Absage an ein rigides Entweder-Oder
Valentina Murabitos experimentelle Analogfotografie bringt Festgefügtes in Fluss
Auf Sizilien dominiert das Element Feuer. Archaisch. Lava-Fontänen, weithin sichtbar. Karminrote Arterien der Erde. Lodernde Gesteinsbrocken, in Glutströmen treibend. Bizarr die Formationen älterer Magmaschlacken. Soweit ein paar Impressionen vom Ätna, dem größten aktiven Vulkan Europas. Valentina Murabito kommt aus Giarre (Sizilien). Dort ist sie 1981 geboren und es verwundert nicht, dass sie von den Eindrücken der sizilianischen Landschaft geprägt worden ist. Für ihre experimentelle Analogfotografie hat sie zum Beispiel Lavasteine vom Ätna in gefärbtem Epoxidharz eingekapselt. Unikate mit einer speziellen Aura sind das Ergebnis ihres eindrucksvollen Schaffens. Zum heutigen Interview möchte ich Sie, liebe Valentina Murabito, ganz herzlich begrüßen!
Den geeigneten Moment abpassen, dann auf den Auslöser drücken, fix ein Foto schießen, Motiv im Kasten. So kennen das viele. Aber wo beginnt die Kunst?
V.M.: Die Kunst beginnt bei mir schon bei der Auswahl des Motivs, da ich mit gestellten Bildern arbeite. Das heißt, ich suche Modelle, kaufe Kleidung und Requisiten auf Flohmärkten oder auch bei Tierpräparatoren, wähle Orte aus, besorge Genehmigungen. Dann geht es im Atelier weiter - nachdem das Bild im Kasten ist.
Ein Drittel ist das Shooting, zwei Drittel das Fotolabor, wo Material und Motiv eins werden. Zum Beispiel habe ich zwei Mädchen in historischen Nachthemden mit einer Eule auf der Pfaueninsel in Berlin aufgenommen. Anschließend fertigte ich einen Betonblock an, der Teil des Motivs werden sollte. Darauf entwickelte ich das Bild, goss es in das glasähnliche Epoxidharz ein und färbte es blau. Das alles gehört bei mir zum Prozess.
Sie stehen für experimentelle Analogfotografie. Könnten auch Aufnahmen mit einer Digitalkamera und die anschließende digitale Bearbeitung Ihren Ansprüchen an die Kunst genügen?
V.M.: Das, was ich bisher geschaffen habe, wäre digital nicht möglich gewesen. Zum Beispiel habe ich die Oberfläche der Fotografie, die fotografische Schicht, gebrochen wie Glas. Der Effekt ist wie bei Krakeleen in der Malerei. Die Süddeutsche Zeitung hat das Verfahren mit „Häuten der Fotografie“ umschrieben, was ich ganz passend finde.
Aber ich schließe die Digitalfotografie für mich in der Zukunft nicht aus. Was mir wichtiger ist, ist dass ich ein physisches Werk schaffe, mit Materialien arbeite, zum Beispiel verwende ich zurzeit auch Stoffe, wie Seide, auf denen ich meine Bilder entwickle.
Was wollen Sie mit ihrer Kunst einer Zeit entgegensetzen, für die mehr denn je gelten dürfte, was schon der amerikanische Medienkritiker Neil Postman "Tyrannei der Bilder" genannt hatte?
V.M.: Postman spricht vor allem über das Fernsehen, das uns mit Bildern überschüttet, wo auch das Private öffentlich und ausgeschlachtet wird, wo sich Bilder von Gewalt und Konsum perpetuieren und damit ihren Wert verlieren. Kunst ist für mich Kontemplation, Einzelstücke. Für Neil Postman löst das Fernsehen das Buch ab. Meine Bilder sind gestellt – ähnlich der Fiktion in der Literatur.
Bereits in der ersten Unterhaltung mit Ihnen ist mir aufgefallen, dass Sie das Augenmerk zurücklenken auf die Pioniere der Fotografie, und da fällt der Name Diane Arbus. Bei Arbus fing alles mit einer Graflex an. Haben Sie mehrere Kameras im Repertoire oder schwören Sie wirklich nur auf die eine?
V.M.: Die Motive entstehen in meinem Kopf. Die Kamera ist für mich nur ein Werkzeug.
Als ich von den Fotopionieren sprach, meinte ich ihre Druckverfahren. Zum Beispiel finde ich die ersten Kolorationen spannend, bei der auf einem Familienporträt eine Fliege gelb oder ein Mund nachträglich rot übermalt wurden, die serielle Fotografie von Eadweard Muybridge oder die tiefen Schwarz der allerersten Aufnahmen, wodurch das Bild sehr grafisch wird. Die Arbeit im Fotolabor interessiert mich mehr.
Stichwort Muybridge. Der ist ja bekannt geworden durch sein "fliegendes Pferd". Die Umsetzung seiner fotografischen Dokumentation von Bewegungsabläufen in animierte Bilder war immerhin ein Ausgangspunkt für die Entwicklung des Kinos. Spannend auch, dass spätere Künstler wie Sol le Witt, Francis Bacon und Cy Twombly sich auf Muybridges fotodokumentarische Studien berufen haben. Was hat Muybridge bei Ihnen angestoßen?
V.M.: Mich interessiert der wissenschaftliche Anspruch von Eadweard Muybridge, er brachte die Fotografie weiter. Um herauszufinden, ob ein Pferd zu irgendeinem Zeitpunkt alle vier Hufe in der Luft hat, erhöhte er die Verschlussgeschwindigkeit der Kamera. Bis zu seinen Aufnahmen ging man davon aus, dass gleichzeitig alle vier auseinandergingen und nicht zusammen. Das sieht man sehr schön auf Gemälden. Seine Aufnahmen zeigen das Gegenteil. Die Pferde „fliegen“, wenn alle vier Hufe zusammengehen. Ich erkenne mich in dem Geist des Experimentators wieder.
Von den Pionieren der Fotografie in die Gegenwart. Wenn Sie arbeiten, Valentina - das weiß ich von Ihnen - dauert es bei manchen der Motive jahrelang, von der Aufnahme bis Sie dann entscheiden, wie Sie diese künstlerisch weiter bearbeiten. Dazwischen liegen viele Reisen und ganz besonders viele Lesestunden. Welche Lektüre hat sich für Ihre Fotokunst als ertragreich erwiesen?
V.M.: Da kann ich Ihnen eine Liste machen! (lacht) Die deutschen Romantiker, Hölderlin und Rilke, politische Philosophie von Michel Foucault, Hannah Arendt und Giorgio Agamben und antike Autoren wie Horaz und Lucrez, Seemannsgeschichten von Joseph Conrad und Herman Melville, die Metamorphosen von Ovid und Apuleio lese ich regelmäßig, griechische Tragödien…aktuell lese ich Sodom und Gomorrah von Marcel Proust. Das alles fließt in meine Werke, aber fragen Sie mich nicht wie. Auf jeden Fall nicht 1:1.
Sie haben also die Literatur und die Langsamkeit für sich entdeckt. Die alten Meister verwandten ja oft lange Zeit auf ihre Kunstwerke. Und dann kommt ein Andy Warhol in den 60ern und verkündet, ein Bild, für das länger als fünf Minuten gebraucht würde, sei ein schlechtes. Auch Damien Hirst kann Kunstschaffen nicht schnell genug gehen. Er gibt vor, Kunst in 90 Sekunden zu schaffen. Leistete die Fotografie im Allgemeinen diesem Kult der Schnelligkeit Vorschub?
V.M.: Ich denke das ist eher die „Schuld“ vom Kapitalismus, dem Massenkonsum. Warhol und Hirst haben nur den Nerv der Zeit getroffen. Sie haben dafür gesorgt, dass wir glauben Kunst schnell konsumieren zu müssen, wie wir alles schnell konsumieren. Coffee to go. Kunst to go.
Unter den romantischen Dichtern, die Sie gelesen haben, findet sich beispielsweise Novalis. Könnten Sie an einem Ihrer Bilder erläutern, inwiefern sich die Ideen der Romantik darin ausdrücken?
V.M.: Ein solches Werk von mir ist zum Beispiel „Mostri“. Auf zwei Bausteinen, die eigentlich für den Hausbau gedacht waren, habe ich eine Fotografie entwickelt. Zu sehen ist eine Frau in der Landschaft vor dem Ätna. Hinter ihr überwuchern Pflanzen ein verfallenes Haus. Die Frau hält eine Lilie in der Hand, die ich im Fotolabor zu einem überdimensionierten Monstrum verformt habe. Sie wird davon überwältigt – Gewalt steckt in dem Wort. Die Romantik handelt auch davon, von der Faszination und Ehrfurcht vor der Natur.
Es gibt da ein Foto, eine Hommage an Ludwig II. Mit der Einzigartigkeit von Ludwig hatte sich ja schon der italienische Regisseur Luchino Visconti eindrucksvoll beschäftigt. Fernab vom touristisch ausgebeuteten "Märchenkönig" – warum regt Ludwig Ihre Fantasie so sehr an?
V.M.: Weil er keine definierbare Person ist. Ich habe diverse Biografien und Texte über ihn gelesen und seinen Briefwechsel mit Wagner. Immer blieb eine Lücke, etwas nicht Greifbares. „Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen“, hat er gesagt. Das fasziniert mich an ihm.
„ ...keine definierbare Person“: Was Sie sagen, bringt mich zu Ihrer Fotografie "Faun". Auch Faune sind nicht klar definierbar. Als bocksbeinige Mischwesen der Mythologie haben sie keine eindeutige Identität. Ihr Modell ist interessanterweise ein Mensch, der nicht gerade die Biographie eines musischen Feingeistes hat, sondern auf Sizilien hart malocht und von der anstrengenden Arbeit körperlich gezeichnet ist. Wer ist dieser Faun Ihrer subjektiven Mythologie?
V.M.: In den letzten Jahren wähle ich meine Modelle ähnlich wie Pasolini, der sie in den Vororten Roms fand. Ich spreche sie auf Sizilien auf Märkten, am Meer oder – wie in diesem Fall – an einem Blumenstand an. Diese Menschen haben vielleicht weniger Schulbildung, aber dafür ein sehr viel größeres Wissen was die Natur, die Pflanzen, die Gezeiten angeht. Etwas, das wir Stadtmenschen, die wir uns so kultiviert glauben, vollkommen verloren haben. Sie leben mit und von der Erde. Wir gehen nur in den Supermarkt und wissen nicht mal, ob eine Aubergine am Baum oder aus der Erde wächst.
Der Faun ist ein Halbgott des Waldes, der im Rhythmus der Natur lebt – genau wie mein Modell.
Halbgötter, Mischwesen, Chimären… Wenn Sie sich als Fotografin im Leben umschauen: Sehen Sie mehr die klaren Konturen von in sich gefestigten Identitäten? Oder deuten Sie die Welt im Sinne von Heraklits "Panta rhei", also "Alles fließt"? Ich frage das deshalb, weil so ein Foto wie „Oro“ beispielsweise fließende Übergänge zu haben scheint, zwischen der menschlichen Hand und den Tentakeln eines Oktopus.
V.M.: Was ich mir wünsche, ist eher die Sicht von Heraklit. Er meinte, dass die Realität von Gegensätzen bestimmt ist, die sich in einer ständigen Metamorphose vereinen. Vereinfacht: Heute bin ich gut, morgen weniger oder heute männlich morgen weiblich, also nichts bleibt identisch in seiner Vision. Doch was ich sehe, ist der Wunsch nach klar Definiertem, das sich nicht verändert. Wir sollen unser Geschlecht und unsere Religion angeben, unsere Nationalität bestimmt, wo wir leben dürfen[…] Eine Fiktion ist ein künstliches Konstrukt. Ich sehe die Identität als ein solches […]
Vom künstlichen Konstrukt zurück zur Natur. In "Mondlose Nacht" ist die Pfaueninsel Ihr Motiv, genauer: zwei Mädchen und ein Habichtskauz auf der Pfaueninsel. Was bedeutet Ihnen die elementare Natur einerseits und die von Menschenhand geformte Natur andererseits, über das Motiv hinaus?
V.M.: Für mich ist das Hauptthema immer das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, egal ob wild oder geformt. Es geht immer um Kunst und Natur.
Falls das nicht zu privat ist: Wen oder was würden Sie in Berlin/Brandenburg gerne ins fotografische Visier nehmen?
V.M.: Ich habe schon an vielen Orten in Berlin und Brandenburg fotografiert, von der Zitadelle Spandau bis zum Park Babelsberg…gerne würde ich zum Beispiel im Jagdschloss Grunewald mit seiner großen Cranach-Sammlung fotografieren oder auch in der Goldenen Galerie im Schloss Charlottenburg.
Zum Abschluss unseres Gesprächs möchte ich Sie fragen: Gibt es laufende und geplante Ausstellungen Ihrer experimentellen Analogfotografie?
V.M.: Aktuell hat die Quadriennale di Roma ein Studiovisit bei mir von dem Kurator Francesco Lucifora veröffentlicht. Das ist eine besondere Ehre, da die Quadriennale sich seit 95 Jahren mit der Gegenwartskunst Italiens befasst. Ich bin damit eine der Künstlerinnen, die das Land repräsentieren.
Und hier in Berlin, wo können wir Ihre Werke auf uns wirken lassen?
V.M.: Zur Berlin Art Week habe ich in der Galerie Kornfeld eine Gruppenausstellung. Es ist ein ziemlich originelles Konzept, bei dem die Galerie ein Künstler-Rezeptbuch veröffentlicht.
End- und Höhepunkt des Jahres ist meine Soloshow in der Galerie Kornfeld, wo ich meine neuesten Werke zeigen werde. Die Ausstellung ist mir besonders wichtig, weil ich hier zum ersten Mal meine Bilder von Herbarien zeige. Dazu habe ich historische Aufnahmen von bizarren Pflanzen fotografiert und mit unkonventionellen Materialien wie Seide oder Messing verbunden. Sie startet am 31. Oktober 2024 und läuft bis 11. Januar 2025.
Es war eine große Freude, sich mit Ihnen zu unterhalten, liebe Valentina Murabito. Für Ihre künftigen Unternehmungen wünsche ich Ihnen einen guten Lauf. Herzlich alles Gute für Sie persönlich und für die Praxis Ihrer fotografischen Arbeit!
Das Interview wurde von Martina Pfeiffer geführt.
Valentina Murabito ist 1981 in Giarre geboren. Von 2004-09 studierte sie an der Moholy-Nagy University of Art and Design in Budapest/Ungarn und an der Academy of Fine Art of Catania in Catania/Italien.
Die Präsenz ihrer Werke in Sammlungen/Museen wie auch die Auszeichnungen und die Vielzahl ihrer Ausstellungen lassen sich nachlesen unter: www.valentina-murabito.com