Buchvorstellung von Martina Pfeiffer

Nach einer apokalyptischen Umweltkatastrophe: Nahezu alle Gebiete der Erde stehen unter Wasser. Hanok, die Hautpfigur der Erzählung, ist in der Wasserwüste auf einem selbstgebauten Floß unterwegs. Die wenigen im Schlamm verwurzelten Bäume siechen vor sich hin und werden in Kürze abgestorben sein. Zunächst vermutet der Leser in Hanok den letzten Überlebenden dieses Endzeitszenariums aufgefunden zu haben. Doch dann trifft der Protagonist auf den Einsiedler Nairoc, eine Mentorfigur. Bei ihm auf der Anhöhe hält er sich eine Zeitlang auf. Nairoc berichtet von den Menschen auf dem großen Hügel einer flussabwärts gelegenen Insel. Trotz erfolgter Warnung bricht Hanok zu ihnen auf und erlebt das Grauen. 

Ein Messer, eine Trinkflasche, Salz, Vorräte in Form eines erlegten Hasen, Schnüre vom Heck des Floßes, von denen er eine als Angelschnur verwendet: Hanok ist aufs Elementare, aufs blanke Überleben zurückgeworfen. Wie von Betroffenen nach traumatischen Erlebnissen bekannt, ist auch die Hauptfigur bemüht, die einfachsten Handlungen bewusst, langsam und in aufeinanderfolgenden Schritten auszuführen. Das Denken darf sich nicht verselbständigen, sondern ist auf die unmittelbar anstehenden, fast schon rituell anmutenden Verrichtungen konzentriert. Wer die Kurzgeschichten von Ernest Hemingway gelesen hat, fühlt sich vielleicht an die Anstrengungen des Kriegsheimkehrers Nick Adams erinnert. Im direkten Kontakt mit der Natur versucht dieser seine beschädigte Identität Stück für Stück zurückzugewinnen. Die Gedanken an das erfahrene Chaos dürfen keinesfalls zudringlich werden, um den Heilungsprozess nicht zu gefährden. Nick Adams setzt sein Vertrauen in die Kraft der Natur, um sich nach dem verheerenden Krieg zu regenerieren. In Schwartz' Erzählung jedoch scheint nach einer wie auch immer gearteten Katastrophe der natürliche Lebensraum in einem Ausmaß zerstört, das am Konzept der Erneuerung zweifeln lässt. Die Sonne und die Landschaft, oder besser die Relikte einer Landschaft – in einen dunstigen Schleier gehüllt. Der Fluss,  "eine träge fließende Schneise, die sich durch die alles Leben tilgende Überschwemmung fraß". Ebenso eindringlich wie beklemmend lässt der Erzähler eine dystopische Endzeitatmosphäre entstehen.

Gleich im ersten Kapitel von Im Nebel setzen die Zeilen "Leben ist Einsamsein" und "Jeder ist allein" einen deutlichen Verweis auf das Gedicht von Hermann Hesse: "Im Nebel".  Hanok hört diese – auch im Gedicht Hesses – zentralen Worte, gesprochen von einer "vertrauten, übriggebliebenen Stimme in seinem Inneren mit einem sonderbaren Klang".  Das atmosphärische Detail des Nebels ist  – bei Hesse wie bei Schwartz - mit der Seelenlandschaft des Menschen korreliert. In der vorgeführten Lautlosigkeit mutet die in Nebel getauchte Szenerie gespenstisch an. Der Mensch in ihr scheint vereinzelt und erlösungsresistent. Einsamkeit als existentielle menschliche Grundsituation und zudem der äußerste Grad der Individualisierung  wird zum Generalthema: Abgeschnittensein, Verlassenheit, Gefühle des Unverstandenseins und der Trostlosigkeit. 

Anfangs scheint Hanok noch des Alleinseins zu bedürfen, um sich zu sammeln. Sobald er aber zu den "Menschen"  kommt, wird die Zerstörung des Individuums virulent. Das Motiv ruinöser Einsamkeit verdichtet sich im Bild der Isolierung in einem "Verlies". Folgerichtig gerät die Reise zu den Artgenossen zum Desaster.  Das assoziationsbeladene Stichwort "Nashörner" war bereits im Gespräch mit Nairoc gefallen. Jetzt trifft Hanok auf sie – Menschen, die von einer bornierten, brutalen Gewalt angetrieben sind. Die Herde gilt ihnen alles. Sie verbreiten Angst. Sie schnauben bösartig, jeden niedertrampelnd, der sich ihnen entgegenstellt. Die von Hanok angetroffenen Herdenmenschen mit ihren vernarbten Gesichtern und seelenlosen Augen zerfetzen seinen Hund, bringen ihm selbst eine schwere Wunde bei,  kerkern ihn ein. Die Inselbewohner und ihr blutiger Kult des Monströsen, der sich in ihrem Anführer, dem hellhäutigen Hünen, suggestiv versinnlicht, bringen hier möglicherweise Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis ins intertextuelle Spiel. In Conrads Protagonist Kurtz findet sich der Kulturpessimismus des britischen Autors prägnant repräsentiert.  Die von Hanok aufgefundenen Knochenteile und Totenköpfe könnten immerhin als literarische Reminiszenz an den schädelgesäumten Zaun um Kurtz' Wohnstätte gelesen werden. Was bleibt, ist Horror. 

Zwar gelingt die Flucht aus diesem grausigen "Herz der Finsternis". Doch nach der Flucht, im letzten Kapitel "Entkommen", verliert Hanok zunehmend die Kontrolle über seine Umgebung. Orientierungslos irrt er umher. Nairocs Lager findet er nicht mehr. Sein Ruder gleitet ihm aus den Händen. Es treibt auf dem Fluss davon. Die Trinkflasche ist leer, das Wasser des Flusses ungenießbar. Die Überflutung nimmt zu, mit ihr die Angst. Teile des Floßes lösen sich und kommen abhanden. Liebe und Hoffnung, Empfindungen die punktuell im Erzählverlauf aufglimmen, scheinen sich in ein Nichts zu verflüchtigen. Todesgedanken stellen sich ein. "Seine Reise, das wusste er, war an ein Ende gelangt." Der Leser erlebt die äußerste Verschärfung des existentiellen Auf-Sich-Zurückgeworfenseins. Der Glaube des Protagonisten, Herr seiner Entscheidungen zu sein oder dem Ganzen einen Sinn zuweisen zu können, erweist sich letztlich als irrig. 

Welchen Realitätsanspruch hat der Bericht, den uns Schwartz' Erzähler mit der hier gezeichneten apokalyptischen Intensität vorstellt? Handelt es sich bei der Novelle um ein (Alp)Traumnotat? Um es mit Edgar Allan Poe zu sagen, "a dream within a dream"? Das Leben als Traum – opak, und damit schwer zu durchschauen. Rückwärts gelesen setzt der titelgebende "Nebel" als Palindrom den Begriff "Leben" frei. Was vom ersten Kapitel ("Schilf") bis zum Schluss ("Entkommen") zur erzählerischen Darstellung gelangt, zieht den Leser sukzessive in die atmosphärisch dicht komponierte, düstere Geschichte hinein. Man geht aus der Lektüre hervor,  gleichsam aufgeschreckt aus einem unheilvollen Traum. Im Nebel von Tobias Schwartz: Filigranes Erzählen vom Welt- und Lebensende, erschütternd gut.