gerade dieses Café?
S.L.: Ich kann nur vermuten, was Lesser Ury in dieses Café gezogen hat, und nicht etwa in die Cafés im Westen der Stadt, die ja eigentlich näher gelegen waren (von seinen Wohnungen aus gesehen): Zum einen war das Café Bauer legendär, eine Instanz, weil es eines der ersten Häuser war, wenn nicht gar das erste, das einem Wiener Kaffeehaus nachempfunden war. Das heißt, es gab dort eine Vielzahl an Zeitungen und Zeitschriften aller Art. Man konnte sich im Prinzip den ganzen Tag dort aufhalten, wahlweise auch im Freien auf der Balkonterrasse, von der man auf die Straße „Unter den Linden“ schauen konnte. Als Künstler hatte man auf diese Weise Gelegenheit, die Lesenden und Trinkenden unauffällig zu beobachten und zu zeichnen. Außerdem soll es das erste Café gewesen sein, das elektrisches Licht besaß – und es lag mitten im Amüsierviertel.
Es gibt da eine Lithographie von 1919, "Abend im Café Bauer". Wie gelingt es dem Maler, dass der Bildbetrachter glaubt, er betrete selbst das Café?
S.L.: Der Betrachter hat den Eindruck, er bewege sich gerade selbst zwischen den Tischen, weil sie ganz nah an ihn herangeholt sind, herangezoomt, würde man heute sagen, und er scheinbar von einem höheren Blickpunkt aus auf den Rücken des Lesers blicken kann, der sich unmittelbar vor ihm befindet. Gleichzeitig darf er seinen Blick hinüber zu der Dame schweifen lassen und dann durch die Tür hinaus auf die Terrasse. Alle Eindrücke prasseln auf ihn ein und die Darstellung erhält etwas ganz Unmittelbares.
Um 1920 malt Lesser Ury "Im Café". Wie drückt Lesser Ury die Unverbundenheit des nebeneinandersitzenden Paares aus, die Einsamkeit zu zweit?
S.L.: Kompositionell trennt Ury das Paar durch die Mittelachse, die durch den weißen Vorhang gegeben ist und durch den geschickten, koloristischen Chiasmus, Dunkel vor Hell und Hell vor Dunkel. Genau an der Stelle der Mittelachsen, an der sich die Ellbogen berühren könnten, besteht eine kleine, entscheidende Lücke, die das Paar trennt.
Jenseits der traditionellen Rollenzuschreibungen waren Frauen im Wandel der Zeit in Vergnügungslokalitäten neuerdings auch ohne männliche Begleitung unterwegs. Frauen wurden zuvor dargestellt in bürgerlichen Intérieurs bei der Handarbeit, beim Lesen, beim Schreiben oder beim Musizieren. Berlin 1921: "Straßenszene. Auf dem Potsdamer Platz". Was erfahren wir von Lesser Ury, ganz besonders auf diesem Bild, über die "neuen" Frauen?
S.L.: Lange Zeit war der Wirkungsort von Frauen die häusliche Umgebung. Darstellungen von Frauen bei der Handarbeit haben prominente Vorläufer im 17. Jahrhundert, etwa in der niederländischen Malerei. Zu Lebzeiten Urys änderte sich die Situation der Frauen, auch bedingt durch den 1. Weltkrieg. Viele Männer fielen als Arbeitskräfte aus. Sie waren gefallen oder kehrten als Kriegsinvaliden heim. Frauen waren oft gezwungen zu arbeiten und den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Frauen auf Urys Bild präsentieren sich selbstbewusst, ohne männliche Begleitung und in modernen, kurzen Kleidern im Bildvordergrund. Die kurzen Kleider lösten die langen, unpraktischen Roben der Kaiserzeit ab, die mit Korsett getragen wurden. Die neue Mode umspielte die weibliche Figur und bedeutete mehr Bewegungsfreiheit. Gleichzeitig betonte sie nicht mehr Taille, Brust und Po und wirkte androgyner. Ury überlässt den Frauen auf seinem Bild sehr viel Platz, womit er auch ihr neues Selbstbewusstsein ausdrückt. Dabei bleibt übrigens offen, ob es sich bei den Frauen, so wie auf dem berühmten Bild von Ernst Ludwig Kirchner, um Prostituierte handele.
Im Hinblick auf das Projekt "Literatinnen und Literaten in den Ring" interessiert mich natürlich auch das: Was hat Sie persönlich motiviert, eine Künstlermonographie zu Lesser Ury zu schreiben?
S.L.: Ich hatte mich in den letzten Jahren zunehmend für die Kunst der Berliner Moderne interessiert und wollte schon seit langem gerne tiefer in diese Zeit eintauchen. Zunächst dachte ich an ein Buch über Max Liebermann, dessen Bilder ich sehr schätze. Aber natürlich wurde zu Liebermann schon ausgiebig publiziert. Lesser Ury dagegen ist eine richtige Neuentdeckung und wurde zu Unrecht bislang nur wenig beachtet. Ich selber kannte vor allem seine beeindruckenden Großstadtbilder. Ich war dann aber völlig überrascht, als ich seine wunderbaren Landschaften sah, die er oft in farbsatten Pastellkreiden festgehalten hatte. Einfach magisch. Auch der jüdische Aspekt von Urys Kunst interessiert mich sehr. Gerne hätte ich mich mit diesem Thema noch weiter beschäftigt.
Leider wurden einige Bildschöpfungen von Ury zerstört und viele Werke befinden sich heute in Privatbesitz und im Kunsthandel, aber manche sind auch in öffentlichen Sammlungen zu sehen, in der Berlinischen Galerie, in der Alten Nationalgalerie und im Jüdischen Museum.
Bei einer Künstlermonographie, da ist doch die gründliche Recherche unerlässlich. Wie sind Sie vorgegangen, wo wurden Sie fündig?
S.L.: Ich habe natürlich erst einmal die Literatur gelesen, die es bereits zu Lesser Ury gibt und darauf geachtet, welche Schwerpunkte sie setzt. Außerdem habe ich mir die Werke des Künstlers, die in öffentlichen Berliner Sammlungen ausgestellt sind, im Original angesehen und mir über Ausstellungs- und Auktionskataloge einen größeren Überblick verschafft. Dann musste ich mir überlegen, welche Akzente ich setzen wollte und wie meine Werkauswahl am besten in Kapitel zu gliedern wäre. Ich wollte keine chronologische Ordnung, sondern dachte an eine unterhaltsamere, thematische Gliederung. Man soll durch das Buch blättern, als ginge man durch eine Ausstellung – nur eben Zuhause. Man kann jederzeit wieder zurückgehen bzw. zurückblättern. Natürlich hätten bestimmte Bilder auch in andere Kapitel gepasst, aber ich musste mich entscheiden. Dabei habe ich versucht, darauf zu achten, dass die Bilder innerhalb eines Kapitels möglichst abwechslungsreich sind, dass also in einem Kapitel nicht nur Druckgrafik zu sehen ist.
Um zum Schluss nochmals auf die Flaneure und die neuen Sicht- und Arbeitsweisen in Bildender Kunst und Literatur zurückzukommen: Frau Lata, sind auch Sie in einem Café Ihrer Wahl in Berlin anzutreffen, und da womöglich gerade beim Schreiben? Oder gibt es andere favorisierte Arbeitsorte?
S.L.: Ich arbeite gerne in der Kunstbibliothek am Kulturforum. Mein Lieblingsplatz befindet sich direkt am Fenster, wo das Licht seitlich einfällt und ich auf die Philharmonie blicken kann. Wenn der Himmel blau ist und das Konzerthaus golden strahlt, ist das wunderschön. Weil alle arbeiten, herrscht in der Kunstbibliothek eine konzentrierte Atmosphäre. In Cafés kann ich leider gar nicht schreiben, da fehlt mir die Ruhe, obwohl es dem Thema wohl angemessen gewesen wäre. Aber in Cafés bin ich so von der Betrachtung der anderen Gäste abgelenkt, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Lesser Ury hätte das sicher verstanden.

Sabine Lata studierte Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Neuere Germanistik in Bonn und Paris. Sie arbeitet in Berlin an Ausstellungsprojekten sowie in der Kunst- und Kulturvermittlung und ist Autorin zahlreicher Audioguides und Sachtexte. Die promovierte Kunsthistorikerin ist Kuratorin der Ausstellung, die von Januar bis April 2024 mit einer kleineren Auswahl der Bilder lief ("Auftakt. Von Odessa nach Berlin") und die auf die große Sonderausstellung einstimmte, die von 24.01.2025 bis 22.06.2025 in der Gemäldegalerie Berlin zu sehen sein wird. Sabine Lata erforscht die Herkunfts- und Motivgeschichte der Bilder. Von Berlin aus soll die Ausstellung durch Europa wandern und hoffentlich wieder nach Odessa zurückkehren. Gezeigt werden Werke des "Museums für westliche und östliche Kunst", eine der größten Kunstsammlungen Odessas. Mit Sandsäcken hatten Mitarbeiter das Museum zu Beginn des Krieges gegen die russischen Bombenangriffe gesichert. Später wurden Werke des Museums in einem Notlager aufbewahrt. In einer Nachtaktion kam ein Teil der Bilder im September 2023 nach Berlin. So konnten einzigartige europäische Kunstwerke des 16. bis 19. Jahrhunderts gerettet werden. Neben Igor Poronyk (Direktor des o.g. Museums in Odessa) äußern sich Dr. Dagmar Hirschfelder, Direktorin der Gemäldegalerie und Dr. Sabine Lata zur Auftaktspräsentation in folgendem rbb-Beitrag.