Vom Suchen und Finden der eigenen Gangart
Wie die Farbe Weiß, eine Leica und ein deutsch-russischer Film Kornelia Bojes Leben prägten
Stellen Sie sich vor, liebe Kornelia Boje, Sie gehen in eine Ausstellung, in der monochrom weiße Bilder zu sehen sind – von Rauschenberg etwa oder wie man sie von Robert Ryman kennt – Wie würde Ihnen das als Autorin des Romans gefallen, den Sie "Gesang der weißen Wände" betitelt haben?
K.B.: Nun, ich würde mich fragen, was den Künstler dazu bewogen hat, und was sich in seinem Kopf abspielt, wenn er diese Art Kunst herstellt, was er "sieht", wenn er beschließt, das Bild als fertig zu betrachten - auch würde ich mich fragen, was die neben mir stehenden Betrachter "sehen". Ich würde es als Aufforderung des Künstlers annehmen, mir über die Kunst an sich Gedanken zu machen.
"Es war das Weiß des Wals, das mich vor allem entsetzte", diesen Satz finden wir in Herman Melvilles "Moby Dick". Ein eigenes Kapitel in seinem Monumentalwerk widmet Melville dem Weiß des Wals – Eine mögliche Lesart: aus der Farbe Weiß erwächst ein Angstzustand, der zugleich hypnotisierend wirkt. Wofür steht die Farbe Weiß bei Ihnen?
K.B.: Die Farbe Weiß schwirrte in meinem Kopf, jedes Mal, wenn ich aus einer Narkose erwachte. Und wenn ich dann endlich die Augen öffnen konnte, war es das Weiß der Wände, der Kittel der Ärzte, der Schwestern, der Pfleger, Gesichter verschwammen noch, ich war auf die Stimmen angewiesen. Erst, wenn ich angesprochen wurde, war ich wieder im Leben.
Ihrem Roman "Gesang der weißen Wände" vorangestellt sind zwei Zitate. Von Rose Ausländer der Vers: "Was vorüber ist/ist nicht vorüber. Es wächst weiter/in deinen Zellen/ein Baum aus Tränen/oder vergangenem Glück". Und von Arno Geiger die Sentenz: "Erfahrung bildet Narbengewebe". Könnten Sie andeuten, worauf Sie die Leserschaft damit einstimmen wollen?
K.B.: Diese beiden Zitate liegen schon lange in meinem Herzen, und sie passen für mein Empfinden sehr zu dem, was Esther und auch was Sebastian auf dem Weg zum Erwachsenwerden, zur "Selbstfindung" durchmachen. Für mich klingen beide Zitate hoffnungsvoll und beruhigend. Und die Leserschaft wird sich vielleicht denken, na, eine Komödie wird's ja wohl nicht.
Erstes Kapitel, erster Satz: "Komm, sagte der Affe, lass uns ein Tänzchen wagen…" Muss man nicht körperlich absolut beweglich, aber ansonsten ein wenig närrisch im positiven Sinne sein, um diesen Tanz mit dem Affen zu wagen?
K.B.: Nee, absolut beweglich muss man nicht sein, ist ein Affe, der wird's auch nicht so gut können, aber närrisch, ja, das absolut!
Der Tanz mit dem Affen und die Ausprägung einer eigenen Gangart auf dem Weg zur Selbstfindung – Wo sind die Verbindungslinien?
K.B.: Das DENNOCH.
Der Gedanke, der Mensch als solcher bleibe, so sehr er sich bemüht, doch immer "unvollendet", zieht sich offenbar leitmotivisch durch Ihr Buch. Für diese Erkenntnis, die sich gegen jeden Perfektionismus als überzogenen Anspruch an sich selbst wendet, schaffen Sie im Romanverlauf eine Akzeptanz. Würden Sie dieser Beobachtung zustimmen?
K.B.: Ja, auch hier absolut.
Der letzte Teil Ihres Romans spielt auf Hiddensee. Welche Rolle kommt diesem Ort beim Suchen und Finden der eigenen Gangart zu?
K.B.: Hiddensee ist und bleibt ein Sehnsuchtsort. Diese Insel lädt ein, sich auf sich selber einzulassen, besonders, wenn man allein dort ist, oder mit Jemandem, der schon "weiter" ist als man selber, so dass ein stilles Miteinander gelingt.
Der Weg zur Ausprägung einer eigenen Gangart ist – so habe ich Ihr Buch gelesen – viel von Versuch und Irrtum geprägt. Von Ihnen habe ich noch eine andere Geschichte gelesen. Sie trägt den Titel "'Jeremias' oder wie ich auf den PC kam". In ihr beschreiben Sie Ihre Erfahrungen mit der Computertechnologie – anfänglich ein echter Hindernisparcours. Ihre Schriftstellerkollegin Elfriede Jelinek zollt dem Computer höchste Anerkennung mit der Aussage, er sei wie für sie erfunden. So hält sie z.B. jedes Textstadium akribisch durch Sicherheitskopien fest. Stehen Sie auch heute noch auf Kriegsfuß mit dem Computer oder teilen Sie mittlerweile Jelineks Begeisterung?
K.B.: Oh ja, Elfriede Jelinek hat Recht. Ohne den PC wäre ich ja in Zetteln und Durchgestrichenem ertrunken. Auch könnte ich nicht meine Fotografien bearbeiten, nicht die Negative meines Vaters einscannen und retuschieren und so der Nachwelt erhalten. Ich habe sogar beide Systeme, Windows und Apple, weil man so nicht überrumpelt wird, wenn einer nur das andere hat.
Was war bei Ihnen das auslösende Moment für den Wunsch, mit dem Schreiben anzufangen?
K.B.: Mein erstes Märchen schrieb ich mit 20 Jahren im Gipsbett liegend, ich vergaß es jedoch, mein Vater hat es aufgehoben und abgetippt, denn es war sicherlich nicht leicht zu lesen, mit krakeliger Handschrift, auf dem Rücken liegend und die Hände hochhaltend, denn ich konnte mich ja nicht bewegen. Erst heute habe ich es gefunden, in einem großen Stapel unserer Korrespondenz, die er aufgehoben hat, denn er schrieb immer auf Durchschlagpapier, so dass ich nun mein Leben, meine Entwicklung von meinem 15 Lebensjahr bis zu seinem Tod 1992 verfolgen kann.
Ulla Hanson, die Hauptfigur Ihres letzten Romans "Ullas Erwachen", ist Fotografin. Sie sind es auch. Die Versuche, ein Schriftstellerinnen-Ich herauszubilden, gingen bei Ihnen mit dem Wunsch einher, sich fotografisch auszudrücken. Ihr Vater, der Fotograf Walter Boje, galt ja in der Branche als "Feuilletonist mit der Kamera", er war wegweisend für die gestaltende Farbfotografie. Wegweisend auch für Sie?
K.B.: Ich begann in meinen 30ern Gedichte, Kurzgeschichten und Hörspiele zu schreiben. Später kamen Feature für den SWR, den Hessischen Rundfunk und den BR dazu, zeitgleich mit meiner Fotografie, die wurde ausgelöst durch eine Leica, die ich vom Vater zum 40. Geburtstag bekam. Fotografieren habe ich gelernt, indem mein Vater mich fotografierte, auf der Bühne, im Fernsehstudio oder im Studio der Agfa in Leverkusen, wo er viele Jahre Leiter der Public Relations war und die Farbfotografie in Deutschland zum Blühen brachte, mit seinen Tanzfotografien und mit der Ausstellung "Magie der Farbe" auf der "Photokina" in Köln 1961, mit der er und seine Kollegen dann in Venedig den Goldenen Löwen gewannen.
Männer und Frauen aus der Kulturszene im entsprechenden Ambiente vor die Linse zu bekommen, etwa wie im Fall der Fotografin Gisèle Freund. Hat das etwas für Sie oder setzen Sie fotografisch eher auf den Alltag?
K.B.: Ich habe ja durchaus schon eine ganze Reihe berühmter Frauen und Männer vor die Linse bekommen, da kann ich nicht jammern. Dennoch ist der Alltag auch in einigen meiner Fotothemen zu finden. Ich habe verschiedene Themenkreise in meiner Fotografie: Tanz, Theater, Portraits, Kinder. Architektur: Abriss und Aufbau. Wasser, Strukturen, Technik. Städte-Erkundungen: Berlin, Venedig, New York, Frankfurt, Hamburg, Hiddensee, Istrien, Italien, Lanzarote, Russland, Siena, Spreewald, Zürich.
Sie haben zahlreiche Hörbücher als Sprecherin aufgenommen und haben sich auch in dieser Sparte etabliert: Kommt es Ihnen beim Einsprechen darauf an, eine Tür zum Textverständnis aufzustoßen, oder mehr auf das Kreieren von Atmosphäre?
K.B.: Wenn ich ein Hörbuch einlese muss ich den Text nicht nur verstehen, ich muss ihn auch lieben, denn auch die Hörer möchte ich zu dieser Liebe verleiten.
"Das Fräulein von Scuderi" ist eines der Hörbücher, das Sie gemacht haben. Stellen wir uns mal vor, E.T.A. Hoffmann hier mit uns am Tisch, vermutlich ein Glas Wein vor sich. Würden Sie ihn bei dieser Gelegenheit gerne zum Fräulein von Scuderi befragen?
K.B.: Oh, das Fräulein von Scuderi hat so eine Art, die ich dem Herrn E.T.A. Hoffmann selber zutrauen würde. Aber ich bin ihm dankbar, dass er diese Figur einer weiblichen Person zugeordnet hat, so dass ich das Fräulein von Scuderi nun auch zum dritten Mal, diesmal für ein Online-Hörspiel, spielen durfte.
Schlagen wir ein weiteres Kapitel in Ihrem Leben auf: Kornelia Boje und der Film: Welche Filme, in denen Sie selbst gespielt haben, würden Sie als lebensabschnittsprägend bezeichnen?
K.B.: Lebensabschnittsprägend war für mich "Bereg" - "Das Ufer", die erste deutsch-sowjetische Co-Produktion. Es ging in dem Film darum, was im 2. Weltkrieg die russischen Soldaten den deutschen Frauen angetan hatten, der erste Versuch einer Aufarbeitung - 1981, noch keine Perestroika in Sicht, und wir drehten, weil die Negative der Szenen, die wir in Hamburg gedreht hatten, aus unerfindlichen Gründen zerstört waren, in Moskau alles nach. So kam ich nach Moskau und das war der Beginn einer neuen Zeit und Erfahrungen für mich, ich nenne es rückblickend "Mein russisches Leben". Mein Filmpartner war damals Bernhard Wicki. In jener Zeit in der Sowjetunion habe ich Russisch gelernt. Aus meinen Moskauerlebnissen sind dann auch im Laufe der Jahre mehrere Features für den SWR entstanden, darunter "Nach Moskau…": Eine Erzählung über meine Erfahrungen in Russland von 1982 bis 1994, mit Zitaten und Musik. Und lebensabschnittprägend war natürlich auch der Film "Bernadette Soubirous", 1960, ich war 18 Jahre alt und spielte die Heilige Bernadette. Dabei war ich ja nicht mal getauft. Es war der Beginn meines schauspielerischen Erwachsenwerdens.
…und damit der Beginn Ihrer Profilierung und Karriere als Schauspielerin. Wenn Sie nicht gerade selbst vor der Kamera agierten, gab es da Filme, die Sie sich gerne angeschaut haben und die Sie womöglich das ganze Leben begleiten werden?
K.B.: Ja, alle Filme mit Audrey Hepburn, später die Filme der Franzosen, die Nouvelle Vague - Godard - Truffaut - Chabrol - auch weil sich die Handhabung der Kamera änderte, freier wurde.
Bei einer Filmadaption von "Gesang der weißen Wände" – Würden Sie selber eine Ihrer Figuren spielen wollen?
K.B.: Nein, das ist mir nicht vorstellbar und ich kann mir eine Verfilmung auch nicht denken, denn die Geschichte ist ja in meinem Kopf und in den Köpfen Derjenigen, die das Buch gelesen haben, und da spielt sie vielleicht weiter.
Sie setzen also ganz auf Lesen als Kulturtechnik und darauf, dass Hören und Sehen nicht etwa vergeht, sondern entsteht – beim Lesen von "Gesang der weißen Wände". Großer Dank an Sie, liebe Kornelia Boje, dass Sie uns Einblicke in Ihr beeindruckendes Leben und Schaffen gegeben haben und dass Sie in unserem Podcastbereich Auszüge aus Ihrem Roman lesen. Außerdem werden Sie zu Johann Wolfgang Goethes 275. Geburtstag am 28. August dessen Gedicht "Gefunden" einsprechen. Vielen Dank für unsere sehr schöne Zusammenarbeit und alles Gute für Sie!
Das Interview führte Martina Pfeiffer
Kornelia Boje liest aus "Gesang der weißen Wände" (Roman)
Vita Kornelia Boje: Schauspielerin - Autorin - Fotografin
Geboren 1942 in Berlin
Roman + Hörbuch "Gesang der weißen Wände", Berlin 2020
Roman + Hörbuch „Ullas Erwachen“
Frankfurt a.M. 2005
Film: Von 1962 bis 2010 mehr als 60 TV-Hauptrollen bei ARD und ZDF (siehe www.korneliaboje.de), TV - u. Filmrollen u.a. „Der Willi Busch Report“ mit Tilo Prückner; "Der Monat der fallenden Blätter" (1968) und "Tollwut" (1982) sowie mehrfach in "Tatort", "Derrick", "Ein Fall für Zwei" und "Der Alte" u.v.m.
Synchronarbeit: Schauspielerin, Regisseurin, Dozentin a. d. August Everding Akademie, München. Netflix: In dem mit vielen Preisen ausgezeichneten Filmdrama „Pieces of a Woman“ des Regisseurs Kornél Mundruczó spricht sie in der deutschen Fassung die Rolle der Mutter, gespielt von Ellen Burstyn. K.B. war mehrfach die deutsche Stimme von Mary MacDonnell ("Der mit dem Wolf tanzt"), Jaclyn Smith, Barbara Carrera und 2023 von Ellen Burstyn in "Der Exorzist – Bekenntnis."
Theater: Schauspiel Kiel, Schauspiel Darmstadt, Schauspielhaus Zürich, Schauspielhaus Hamburg, Schauspiel Köln, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Schauspiel Frankfurt, tri-bühne Stuttgart (Bühnenfassung des Romans v. Dorothea Dieckmann „Guantanamo“, Regie, Bühnenbild, Sprecherin im Hintergrund), Tourneen, u.a. Bertolt Brecht "Der Gute Mensch von Sezuan".
Rundfunktätigkeit seit 1952 Hörspiel - Romanlesungen - Lyrik - Feature – Unterhaltung im NDR, WDR, SR, Radio Bremen, SDR, SWR, BR, RBB, MDR, Deutschlandfunk + D-Kultur. Hörspiele - Features – Kurzgeschichten – Gedichte für HR – SDR – SWR – BR. Seit 15 Jahren Sprecherin bei verschiedenen "Arte"-Dokumentationen
Hörbücher/Hörspiele: E.T.A. Hoffmann "Das Fräulein von Scuderi" Hörspiel 2022, Manfred Giesler "Die Gelbe Tapete", Berlin 2020, Annette Kolb "Die Schaukel", 2019, "Große Werke. Große Stimmen",Jane Austen „Anne Elliot“, 2018 "Große Werke. Große Stimmen", Italo Svevo „Der alte Herr und das schöne Mädchen“, Rafael Chirbes „Die schöne Schrift“, Gianni Rodari "Das fabelhafte Telefon", Mechthild Borrmann "Glück hat einen langsamen Takt/Hammer Treue", Jane Austen „Anne Elliot“ 2018, Honoré de Balzac "Eine Frauenstudie", Theodor Fontane "Effie Briest", John Dos Passos "Manhattan Transfer", Italo Svevo „Der alte Herr und das schöne Mädchen“ 2017, Flavia Bujor "Das Orakel von Oonagh", Rita Mae Brown "Rache auf leisen Pfoten", Katharina Beta "Katharsis", Renate Welsh "Das Vamperl"u.v.m. Ihre erste Hörspiel-Rolle hatte K.B. 1954 in Dylan Thomas' "Unter dem Milchwald"/"Under milkwood".
Live-Lesungen in Hamburg, München, Frankfurt a.M., Berlin, Bensheim, Tübingen, Göttingen, Zürich
Lyrik-Konzerte mit dem Duo Almuth Krausser-Vistél u. Douglas Vistél im CelloMusikSalon, Berlin
Foto-Ausstellungen in München, Köln, Berlin, Frankfurt, Damnatz. Jüngste Würdigungen: Winners Photograph of the Month, Jan. 2023 und Top10-Artavita Online Art Contest 2023
Kunst-Messen in Köln, Frankfurt und Berlin
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