Ein Gespräch anlässlich des Welttags der Poesie 2025

Das Schreiben und Performen von Gedichten in Gemeinschaften, die sich als lernende begreifen, stärkt die Literacy-Kompetenzen der Gesellschaft insgesamt. Und auch sonst ist zwischen Sprachspieltrieb und Engagement einiges möglich. "Hermetisch" ist Dichtung keineswegs, sondern umfließt uns als steter Strom in Songtexten, Grafittis und social media-Sprache. Dichtung verhilft dazu, die eigene Stimme zu finden und sie lädt zu nuancierten Lesarten ein, zur Lust an der Komplexität. Erinnert sei hier an Wilhelm von Humboldt, der am 8. April vor 190 Jahren in Berlin Tegel verstorben ist. Dieser Philosoph und Sprachforscher weist der Lyrik mit Nachdruck einen Bildungsauftrag zu. Die Akzeptanz von Pluralität benennt er als Voraussetzung für Bildung. Eine verstärkte Sensibilität für Sprache und die Ausprägung von Reflexionskraft durch Beschäftigung mit ihr sind die Anliegen dieses Bildungsreformers – Ideen, die heute noch fortwirken und in der zeitgenössischen Dichtung widerhallen. Das Haus für Poesie ist Kooperationspartner des Kulturrings im Projekt "Dichtkunst mal…". Unser Gemeinschaftsprojekt findet jeweils im Mai und im November mit Lyrikpodcasts von jungen Dichterinnen und Dichtern aus den Ausbildungsgruppen der Young Poems und Open Poems statt. Die Podcasts finden sich ergänzt durch Beiträge zu den thematischen Schwerpunkten und durch Interviews. Karla Montasser ist im Haus für Poesie seit 2018 für den Bereich "Poetische Bildung" verantwortlich. Unsere Zusammenarbeit im Projekt begann im Frühjahr 2022 – und erfreulicherweise finden sich immer wieder neue attraktive Themen. Heute treffe ich Karla, um mich mit ihr über die Poetische Bildung zu unterhalten. Anlass des Interviews ist der Welttag der Poesie am 21.03.2025.

 

Kinder- und Jugendlyrik

In der Jugendlyrik gibt es eine altersbezogene Staffelung. In mehreren unserer gemeinsamen Gespräche hast Du erwähnt, dass vieles, was Teile der Jugendlyrik betrifft, eine Forschungslücke darstellt. Warum ist das so und gibt es Pläne oder Aktivitäten, dieses Manko zu beheben?
K.M.: Ja, das ist gerade das Thema, auf dem ich seit nunmehr zwei Jahren am meisten herumkaue… Während es zur Jugendliteratur insgesamt durchaus zahlreiche Studien gibt, aus unterschiedlichen Gebieten wie der Didaktik, der Sprachwissenschaft oder der Soziologie, ist die wissenschaftliche Forschung zu Jugendlyrik stark unterrepräsentiert, im Prinzip ist gar keine vorhanden. 

Woran liegt das? 
K.M.: Einerseits ist da natürlich die vermeintlich fehlende Marktrelevanz, die aber zum Teil vom Markt selbst erzeugt wird, weil der Begriff „Lyrik“ gescheut wird. Jugendromane sind natürlich wirtschaftlich erfolgreicher. Aber zeitgenössische Werke wie „Tschick“ oder „Die Welle“ werden eben auch in der Schule gelesen, während zeitgenössische Lyrik für Jugendliche als Nische betrachtet und kaum behandelt wird. Das hat aber  auch mit gut gepflegten Klischees über Lyrik zu tun. Das lange genährte Klischee von der Lyrik als „schwierig“ und „langweilig“ führt direkt zu weniger Berührungspunkten im Schulunterricht, weniger Marketing auf dem Buchmarkt und schließlich zu Forschungslücken. Während die Kinder- und Jugendliteraturforschung sich seit den 1970er-Jahren etabliert hat, wurde Lyrik insgesamt kaum bis gar nicht erforscht. Die – man kann es kaum anders nennen – entgegen dem kulturpolitisch so wichtigen Gebot der Genregerechtigkeit stehende Diskriminierung des Genres führt dann wieder zu der geringen Sichtbarkeit im Bildungssystem, da schließt sich der Teufelskreis. 

Und wie sieht es bei denjenigen aus, die Lyrik vermitteln sollten – z.B. das Lehrpersonal?
K.M.: Lehrkräfte können Deutsch unterrichten, ohne auch nur ein Lyrikseminar an der Uni belegt zu haben. Ihre Erfahrungen mit Lyrik, meist keine guten, stammen oft noch aus der eigenen Schulzeit. Kein Wunder, dass so viele Lehrkräfte vor Lyrik „Angst“ haben. Von Musik- und Kunstlehrkräften wird erwartet, dass sie auch grundlegende Praxiserfahrungen mitbringen. Ich kenne aber nur wenige Deutschlehrkräfte, die schon mal ein Sonett geschrieben haben oder die Form wirklich durchdringen. Das ist im Deutschunterricht vielleicht auch gar nicht so gut aufgehoben. Daher fordern wir mit dem Bundesverband Netzwerk Lyrik e.V. auch dringend zusätzliche Wahlpflichtfächer im Bereich Sprachkunst, die von extra ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden, so wie etwa Theater oder Ensemblemusik. 
Schulcurricula konzentrieren sich zudem vorrangig auf klassische Lyrik, während zeitgenössische Jugendlyrik kaum berücksichtigt wird. Die Schulbuchverlage sagen uns diesbezüglich, dass das Genre so „volatil“ sei, weswegen ein Gedicht, das heute als tauglich fürs Schulbuch gilt, in zehn Jahren schon überholt sei. Ich halte das für vorgeschoben. Es gibt durchaus auch moderne und zeitgenössische „Klassiker“ der Jugendlyrik. 

Klischees, Ängste, fehlende Marktrelevanz, mangelnde Lehrereignung für den Lyrikunterricht, Schulcurricula und Schulbuchverlage ohne Lyrikberücksichtigung…Das stimmt nicht gerade zuversichtlich.
K.M.: Im Gespräch mit Vertretern und Vertreterinnen der Lyrikologie höre ich immer wieder, dass Lyrikthemen „Killer“ für eine wissenschaftliche Karriere sind. Aber warum auch die anderen Wissenschaften die Lyrik links liegen lassen? Keine Ahnung. 
Die Durchsicht wichtiger literaturdidaktischer Zeitschriften durch Anke Vogel für die vom Netzwerk Lyrik kürzlich initiierte Konferenz zur Kinder- und Jugendlyrik in Siegen ergab jedenfalls, dass es in den letzten Jahrzehnten nur eine Handvoll Artikel zur Kinderlyrik gegeben hat, und gar keine zu Jugendlyrik.  Das ist schon ziemlich ernüchternd.
Die Forschung zur Jugendlyrik weist in bestimmten Altersgruppen vermutlich Lücken auf, weil sie zwischen zwei etablierten Bereichen – der Kinderlyrik und der Erwachsenenlyrik – verortet ist. Dementsprechend haben wir es mit unklaren Definitionen zu tun. Zählen Songtexte, Spoken Word oder Instagram-Lyrik zur Jugendlyrik? Wie verhält es sich mit populären Gedichten etwa von Rupi Kaur oder Mascha Kaléko? Bob Dylan hat den Nobelpreis für Literatur gewonnen: sind Billie Eilish und Taylor Swift dann auch Dichterinnen, die mit eigenen Texten ein großes und junges Publikum mit eigenen Texten erreichen und inspirieren?

Was Du sagst, lässt darüber nachdenken, ob die Definition von Jugendlyrik nicht weiter gefasst werden müsste. Können Projekte zu den Einzelaspekten von Lyrik Abhilfe schaffen? 
K.M.: Ja, vereinzelt gibt es schon Projekte, die sich mit bestimmten Aspekten von Jugendlyrik beschäftigen, etwa in der Literaturdidaktik oder in der Untersuchung von digitalen und performativen Formen wie Poetry Slams und Social-Media-Lyrik, zum Beispiel durch Petra Anders an der HU Berlin. Gerade wird die wissenschaftliche Sammlung „Geschichte und Gegenwart des Poetry Slam im deutschsprachigen Raum" in Zusammenarbeit mit Bas Böttcher und Wolf Hogekamp in Angriff genommen. Eine systematische Erforschung fehlt jedoch weitgehend, und viele vermeintliche Ergebnisse sind aus Sicht der Praxis sogar schlicht falsch. So wird zum Beispiel Spoken Word als Genre gern mit Poetry Slam, also einer Distributionsform, verwechselt… Immerhin gibt es im Netzwerk Lyrik e.V. für die Forschung seit einigen Jahren eine Möglichkeit, mit Menschen aller möglichen Gewerke und Genres aus der Praxis ins Gespräch zu kommen.   

Das scheinen doch Schritte in die richtige Richtung zu sein…
K.M.: Ja! Ein weiterer möglicher Weg für die Universitäten wäre eine offensiv verstärkte Einbindung von Jugendlyrik in die literaturwissenschaftliche und pädagogische Forschung sowie eine Vernetzung zur Forschung mit aktuellen Jugendkulturen. Denn auch die Produktion von Poesie durch Kinder und Jugendliche, wozu auch Graffiti, Rap, Hip-Hop usw. gehören, ist überhaupt nicht erforscht. Es herrscht offenbar eine Art „Bullerbü-Bias“ bei den Forschenden, ähnlich wie bei der Kinderlyrik, dass Lyrik viel mit „Gefühl, Natur, Innerlichkeit“ zu tun habe. Dabei sind die zeitgenössischen Poetiken und auch die Jugendlichen, die sie ausüben, urban, gesellschaftskritisch, oft mehrsprachig und (post)migrantisch und rasend schnell, selbst wenn sie im ländlichen Raum geschrieben werden. 

Initiativen wie Wettbewerbe oder Plattformen  –  Das alles erfreut, aber nützt es auch?
K.M.: Aber ja! Es gibt mittlerweile Initiativen, die zeitgenössische Lyrikproduktion von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden nachhaltig fördern, etwa Wettbewerbe wie der Bundeswettbewerb lyrix, das Deutsche Gedichtbuch für junge Leser von Reclam oder Plattformen wie poetenladen, die junge Stimmen vorstellen. Und natürlich das Jahrbuch der Lyrik, das sich unter dem Herausgeberschaft von Matthias Kniep durch das Verfahren anonymisierter Einreichungen auch für die jüngste Lyrik weit geöffnet hat. Unnötig zu sagen, dass lyrix erst sehr spät in die Phalanx der Bundeswettbewerbe aufgenommen wurde und erst seit drei Jahren durch große Anstrengungen von Carolin Kramer, Saskia Warzecha und Jessica Rohrbeck-Krause auch für die Altersklasse 10-15 geöffnet wurde. Hier haben wir aber ein echtes best practice, einen Glücksfall.  Die Lyrixautor:innen bereiten zeitgenössische Lyrik auf wunderbarste Weise für Kinder und Jugendliche auf und vermitteln damit Monat für Monat auch komplexe Poetiken, während sie den poetischen Nachwuchs literarisch sozialisieren. Andere Länder beneiden uns darum. 

Kommen wir also zu der Frage, wie Jugendlyrik generell mit der Poetischen Bildung verknüpft ist. Wie sieht es da aus? 
K.M.: Leider nicht viel besser. Es bräuchte für Genregerechtigkeit auch in der Poetischen Bildung einen großen Aufschlag. Erstmal, sich bewusst zu machen, wie verzerrt die Wahrnehmung ist. In wirklich jeder Klasse treffe ich auf mindestens ein Kind, das literarisch oder sprachkünstlerisch begabt ist und natürlich auch Leseangebote aus der Lyrik bräuchte.  In Klassen mit hohem Anteil von Kindern mit Migrationsgeschichte sind es meist eine ganze Handvoll Kinder mit Talent, da sie mehr mit Lyrik in der Familie in Berührung kommen. Aber diese Kinder haben nur eine minimale Chance, adäquat gefördert zu werden. 
Zur Verdeutlichung. Meine Tochter konnte ich quasi mit neun Monaten in die musikalische Früherziehung geben. Natürlich haben wir auch zuhause musiziert. Aber ich konnte mich immer auf die Infrastruktur verlassen – auf Curricula, Experten, Didaktik, Anerkennung durch die Gesellschaft, Musikschulen und Grund- und weiterführende Schulen mit musikalischem Schwerpunkt. Meinen sprachkünstlerisch begabten Sohn konnten wir in den ersten zehn Lebensjahren fast nur familiär fördern. Und das Lyrikverständnis der Grundschule war durch die einseitige Betonung auf Sprachspiel, Nonsens- und lustige Tiergedichte so abschreckend, dass er sich beinahe gänzlich abgewandt hätte... 

Und wo hakt es noch? 
K.M.: Langfristig wären mehr institutionelle Förderungen und eine stärkere Vernetzung zwischen Literaturwissenschaft und pädagogischer Praxis notwendig. Aber es gibt noch mehr Hausaufgaben.  Zum Beispiel passen Kinder- und Jugendlyrik und die Zielgruppe nicht besonders gut zusammen. Zum Beispiel fehlen Angebote, die sich an Mädchen und queere Publika richten. 
In den letzten zwanzig Jahren haben Literaturwissenschaftler:innen den literarischen Kanon intensiv und kritisch abgeklopft, wobei der Fokus auf der Unterrepräsentation von Autorinnen, queeren Personen und People of Color lag. Trotz jahrzehntelanger feministischer Literaturkritik sind aber diese Gruppen in Lektüreempfehlungen und Kanones weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Beispielsweise stammen auf der Reclam-„Leseliste“ weniger als zehn Prozent der 700 genannten deutschsprachigen Texte von Autorinnen. Und das kommt bei jungen Menschen nicht gut an, vor allem, weil die Lyrikszene paritätisch besetzt ist. Die jungen Dichter:innen, die wir ausbilden, selbst die Jugendlichen, verlangen von uns auch Empfehlungen, die ihre Erfahrungswelten in dem Genre spiegeln. Und die gibt es durchaus. Seien es May Ayim, Audrey Lorde, Safiye Can, Martina Hefter, Nancy Hünger, Uljana Wolf, Ozan Zakariya Keskinkılıç, aber auch Dichterinnen wie Mascha Kaléko und Hilde Domin werden viel gelesen. Aber das Bild der Kinder- und Jugendlyrik ist nach wie vor von weißen Männern geprägt. Dafür können natürlich die Autoren selbst nichts. Aber als jemand, der aus der Praxis kommt und regelmäßig Jugendjurys betreut, kann ich sagen, dass nahezu alle Bände, die sich eher an „das innere Kind“ richten als tatsächlich das meist weibliche Lesepublikum zu reflektieren, bei den älteren Kindern und Jugendlichen durchfallen. 
Es gibt jetzt erste Initiativen, die sich dem Thema widmen. Sie kommen aber wieder aus der Praxis, sei es vom Netzwerk Lyrik e.V.  mit den „Lyriklandschaften“ oder immer wieder vom Haus für Poesie. 

Gibt es von Eurer Seite eine Empfehlungsliste für Jugendliche und Heranwachsende, bezogen auf die Lyrik, insbesondere auch auf die zeitgenössische? 
K.M.: Gerade versuchen z.B. Sandra Niebuhr und ich, nachdem wir letztes Jahr eine Liste mit den „100+ schönsten Gedichtbänden für Groß und Klein“ herausgegeben haben, auch eine Empfehlungsliste für Lyrik für Jugendliche und Heranwachsende zu erstellen. Natürlich haben wir dabei auch digitale, (post)migrantische, aktivistische und feministische Lyrik zu berücksichtigen. Es ist also alles andere als einfach. Immerhin, für den Poesiefilm haben wir mit ZEBRINO bereits großartige Jugendprogramme, die wir an Schulen verleihen. Es ist aber etwas im Aufbruch. Das „Schamrock“- Festival sammelt zum Beispiel gerade feministische Lyrikstimmen für alle Altersklassen. Sie haben bereits 200 Lyriktitel von Frauen aus dem 20. und 21. Jahrhundert zusammengetragen. Frauen zählen ist so wichtig. Denn Fakt ist leider auch, wie etwa Christian Metz herausgefunden hat, dass die Lyrikkritik bis heute mehrheitlich in der Hand von Männern liegt, und diese wiederum überwiegend Gedichtbände von Männern besprechen. In die Lehre der Universitäten schaffen es dann die wenigsten Werke von Frauen. Wichtige weibliche Gedichtbände für die Jugendlyrik, wie zum Beispiel Eva Strittmatters „Die eine Rose überstrahlt alles“, sind längst vergriffen. Auch hier bin ich mit Sandra Niebuhr und der Humanistischen Hochschule Berlin dabei, eine Liste zu erstellen mit Titeln, von denen wir hoffen, dass sie neu aufgelegt werden können. 

 

Digitalisierung und Poetische Bildung 

Wie verhält sich Poesie zu Digitalisierung und modernen Medien? Wie wird Lyrik angenommen in diesen Zeiten, in denen Kids medial darin bestärkt werden, dass hip doch eher diejenigen sind, die durch Selfies und andere Selbstinszenierungen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen?
K.M.: Poesie – verstanden als musikalisierte Sprache - hat eine jahrtausendealte Geschichte und eine ganz eigene Faszination. Sie ist auf der anderen Seite immer das schnellste und avantgardistischste Medium. Es waren immer Dichter:innen, die neue Technik mit als Erste umarmt haben. Das bedeutet aber auch, dass Lyrikvermittlung neue Wege gehen muss. Sie sollte performative und multimediale Ansätze integrieren, um auf der Höhe der Zeit und zugänglich zu bleiben. Wir erleben ja gerade eine Zeit, in der digitale Medien Selbstinszenierung fördern und visuelle Inhalte dominieren. Dennoch findet Lyrik selbstverständlich ihren Platz auch auf neuen Plattformen. Jugendliche nutzen Instagram, TikTok oder YouTube, um Gedichte zu teilen, sei es als Text, Spoken-Word-Performance oder als künstlerisch inszenierten Poetry-Clip. Und nochmal Rupi Kaur – ihr Instagram Account hat Millionen Follower. Auch im deutschen Bereich gibt es „Lyrikinfluencer“. „Lyriklab“, der vom Haus für Poesie betriebene Kanal für Poetische Bildung, gehört mit mehreren tausend Followern sogar selbst dazu. 

Ich erinnere mich, vom "Lyriklab" im Haus für Poesie gehört zu haben…
K.M.: Ich bin stolz und froh, dass wir mit „_Lyriklab“ ein Labor haben, in dem vor allem junge Dichtende mit neuen Formen spielen und eigene Kampagnen launchen können. Wir haben gerade letzte Woche Jugendliche gefragt, was ihnen soziale Medien bedeuten, und das Echo war einhellig: sie sind nicht nur Selbstausdruck, sondern auch die Nabelschnur zu Freunden und zur Welt.  Diese neue Form der medialen Selbstdarstellung bietet daher aus Sicht der Poetischen Bildung große Chancen: Sie ermöglicht es jungen Menschen, sich in eigenen Codes auszudrücken und ihre Stimme zu finden. Erst neulich hatten wir eine tolle Kampagne mit der jungen indischstämmigen Fotografin Vasuda Nayar, mit dem Namen „date a poet“– 20 Gründe, warum es toll ist, Dates mit Poets zu haben plus eine Art Speeddating mit interessanten Fragen rund ums eigene Schreiben. Da habe ich gelernt, dass die Generation Z ambivalente, schillernde, nicht auf den ersten Blick zu verstehende Captions und Claims gut findet. Die Kooperation hat mein Verständnis enorm geweitet. Ich selbst hätte die Kampagne ganz anders getextet. Ähnlich erhellend fand ich meine Versuche in unserem Kultur-macht-stark-Programm „Posts&Poesie“, einen eigenen Lyriktutor für Kinder und Jugendliche in chatgpt zu prompten. Während Schulen und Universitäten oft Schüler:innen und Studierende vom Gebrauch von KI abzuhalten suchen, können wir in der forschenden Vermittlungsarbeit neue Technik  umarmen und nach Herzenslust erforschen. Ich kenne Dichter:innen, die mit Hilfe von KI komplexe Lyrik vertonen. Zeitgenössische Lyrik wird ja eh viel zu selten vertont, auch wenn das Haus für Poesie dem „Lied“ als ziemlich verstaubtem Genre gerade mit dem Programm „Vocations“ neuen Wind unter die Flügel weht und die zahlreichen Überschneidungen – in Richtung Soundpoesie, Spoken Word, rein instrumenteller Interpretationen von Gedichten ohne Worte – untersucht. Viele junge Künstler:innen, die über Musik und Sound Interesse für Lyrik entwickelt haben, kommen zu uns, um das Handwerk des Textens zu lernen. Und es wäre geradezu verrückt, KI ausgerechnet aus der Bildung zu verbannen, wo neueste Untersuchungen schon zeigen, dass in der Gen Z chatgpt Google als erste Suchmaschine abgelöst hat. 

 

Stand der Poetischen Bildung 

Wie steht es denn um den lyrikaffinen Nachwuchs generell, was das Haus für Poesie betrifft? 
K.M.: Bestens! Wir haben faktisch überhaupt keine Nachwuchssorgen. Und dass, obwohl Lyrik vergleichsmäßig wenig bis gar nicht öffentlich gefördert wird. Bis zu einhundert Jugendliche und Heranwachsende bewerben sich jedes Jahr im Haus für Poesie für die Ausbildungsgruppen von „weiter im Text“ und der „young und open poems“. Über 40 von ihnen bilden wir jedes Jahr aus. 

Diese Zahl hört sich nach ziemlich wenig an, im Vergleich etwa zu Einrichtungen und Ausbildungsmöglichkeiten in der klassischen Musik. 
K.M.: Das ist natürlich auch eine Frage des Geldes. Musikschulen werden in Deutschland mit über 644 Millionen Euro öffentlich gefördert. Projekte für Lyrik gibt es dagegen nur sehr wenige. Die gesamte staatliche Förderung für die literarische Bildung liegt vermutlich in der Größenordnung von 10 Millionen Euro. Offizielle Statistiken dazu gibt es nicht. Und die Poesie ist dann nochmal benachteiligt, in einem Ausmaß, das frappierend ist. Und das hat System. Auch wenn man sich die Zahlen für die Literaturförderung genauer ansieht, was ich zur Zeit der Gründung des Netzwerks Lyrik e.V. 2018 mal getan habe, so kommt man meistens auf einen Prozentsatz von etwa 3%, was Übersetzungen, Stipendien, Lesungen in Literaturhäusern angeht. Diese 3% wären dann immerhin knapp 20 Millionen im Jahr, also nach meinen Berechnungen immerhin noch knapp das doppelte von dem, was heute – vielleicht - ausgegeben wird.  Und dabei müssten wir uns doch in Deutschland einig sein, dass Sprach- und Leseförderung für die Demokratie eines Einwanderungslandes die wichtigste Bildung schlechthin sein muss. „Jedem Kind ein Instrument“ ist etwas sehr Schönes, aber „Jedem Kind seine eigene Stimme“ finde ich mindestens genauso wichtig. 

Wir bewegen uns in unserem Gespräch gerade in Richtung Sprachphilosophie, habe ich den Eindruck
K.M.: Nur durch die Sprache entwickeln wir ein selbstbewusstes Setting für Teilhabe in der Gesellschaft. Daher ist unser Claim auch „Komm zur Sprache“.  Wenn wir uns unsere Gesellschaft ansehen, dann haben wir gegen die Zentrifugalkräfte, die auf uns wirken, eine wirklich starke Gegenkraft: den parochialen Raum der Kunst, in dem wir uns über uns selbst Zeugnis ablegen, einander zuhören und uns verbinden. Dafür müssen mehrere Bildungen zusammenkommen.  Wir arbeiten zum Beispiel eng mit dem von der Philosophin Eva Stollreiter gegründeten Verein „Was denkst du?“ zusammen, da auch die philosophische Bildung sehr davon profitiert, dass die Poetische Bildung immer Denken und „Sensing“, also Sinneswahrnehmung und Selbstübersetzung, vereint. Es ist wichtig, dass wir den Körper mitnehmen. Literatur stellt ja nicht nur abstrakte Begriffe dar, sondern bettet sie in narrative, metaphorische oder lyrische Kontexte ein. Dadurch wird Philosophie nicht nur begrifflich gedacht, sondern auch gefühlt und erfahren. Ein Gedicht kann etwa eine ethische Fragestellung so intensiv erfahrbar machen, dass sie tiefer reflektiert wird als durch eine rein theoretische Abhandlung. Poetische Bildung hilft auch dabei, Mehrdeutigkeit, Offenheit und Komplexität zu lernen, also das, was wir in unserer Gesellschaft dringend benötigen und was oft „Ambiguitätstoleranz“ genannt wird. Die meisten Kinder, die zu uns kommen, haben da große Bedarfe. Aber man sieht es ja auch in der Politik, dass sehr oft nach binärer Logik vorgegangen wird und alles entweder „gut“ oder „schlecht“ ist. Ein gutes zeitgenössisches Gedicht wird da immer einen Haken schlagen. 

Das ist ein spannender Punkt. Was interessiert Jugendliche an Sprache und Dichtung, außer: "Was texte ich unter mein Instagram-Foto?" Was sind die bevorzugten Themen bei Kids, Teens und Twens, über die diese Altersgruppen gerne Gedichte lesen/hören oder selbst schreiben?
K.M.: Was Sprache und Dichtung so unwiderstehlich für Jugendliche macht, ist, dass sie allein es ermöglicht, sich selbst, der „inneren Stimme“ zuzuhören, mit sich selbst in Resonanz zu gehen. Diese subvokale beziehungsweise mentale Stimme hat viele Facetten, etwa innere Monologe zu ermöglichen, als metakognitive Stimme Denken zu steuern, und als „Lyrisches Ich“ einen besonderen, nicht den Bedingungen der Existenz unterworfenen Freiraum zu bieten. Ich liebe das Lyrische Ich. Es kann eine individuelle, kollektive oder sogar unpersönliche Stimme haben. In moderner und experimenteller Lyrik gibt es oft multiple oder instabile Lyrische Ichs, die sich auflösen, wechseln oder fragmentieren. In der queeren, feministischen und postkolonialen Dichtung wird das Lyrische Ich oft dekonstruiert oder vervielfältigt, um Identitäten neu zu verhandeln. Das Schönste für mich ist, wenn dieses Lyrische Ich sich festigt und den Freiraum im Sprachspiel für sich zu verteidigen weiß. Und wenn dann die Kinder und Jugendlichen sich eben nicht in Identitätsschablonen einordnen, sondern auf Individualität und Zwischentöne bestehen. 
Jugendliche interessieren sich ansonsten für eine breite Palette an Themen, wie wir sie aus allen Jugendkulturen kennen. Die bereits erwähnten Identitätsfragen, gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Umweltkrisen oder Zukunftsängste sind immer wiederkehrende Motive. Gleichzeitig sind persönliche Erfahrungen wie Familie, Liebe, Freundschaft, Verlust oder Selbstfindung zentrale Inhalte vieler Jugendgedichte. Aber auch Reisen, Abenteuer, Weltentdeckung, Begehren. Viele Dichter:innen sind im Jugendalter verrückt nach Fachsprachen, z.B. der Geologie, der Astronomie, der Mythologie. Sehr viele machen Musik, viele spielen Schach und Theater. Es existiert aber keinerlei Forschung dazu, wer junge Dichtende eigentlich sind, wie man sie in der Familie oder der Schulklasse erkennt, was sie im Kindesalter und in der Jugend an Förderung bräuchten, um ihr Talent zu entfalten. Ich wünschte mir, dass es dazu mal Untersuchungen gäbe... 

Was tut das Haus für Poesie konkret und aktuell für den Nachwuchs? 
K.M.: Mit den Klassen der „young und open poems“ versuchen wir hierzulande eine wichtige Lücke der Poetischen Bildung zu schließen, nämlich als wichtiger Veranstalter auch gleichzeitig auszubilden und zu vermitteln, wie man im Haus für Poesie, auf dem poesiefestival berlin, dem ZEBRA Poesiefilmfestival oder  dem „open mike“ auf die Bühne kommt.  Viele unserer young und open poets studieren auch an einer der Schreibhochschulen. Auch wenn wir darauf achten, eine möglichst große Anzahl an Dichtenden zu finden, die bislang wenig gefördert wurden und sich erst nach den „young und open poems“-Klassen an Schreibschulen bewerben. Die Kombination beider Wege – formaler und informeller – erweist sich aus unserer Sicht als besonders wirksam, um vielfältige Talente zu fördern. Aber da keine nachhaltigen Curricula existieren und es auch keine Handbücher oder wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt, nehmen wir diese Fragestellung nun selbst in die Hand. Wir planen gerade mit der Universität Tübingen, der Hölderlingesellschaft, dem Netzwerk Lyrik e.V. und dem Haus für Poesie die weltweit erste internationale Konferenz für Poetische Bildung. Im Sommer werden wir hoffentlich so weit sein, dass wir einen konkreten Maßnahmenplan für die Politik vorlegen können. 

 

Dichter:in werden

Bekanntlich führen viele Wege nach Rom… Was sagst Du Jugendlichen, die Dich um Rat fragen: “Wie werde ich Dichter:in?”
K.M.: Diese Frage wird mir natürlich oft gestellt, und meine Antwort bleibt stets dieselbe: In Wahrheit wissen meist schon Kinder, dass sie „eine innere Dichtungsperson“ in sich tragen. Die meisten jungen Dichter:innen, die zu mir kommen, sind also schon Dichtende, sie müssen sich nur professionalisieren. Und wie geht das? Talent und eine gewisse innere Freiheit sind Voraussetzung, aber Lyrik ist auch ein Handwerk, das geübt und verfeinert werden kann. In der Schule wird das so gut wie gar nicht vermittelt. Bei der Auswertung von Einsendungen zu Schülergedichtwettbewerben der letzten 30 Jahre, fiel auf, dass weder Handwerk gelehrt wird noch innere Freiheit. Stattdessen zeichnen sich diese Gedichte meist durch soziale Erwünschtheit und dichterische Schlichtheit aus. Ich nenne das gern „C-Dur“-Lyrik. Was in der deutschen Grundschule gelehrt wird, ist also eher „Alle meine Entchen“ statt Komplexität, Form und innerer Gefühlsreichtum.
Es ist also für junge Dichtende immens wichtig, sich außerhalb des Unterrichts intensiv mit Sprache auseinanderzusetzen: Wer viel liest – klassische Gedichte ebenso wie zeitgenössische Lyrik –, entwickelt ein Gespür für Rhythmus, Klang und Bildsprache. Oder aber die Jugendlichen kommen durch das Ausüben anderer Künste, zum Beispiel durch das Performen von Songs und klassischer Musik oder Jazz zu uns. 
Ich empfehle Jugendlichen, regelmäßig zu schreiben, sich mit anderen Schreibenden auszutauschen, Kollektive zu bilden und mutig zu sein, neue Formen auszuprobieren. Mit das größte Privileg ist, neben der Nähe zur Sprache, auch das Leben mit anderen Dichtenden zu teilen, ihre jeweilige Einzigartigkeit, Schönheit, Musikalität, Herzensbildung, Resilienz und Vorstellungskraft. Es gibt eine Familie von Dichtenden, die überall auf der Welt lebt. Sich mit dieser Familie zu verbinden, lässt alle Einsamkeit ein für alle Mal verschwinden. 

Ist in der letzten Zeit etwas in Bewegung geraten, um die Situation der angehenden Dichterinnen und Dichter positiv zu gestalten? 
K.M.: In den letzten 15 Jahren hat sich einiges an Positivem für den Nachwuchs getan. Wettbewerbe wie das „Treffen junger Autor*innen“, „Bundeswettbewerb lyrix“, der Berlin-brandenburgische Wettbewerb „THEO“ oder auch die englisch-deutschen und polnisch-deutschen Poesiewettbewerbe am Haus für Poesie führen oft zu Mentoraten oder anderen Formen individueller Förderung. Schreibgruppen oder Online-Plattformen bieten gute Möglichkeiten, um erste Texte zu veröffentlichen und Feedback zu erhalten, genauso auch die Schreibgruppen im Haus für Poesie „weiter im text“ vom Wortbau e.V. und „young und open poems“. Wie schon gesagt, andere Länder beneiden uns um diese Landschaft, so winzig und zerstückelt sie auch in unseren Augen sein mag. Aber es gibt riesige Lücken, etwa in der frühkindlichen Poetischen Bildung, in der elementaren sowieso, und leider ist ein von dem türkisch-lettischen Dichter Efe Duyan geplantes europäisches Erasmus+ Programm zur Ausbildung von Aspiring und Emerging Poets nicht durchgekommen. Damit wollten wir die Grundlagen zu einer Berufsausbildung für junge Dichtende legen. In meiner Praxis als Verantwortliche für den Bereich der Poetischen Bildung muss ich auch immer wieder sagen: Bildung besteht zu einem großen Teil aus Bindungsangeboten. Habitus- und Peer-Learning kann nicht durch Professionalisierung der Angebote aufgewogen werden. Und das muss schon ganz früh beginnen. Am liebsten wäre mir daher, dass Dichter:innen wie Musiker:innen schon in Kitas und Grundschulen zum Einsatz kämen. 

 

Bindung und Bildung 

Was können Coachings und Einzelgespräche als Angebot vom Haus für Poesie für Jugendliche leisten?
K.M.: Die Verbindung von Bildung und Bindung ist ja eine Binse, wird aber immer wieder gern vergessen, weil Bindung natürlich viel mehr Ressourcen kostet. Sie lässt sich nicht kapitalisieren. Im Haus für Poesie arbeiten wir mit dem Bundesprogramm des „Kompetenznachweis Kultur“ und begleiten Jugendliche aus sozial schwachen Bezirken meist mehrere Jahre. Gerade für die Lyrik, die so viele Bildungen umfasst – poetische, musikalische, performerische, demokratische, aber auch Herzensbildung - gilt: Bindung und Bildung stehen in einem engen, wechselseitigen Verhältnis, das insbesondere im Jugendalter von großer Bedeutung ist. Es braucht Bezugspersonen, die Sicherheit, Vertrauen und Selbstwertgefühl fördern. Bildung wiederum beschreibt den Prozess der kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung der Jugendlichen, der nur auf einer stabilen Bindungsbasis optimal gedeihen kann. Jugendliche, die emotionale Sicherheit erfahren, entwickeln ein stärkeres Selbstkonzept, zeigen höhere intrinsische Motivation und sind resilienter gegenüber Misserfolgen. Bildungsprozesse wiederum können Bindungserfahrungen vertiefen oder korrigieren, indem sie positive soziale Interaktionen und Erfolgserlebnisse fördern. 

Was braucht es dafür?
K.M.: Dafür braucht es einen grundsätzlich beschämungsfreien Raum, echte Zugewandtheit, und Coaching-Ansätze, wie sie im „Kompetenznachweis Kultur“ vorgesehen sind. Coachings stärken das Selbstwertgefühl der Jugendlichen, fördern emotionale Selbstregulation und aktivieren individuelle Ressourcen. Viele Jugendliche reisen das erste Mal aus ihrem Bezirk in den Prenzlauer Berg. Sie treffen auf andere Jugendliche aus anderen Bezirken und erleben neben den Inhalten der Kurse neue Role Models. Wir könnten gar nicht so viel unterrichten, wie die Jugendlichen sich gegenseitig blitzschnell etwas „beibringen“. Sei es Street Credibility oder Leben mit hoher Verantwortung, aber auch Transitionsgeschichten oder Integration. Wir haben in den letzten sieben Jahren schon so manches Wunder erlebt. Kinder, die schon kräftig aus der Kurve geflogen waren und sich wiedergefunden haben. Heilungs- und Transformationsprozesse von Kindern und Jugendlichen, deren Schicksale unfassbar sind, und die sich mit dem Ausdruck ihres Innersten auch einen Platz im Leben in Deutschland erkämpft haben. Jugendliche, die Lyrik als Passion für sich entdeckt haben und gerade dadurch für Arbeitgeber interessant wurden. Die Liebe zur Sprache und zum Lesen und Schreiben ist nämlich in der Berufswelt doch begehrter als man auf den ersten Blick meinen sollte. 

Sprachlosigkeit entgegenwirken gerade bei Migrantenkindern: Postmigrantische Dichtung – Könntest Du dazu etwas sagen?
K.M.: Die meisten Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, haben mehr als eine Sprache. Oft erleben sie bei uns das erste Mal, dass diese Sprache nicht nur als Ressource, sondern einfach an sich wertgeschätzt wird. Zeitgenössische Lyrik ist ja in vielerlei Hinsicht eine migrantische, hybride, mehrsprachige, ein Weltspiel mit hunderten von Einflüssen. Die (post)migrantischen Jugendlichen kommen meist auch aus Ländern mit großen Dichtungstraditionen, seien es persische, arabische, türkische, russische, polnische, französische oder spanische. Sie sind oft ganz verblüfft, dass wir im Haus für Poesie ihre Dichtungstraditionen, ihre Sprachschätze sowohl kennen als auch lieben. Sie sind sehr oft mit mehr Poesie aufgewachsen als die nur deutschsprachigen Kinder. Wie der Dichter Ali Abdollahi zu mir sagte: im Iran sind eigentlich alle erstmal Dichter. Was ein Lebensgefühl! Wir begleiten die Kinder dabei, diese Schätze zu heben und mit ihrer Identität hier in Deutschland zu versöhnen. Dafür haben wir auch Vorbilder, unsere Lehrenden sprechen meistens mehrere Sprachen und kommen aus allen möglichen Kulturen und Zusammenhängen. Es gibt bei uns auch keine „deutsche Leitkultur“ in der Dichtung, das wäre absurd. Ich zum Beispiel bin eine große Bewunderin der Gedichte Rumis. 

Wie kann Dichtung Jugendliche in ihrem Anderssein und damit in ihrer eigenen Stimme bestärken?
K.M.: Ich denke da gerade an unser letztes „Kultur macht stark“-Projekt „Anders Anderssein“ mit dem Autorenpaten Ayon Mukherji, einem indischstämmigen Rapper und Dichter. Im Rahmen des Projekts zeigte sich , wie es den Schüler:innen ein ums andere Mal gelang, sich selbst zu entdecken und überraschende Wege zu finden, die eigene Stimme in Sprache auszudrücken. Es ist ja seltsam, wie allgegenwärtig die unterschiedlichen Prägungen sind und wie verengt wir oft auf sie blicken. Aber die Prägungen, die wir teilen – unsere unterschiedlichen Vorlieben, Ideen; die Art, wie wir die Welt wahrnehmen; die Dinge, für die wir kämpfen, die wir uns wünschen oder von denen wir träumen; das, was uns verletzt oder uns Freude bereitet –, sind Stoffe, die uns teils faszinieren, teils aber auch erschrecken. Das Neue, das Unerwartete oder Unbekannte, das durch unsere Unterschiede entsteht, ist gleichzeitig der Grund, aus dem wir kämpfen und lieben, und aus dem heraus unsere Dichtung einzigartig wird und gleichzeitig Bindung durch eine gemeinsame menschliche Erfahrungsebene ermöglicht. Eben jener parochiale Raum der Kultur, in dem wir die Vielfalt genießen können. 

Die Erwartungen der Gesellschaft üben einen gewissen Druck auf den Einzelnen aus. Ich habe immer empfunden, dass Kunst überhaupt, und eben auch die Lyrik, befreiend gegenüber diesem Druck wirkt…
K.M.: Oft wird von der Gesellschaft erwartet, unsere Unterschiede zu überwinden, damit ein gutes Zusammenleben möglich wird. Im voreiligen Gehorsam etwas zu überwinden, das von uns nicht einmal wirklich gesehen oder verstanden wird, heißt aber, dass wir uns selbst „glätten“, unser wahres Ich maskieren und nur oberflächliche homogenisierte Verbindungen einzugehen bereit sind. Dabei sind wir so sehr auf das Neue und das Andere angewiesen. Wie die Jugendlichen es während der Pandemie ausdrückten: „Es ist besonders schade um die Menschen, die wir nicht kennenlernen konnten“. Um andere kennenzulernen, müssen wir aber auch uns selbst kennenlernen.  Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für den Weg „ins Innere“ bot die Rückmeldung einer Teilnehmerin während der Abschlusslesung: Anfangs habe sie das Schreiben als anstrengend und herausfordernd empfunden, doch nun erlebe sie etwas völlig Neues – sie wache nachts auf, weil der Wunsch zu dichten sie nicht loslasse. Solche Aussagen verdeutlichen, wie tiefgreifend der kreative Prozess wirken kann. Noch bedeutsamer ist es für die Gesellschaft, wenn diese individuelle Teilhabe schließlich in den Dialog mit Dritten tritt, wenn der Mut entsteht, dem Inneren eine öffentliche Bühne zu geben. Der Moment, in dem die innere Stimme so wertvoll wird, dass man ihr unbedingt zuhören will – das ist ein epiphanisches Erlebnis, und ein Moment des Empowerments, bei dem wir  nicht müde werden, Jugendliche und Heranwachsende zu begleiten. 

 

Genres und Geschlechtergerechtigkeit in der Poetischen Bildung 

Tendieren Jugendliche heute eher zu "stage poetry" als zu "page poetry"? 
K.M.: Für die meisten jungen Dichter:innen ist das kein Widerspruch. Sie erwarten von uns geradezu die Möglichkeit, alles aus einer Hand zu lernen und zusammenzudenken: stage poetry, page poetry, visual poetry und Formen des poetisierten Digitalen. So gibt es zum Beispiel einen jungen Dichter, der Computerlinguistik und altgriechische Versformen studiert. Oder eine junge Astronomin, die neben Science-Slam auch Poetry-Slam praktiziert. Es gibt Leute, die kommen von der Literatur oder aus der Medizin, Psychologie und Sozialen Arbeit, aus der Wissenschaft oder aus dem Management. Anders als in der Prosa haben Lyriker:innen oft noch einen soliden Brotjob. Junge Männer kommen heute anders und oft später zur Dichtung, zum Beispiel über Spoken Word, Poesiefilm, Rapmusik oder Liedermachen, also mehr aus der „stage poetry“. Die Verteilung in unseren Ausbildungsgruppen ist dieses Jahr 60 Prozent Frauen, 15 Prozent Männer und 25 Prozent Dichtende mit genderqueeren Identitäten, da sind alle möglichen Zugänge zu finden. 

Gibt es neue Zielsetzungen?  Du hast davon gesprochen, dass es spezifische Jungen- und Männerförderung bei Euch gibt? 
K.M.: Zielsetzung in der Poetischen Bildung ist, allen Geschlechtern einen guten und möglichst barrierearmen Zugang zu schaffen. Wir sagen daher, dass alle Teilnehmenden ein Recht auf Vorbilder haben, an deren Habitus sie sich abarbeiten können.  Diese Vorbildfunktion können bei uns auch männliche, oft mehrsprachige Lyriker übernehmen, insbesondere solche, die stereotype Männlichkeitsbilder hinterfragen. Beispiele sind Yevgeniy Breyger, Dalibor Marković, Martin Piekar, Tim Holland, Ayon Mukherji oder die Spoken Word-Artists Bas Böttcher und Sulaiman Masomi. Sie alle (und viele mehr) arbeiten unermüdlich daran, dass junge Dichtende aller Geschlechter sich auch an Männern abarbeiten dürfen.  Auch die Themen von Jungen und Männern sind ja oft andere. Gedichte, die Sport, Technik oder Abenteuer thematisieren, bieten identifikatorische Anknüpfungspunkte, genauso wie der Kanon der Mythologie. „Helden und Antihelden“ und die Heldenreise sind Formate, die Jungen sehr begeistern. Oder die „Samurai-Kunst“ des Haiku. Wichtig ist auch, dass sie die Möglichkeit erhalten, Songs und Gedichte in unserem Studio von Lyrikline.org professionell aufnehmen zu lassen. Oft ist gerade die Begegnung mit unserem Technikteam ein Schlüsselmoment. Wenn mein eigenes Gedicht, mein eigener Rap auf einmal professionell produziert ist, dann verstehe ich, dass Dichten wirklich ein Weg ist, um mich selbst auf authentische Weise auszudrücken. 

Vom 21.11. bis 25.11.24 fand das letztjährige Bundeswettbewerbs-Treffen der jungen AutorInnen statt. Was waren die Ergebnisse?
K.M.: Nachdem ich das Gefühl hatte, dass in den letzten Jahren männliche Teilnehmende in ihrem Selbstausdruck verunsichert waren und oft Technik und Science-Fiction ihre Texte geprägt haben, war ich diesmal sehr erfreut zu sehen, dass es aus meiner Sicht neue Entwicklungen gab. Männliche Schreibende wenden sich wieder ihrem eigenen Leben zu, schreiben über ihre Familien, über Gefühle, über Krisen, dabei auch lustig und lustvoll. Auch bei den jungen Frauen gibt es viele Aufbrüche. So ist „weibliches Nerdtum“ heute in der Literatur viel akzeptierter als noch vor dreißig Jahren, wo man ganz unverhohlen vom „Fräuleinwunder“ gesprochen hat, als junge Frauen anfingen, mit Romanen und Erzählbänden erfolgreich zu sein. Eine erfreuliche Entwicklung, zu der ganz gewiss auch Kolleginnen wie Ella Carina Werner und Kirsten Fuchs beigetragen haben. Was mich auch sehr beeindruckt hat, ist, wie queeres Sprechen und Dichten auf Klischees abgeklopft wird und wie bei den queeren „U20“, die nochmal viel früher ihre Identitäten entdecken, ein wirklich ganz neues Sprechen über Körper und Begehren entsteht. 

 

Best Practice 

Wenn wir uns international umschauen: Weißt Du etwas darüber, wie sich die verschiedenen Aspekte Poetischer Bildung in anderen Ländern darstellen?
K.M.: Der Weg, Dichter:in zu werden, variiert weltweit stark, abhängig von kulturellen Traditionen, Bildungssystemen und literarischen Infrastrukturen. Während in einigen Ländern formale Ausbildungswege dominieren, stehen in anderen informellen Netzwerken Mentorship und kulturelle Teilhabe im Vordergrund. 
Es ist also sehr vielfältig. Ein Vergleich internationaler Praktiken zeigt aber, dass erfolgreiche Ansätze meist eine Kombination aus strukturierten Lernprozessen, kreativen Freiräumen und sozialer Einbettung umfassen. In vielen westlichen Ländern führt der Weg zur Dichtung oft über literaturwissenschaftliche Studiengänge oder spezialisierte Schreibprogramme. In den USA bieten Creative-Writing-Programme an Universitäten, wie der renommierte Iowa Writers’ Workshop, eine strukturierte Ausbildung, die Werkstattformate mit gezieltem Feedback und Publikationsmöglichkeiten kombiniert, zum Beispiel Übersetzungsprojekte. Ähnlich verhält es sich in Großbritannien, wo Masterstudiengänge in Creative Writing an Universitäten wie der University of East Anglia existieren. In Deutschland hingegen ist der Zugang stärker literaturwissenschaftlich geprägt, ergänzt durch Institutionen wie das Deutsche Literaturinstitut Leipzig, das mit Dichterinnen wie Ulrike Draesner und Kerstin Preiwuß als zentrale Ausbildungsstätte für junge Autor:innen gilt oder die Universitäten Hildesheim (z.B. mit Dagmara Kraus und Yevgeniy Breyger), Köln (mit Nadja Küchenmeister) oder Wien (mit Monika Rinck). Dazu kommen private Universitäten wie das Pratt Institute (z.B. mit Uljana Wolf). Best-Practice-Beispiele finden sich auch in Frankreich, wo Ateliers d’écriture an öffentliche Einrichtungen gekoppelt sind und methodische Praxis mit niederschwelligem Zugang verbinden. Kanada setzt auf hybride Modelle mit Writer-in-Residence-Programmen, die den Austausch zwischen etablierten Autor:innen und Nachwuchsschaffenden stärken. 

Es können, müssen aber nicht immer akademische Wege sein, oder?
K.M.: Parallel zu diesen akademischen Wegen existieren weltweit informelle Lernformen, die ebenso bedeutsam für die Entwicklung poetischer Praxis sind. In vielen Ländern Lateinamerikas beispielsweise spielen lokale Literaturzirkel, Community-Projekte und unabhängige Lesebühnen eine zentrale Rolle bei der Förderung von Nachwuchsautor:innen. Aber auch an den Universitäten, eine wichtige Brücke baut dabei Rike Bolte. Ähnlich verhält es sich in zahlreichen afrikanischen Ländern, wo die Spoken-Word-Bewegung – etwa in Kenia oder Nigeria – eine dynamische Plattform für poetischen Ausdruck bietet, oft unabhängig von formaler Bildung. Sehr beeindruckend ist zum Beispiel die Arbeit von Lebogang Mashile, die sogar eine eigene Fernsehsendung für Poesie bekommen hat und als Spoken Word Artist, Schauspielerin und Keynote-Sprecherin viele Rollen in sich vereint. 
Auch in Skandinavien existieren starke informelle Strukturen, die von kommunalen Literaturhäusern getragen werden. Sie bieten Schreibwerkstätten, Lesungen und Publikationsmöglichkeiten für alle Altersgruppen an, wodurch der Zugang zur Lyrik breiter gefasst wird. Solche Ansätze zeichnen sich durch ein hohes Maß an Zugänglichkeit und Diversität aus. 

Wie sieht es mit Interkulturalität /Transkulturellen Projekten und Aktivitäten beim Haus für Poesie aus?
Wir versuchen, dieses best practice aus vielen Ländern auch mit in unserem Konzept umzusetzen. Dazu gehören, wie gesagt, die Wertschätzung von Inter- und Multikulturalität in der Dichtung auch auf die Prozesse der Poetischen Bildung zu übertragen – in den fünf großen „P“, Publikum, Personal, Programm, Persönlichkeitsförderung und PR. Wir exportieren und importieren fleißig, aber einfacher wäre es schon, wenn sich die Universitäten auch mit darum kümmern würden. 

 

Neue Wege zwischen Gedenkkultur und Poetischer Bildung 

Zum "Noor Inayat Khan"- Projekt „Liberté – Märchen für eine Welt“ sagtest Du mir, Bildung müsse dazu beitragen, dass wir alle und natürlich auch die Jugendlichen, sich von überholten Vorstellungen von Heldentum verabschieden. Ein großes Thema ist diesbezüglich der kaum erforschte muslimische Widerstand gegen den Faschismus. Was ist der neueste Wissensstand?
K.M.: Der muslimische Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist ein oft übersehener, aber bedeutender Aspekt der antifaschistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. Muslimische Widerstandskämpfer:innen stellten sich auf vielfältige Weise gegen das NS-Regime – sei es durch Spionage, Fluchthilfe, den Schutz Verfolgter oder intellektuellen Widerstand. Ein herausragendes Beispiel ist Noor Inayat Khan, die als britische Geheimagentin indischer Herkunft im besetzten Frankreich operierte. Sie stammte aus einer spirituellen, muslimisch-sufistischen Familie und wuchs mit den Idealen von Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Freiheit auf. Trotz dieser pazifistischen Erziehung entschied sie sich, im Zweiten Weltkrieg aktiv gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. Zunächst, indem sie sich entschied, der Germanisierung von Märchen durch die Nazis entgegenzuwirken und mit einer transkulturellen Poetik für „die Kinder des Feindes“ Geschichten von geistiger Freiheit und hohen ethischen Werten zu schreiben. Also quasi „Dichten gegen Nazis“. Dann ließ sie sich als Agentin anwerben und ausbilden. Als Funkerin des britischen Special Operations Executive (SOE) war Khan maßgeblich an der Koordination des Widerstands in Paris beteiligt. Nach der Verhaftung vieler Mitstreiter:innen blieb sie trotz des hohen Risikos vor Ort, um die Kommunikation der Résistance mit London aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde sie von der Gestapo gefasst, gefoltert und 1944 im KZ Dachau ermordet – ohne jemals Informationen preiszugeben. Noor Inayat Khan verkörpert ein Role Model, das traditionelle Narrative von Widerstand erweitert: eine muslimische, weibliche, migrantische Dichterin und Gelehrte, die aus humanistischen und spirituellen Motiven heraus handelte. 

Traditionelle Narrative von Widerstand erweitern… Stand Noor Inayat Khan als Role Model singulär da? 
K.M.: Neben Noor Inayat Khan engagierten sich zahlreiche weitere muslimische Akteure gegen den Nationalsozialismus: Si Kaddour Benghabrit, der Gründer der Großen Moschee von Paris, versteckte jüdische Familien und stellte gefälschte muslimische Identitätspapiere aus. Mohammed Helmy, ein ägyptischer Arzt in Berlin, rettete mehrere Jüdinnen und Juden vor der Deportation. Albanische Muslime beteiligten sich im besetzten Jugoslawien an der Rettung jüdischer Nachbarn und Nachbarinnen – im Geist der traditionellen Besa, eines Ehrenkodex der Gastfreundschaft und Solidarität.

Wie leistet das Projekt „Liberté – Märchen für eine Welt“ konkret einen Beitrag zur Stärkung der speziellen Gedenkkultur, über die wir uns soeben unterhalten haben?
K.M.: Mit unserem Projekt zu Noor Inayat Khan, das unter anderem vom Deutschen Kulturrat ausgezeichnet worden ist, verbinden wir Märchen- und poetische Pädagogik, die Arbeit mit Kindern mit und ohne Fluchtgeschichte, Antisemitismusprävention und Vermittlung von Gedenkkultur. 
Wir sind der Überzeugung: In einer pluralistischen Gesellschaft sollte Gedenkkultur auch multiperspektivisch gestaltet werden. Das bedeutet, dass die Vielfalt des Widerstands und des Leids im Nationalsozialismus sichtbar gemacht wirdDie Schaffung neuer Vorbilder erfordert Sichtbarkeit, Identifikation und Kontextualisierung. Noor Inayat Khan und andere muslimische Widerstandskämpfer:innen können aus unserer Sicht als Role Models fungieren, die historische und gegenwärtige Kämpfe gegen Unterdrückung miteinander verbinden. Es gäbe da noch viele Möglichkeiten, die Sichtbarkeit zu erhöhen. Schulen könnten multimediale Projekte initiieren, die muslimische Widerstandsgeschichten mit aktuellen Themen wie Antirassismus, Demokratie und Zivilcourage verknüpfen. Filme, Theaterstücke, Podcasts oder Graphic Novels könnten muslimische Biografien aufgreifen. Migrantische Organisationen, Moscheegemeinden und Kulturvereine könnten Gedenkveranstaltungen und Bildungsangebote entwickeln, die an den gemeinsamen Kampf gegen Faschismus erinnern. 
Junge Muslime in unserer Gesellschaft haben aus meiner Sicht ein Recht darauf, diesen Teil der Geschichte und ihre eigenen Helden kennenzulernen. Seit 2024 ist Noor Inayat Khan auch als Person der Zeitgeschichte in Bayern aufgenommen worden und Teil der Ausstellung „Frauen im Widerstand“, es gibt also endlich auch von offizieller Seite aus eine ausgestreckte Hand. 

Was könnte noch dafür getan werden, neue Wege in der Gedenkkultur zu gehen? 
K.M.: Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen könnten gezielt Geschichten von migrantischen und muslimischen Widerstandsakteur:innen integrieren. Das Haus der Wannseekonferenz oder die Topographie des Terrors könnten Sonderausstellungen und Bildungsprojekte zu diesen Aspekten realisieren.  Plattformen wie #Stolpersteine oder Yad Vashem könnten gezielt Biografien muslimischer Helfer:innen und Kämpfer:innen sichtbar machen. Straßennamen, Gedenktafeln und Skulpturen im öffentlichen Raum könnten an Persönlichkeiten wie Noor Inayat Khan erinnern. 

Wie ist das mit dem historisch mutmaßlich besser erforschten Widerstand z.B. im Fall der Geschwister Scholl? Müssen wir uns auch diesen anders vorstellen als bisher?
K.M.: Die Geschwister Hans und Sophie Scholl sind als zentrale Figuren der Widerstandsgruppe Weiße Rose bekannt, die mit Flugblättern gegen das NS-Regime kämpfte. Oft wird ihr Widerstand als „moralisch gefestigt“ und klar antifaschistisch dargestellt. Doch ihre Biografien sind komplexer, insbesondere im Hinblick auf ihre frühen politischen Prägungen und die persönliche Identität von Hans Scholl. In ihrer Jugend waren Hans und Sophie Scholl, wie viele junge Menschen ihrer Zeit, zunächst von der nationalistischen und völkischen Ideologie geprägt. Hans Scholl engagierte sich in der Hitlerjugend, Sophie im Bund Deutscher Mädel (BDM). Hans war zeitweise sogar Fähnleinführer, eine Führungsposition innerhalb der Hitlerjugend. Diese anfängliche Begeisterung entsprang nicht zwangsläufig einer ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus, sondern eher einer Faszination für Gemeinschaft, Abenteuer und nationale Identität, wie sie die Jugendorganisationen propagierten. Die Scholl-Geschwister standen in einer deutschnationalen Tradition, die sich nicht automatisch mit dem NS-Regime gleichsetzte.
Der Bruch mit dem Nationalsozialismus vollzog sich schrittweise. Prägend waren die Konfrontation mit der Realität der Diktatur, die Kriegserfahrungen von Hans als Sanitäter und die Lektüre humanistischer, christlicher und philosophischer Werke. Besonders der Kontakt zu Professor Kurt Huber und die Beschäftigung mit Autoren wie Thomas Mann und den Schriften der katholischen Soziallehre führten zu einer ideologischen Neuausrichtung. Auch hier sehen wir also, wie wichtig der Zugang zu Literatur ist! 
Es ist wichtig zu betonen, dass der Widerstand der Weißen Rose nicht primär von einer klassischen linken oder systemkritischen Position ausging, sondern aus einem konservativ-humanistischen, christlich geprägten Weltbild. Die Kritik der Weißen Rose richtete sich weniger gegen die nationale Idee als solche, sondern gegen die Verbrechen des NS-Staates, insbesondere die Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Hans Scholl war homosexuell oder zumindest bisexuell – ein Aspekt, der lange Zeit in der offiziellen Erinnerungskultur verschwiegen wurde. 
Nach dem Krieg wurde der Widerstand der Weißen Rose instrumentalisiert – sowohl von der Bundesrepublik als Symbol des „anderen Deutschland" als auch von der DDR als Beispiel antifaschistischen Kampfes. In beiden Narrativen störten offenbar komplexe Identitäten.
Der Widerstand der Geschwister Scholl wie auch der von Noor Inayat Khan zeigt, dass der Mut, sich gegen Unrecht zu stellen, nicht aus einer makellosen Biografie oder heldenhaften Perfektion erwächst, sondern aus einer persönlichen Entwicklung voller Widersprüche, Zweifel und Veränderungen. Diese erweiterte Perspektive ist besonders für junge Menschen bedeutend: Widerstand ist keine Frage von Heldentum, sondern von Haltung und Empathie im Alltag. Wer sich für Gerechtigkeit einsetzt – sei es gegen Rassismus, Antisemitismus oder andere Formen der Ausgrenzung – steht in einer Tradition des Widerstands, die vielfältig, unvollkommen und dennoch wirksam ist. Wie schnell Haltung zeigen schwierig wird, sehen wir gerade in den USA, wo viele Firmen ihre Diversitätsinitiativen sang- und klanglos begraben. 

 

Zusammenarbeit mit dem Kulturring: Internetseite "Komm zur Sprache"

Auf Deiner Internetseite "Komm zur Sprache" hattest Du ja schon die Schwerpunkte unseres Gemeinschaftsprojekts "Freiheit", "Eco Poetry", "Spoken Word" sowie "Dichtkunst und KI", "Lyrik und Musik" veröffentlicht, demnächst "Berlin im Gedicht". Welche Rückmeldungen hat es seither gegeben? Welche Themen waren beim Publikum besonders resonanzträchtig? 
K.M.: Die Interviews, die wir auf unserer Seite „Komm zur Sprache“ veröffentlicht haben, sind für uns ein sehr wertvoller Mosaikstein in der Ausbildung von Dichter:innen. Die Karriere eines Dichters oder einer Dichterin setzt sich im Wesentlichen aus drei wesentlichen Elementen zusammen: dem Primärwerk, dem Sekundärwerk und den Interviews. Eine Rückmeldung, die wir immer wieder hören, lautet, wie ungewöhnlich es für viele junge Dichter:innen ist, selbst interviewt zu werden und sich klar darüber äußern zu müssen, wofür sie eigentlich stehen. Zu Beginn ihrer Karriere denken viele noch, dass „die Anderen“ ihre Position bereits kennen oder dass es nicht nötig ist, sich poetologisch zu äußern. Doch im Laufe der Professionalisierung gehört es zu den zentralen Fähigkeiten, zu wissen, was man was zu sagen hat und dies auch adäquat kommunizieren kann. 
Auf besonders großes Interesse stieß das Thema „Eco Poetry“. Aber auch das Thema „Dichtkunst und KI“ hat die Menschen stark bewegt und wird zunehmend als ein wichtiger Bestandteil der poetischen Diskussion wahrgenommen.
In der Summe der vielen großartigen Interviews zeichnet sich immer deutlicher das Bild der jüngsten Dichter:innengeneration ab. Ihre Stimmen und Perspektiven sind einzigartig, und ich bin überzeugt, dass diese Generation in der Wissenschaft später auf große Resonanz stoßen wird.

Wie ich von Dir weiß, hast Du einen Traum, der kein Traum bleiben, sondern ein realistisches Ziel werden soll:  Sprachkunstschulen, die irgendwann so selbstverständlich sind wie Musikschulen. Das klingt nach einer starken Vision…
K.M. Ich träume von einer Welt, in der kein Kind mehr mit seinem sprachkünstlerischen Talent alleine bleibt. In dieser Welt gibt es Poesieschulen, genauso wie Musikschulen, in denen Kinder die Möglichkeit haben, ihre Stimme zu entdecken und zu entwickeln – ohne Barrieren und ohne Angst, ihre Kreativität zu verlieren.
Es geht nicht nur darum, dass Kinder lernen, zu dichten oder zu schreiben. Es geht darum, ihnen die Werkzeuge zu geben, sich auszudrücken und gehört zu werden. In diesen Schulen soll auch die Herzensbildung ihren Platz finden, das Bewusstsein dafür, sowohl den Verstand als auch das Herz zu schulen, denn nur so kann wahre Kreativität entstehen.
„Jedem Kind seine eigene Stimme“ – dieser Gedanke ist nicht nur ein schöner Slogan, sondern eine Grundlage für die Demokratie. Kinder, die lernen, sich mit ihren eigenen Worten und Gedanken einzubringen, haben die Möglichkeit, aktiv an der Gestaltung von Gesellschaft teilzunehmen. Es ist eine Frage der Teilhabe – sowohl an der Kunst als auch am öffentlichen Leben.
Ich bin überzeugt, dass sprachliche und kreative Bildung der Schlüssel ist, um eine Gesellschaft zu formen, die nicht nur die Freiheit des Einzelnen schützt, sondern auch den Dialog und das gegenseitige Verständnis fördert. Poesieschulen, die diese Prinzipien vereinen, können dazu beitragen, dass Heranwachsende mit einer starken, authentischen Stimme in die Welt hinausgehen.

Interviewerin: Martina Pfeiffer