Worte vor ihrer Abnutzung bewahren
Pierre Testard, Schriftsteller und Übersetzer, zu den Herausforderungen beider Disziplinen

Lieber Pierre Testard, Sie haben einen kosmopolitischen Hintergrund. Geboren sind Sie in Paris, aufgewachsen in London. Lange Zeit haben Sie in Italien und Griechenland gelebt und seit 2019 sind Sie in Berlin. Wenn Sie einen literarischen Salon mit internationaler Strahlkraft gründen sollten, wer würde ganz oben auf Ihrer Gästeliste stehen und aus welchen Gründen?
P.T.: Ich würde gerne Eileen Myles und Alejandro Zambra zusammenbringen, denn neben ihren Büchern mag ich auch ihre Einstellung. Sie und ihr Schreiben haben eine Unbeschwertheit und ein Selbstbewusstsein, das sehr ansprechend ist. Sie sind auch oft lustig. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie viel mitzuteilen hätten. Vielleicht müsste ich jemanden einladen, der viel ernsthafter ist, wie Jenny Erpenbeck oder eine Person, die lakonisch denkt, Fleur Jaeggy etwa. Aber dann schauen sie sich vielleicht alle stundenlang schweigend an und gehen dann einfach weg.
Würde Sie ein "Existentialistenfrühstück" - ein starker Kaffee und eine Gitane oder Gauloise - in einem Café in kreative Stimmung versetzen oder was braucht es für Sie in Bezug auf den Schreibprozess?
P.T.: Schreiben zu können hat auf jeden Fall viel mit materiellen Umständen zu tun, und soweit ich weiß, schrieben die Existenzialisten hauptsächlich in Cafés, weil sie zu Hause keine richtige Heizung hatten. Heutzutage ist es einfacher, es sich zu Hause warm zu machen und zu rauchen, sogar in Berlin. Letztes Jahr habe ich sehr wenig geschrieben, vielleicht weil ich nicht rauche und versucht habe, meinen Gasverbrauch während der Energiekrise zu begrenzen. Was es für mich braucht, ist ein Schreibtisch, ein Computer, eine App, die die Webseiten blockiert, mit denen ich die meiste Zeit verbringe; genug Bücher, die ich ab und zu aufschlagen kann, jede Art von häuslicher Arbeit vermeide, bevor ich anfange, und die Türklingel grundsätzlich zu ignorieren. Ich neige auch dazu, meinen Schreibtisch nie zu verlassen, was ein großer Fehler ist. Jedes Mal, wenn ich das tue, weil ich abgelenkt bin und beschließe, die Wäsche aufzuhängen oder dann doch die Tür zu öffnen, gestaltet sich plötzlich ein Satz, den ich stundenlang nicht habe schreiben können, in meinem Kopf, und das glasklar.
Wo kann man in Berlin gut brainstormen? Ist es eine Parkbank oder die U-Bahn? Oder bevorzugen Sie die Isolation, wenn es um das Schreiben und Übersetzen geht?
P.T.: Obwohl ich Bilder oder Ideen in den Straßen Berlins sammle, geschieht das nie mit Vorsatz. Ich mache mich nie auf zu einem Spaziergang und denke, dass ich an einem bestimmten Ort Inspiration finden kann. Normalerweise, wenn ich schreibe (alleine, an meinem Schreibtisch oder in einer Bibliothek), erinnere ich mich an das Detail einer Szene, die ich gesehen habe, an ein Bild oder eine Inschrift, und ich frage mich, ob es in den Satz oder den Absatz eingehen kann, an dem ich arbeite. Irgendwo auf einem Friedhof im Prenzlauer Berg gibt es ein Grab mit der Aufschrift "Warum?". Und diese Frage ist irgendwie in meinem Roman Les Enfants Boetti gelandet, aber auf einem anderen (fiktionalen) Grabstein und in einer anderen Sprache.
Einige Autoren haben sich in spezielle Themen eingearbeitet. Bei Herman Melville war es der Walfang. Mark Twain in die Mississippi-Dampfschifffahrt. Honoré de Balzac sogar in mehrere Bereiche, z.B. Buchdruck und Hochfinanz - und lange vor Patrick Süskind, in die Kunst der Parfümherstellung. Die Ergebnisse sind wirkungsmächtig in deren literarisches Werk eingeflossen. Haben Sie ein spezielles Interessengebiet oder könnten Sie sich vorstellen, sich der Literatur zuliebe in ein spezielles Fachgebiet einzuarbeiten?
P.T.: Ich recherchiere bestimmte Informationen oder Details, während ich schreibe, aber ich weiß nicht wirklich, worüber ich schreibe, bis ich schreibe. Mein Schreiben gründet sich auf visuelle Elemente, und die Beschreibung von Orten, die immer irgendwie fiktiv sind, obwohl sie offensichtlich auf Orte zurückgehen, die ich kenne, Erinnerungen oder sogar Fotos. Allerdings bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich sagen könnte, worum es in Les Enfants Boetti geht, denn das ganze Buch dreht sich, etwas ungewollt, um eine sich entziehende Figur, Lou Tamma, eine Künstlerpersönlichkeit, die am Ende alle anderen Figuren heimsucht. Und ich schreibe gerade einen Roman, in dem die Hauptfiguren Musiker sind, aber ich bin mir fast sicher, dass ich kein Buch über die Musik schreibe. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich könnte mir vorstellen, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten, um ein Buch zu schreiben, aber das ist noch nicht passiert und ich scheine anders zu schreiben.
Viele Geschichtenerzähler sind daran interessiert, mit dem Leser zu kommunizieren. Zu diesem Zweck neigen Schriftsteller vielleicht dazu, Leerstellen zu schaffen, die über die kreative Fantasie eine Füllung erfordern. Auch wenn der Autor die Zügel der Erzählung fest in der Hand hält, entwickeln die Figuren ein Eigenleben. Was sind Ihre Strategien, um den Leser aktiv in das Verständnis des Textes einzubeziehen? Ich denke da an Ihren Roman "Les Enfants Boetti"...
P.T.: Für mich geht es beim Schreiben mehr um Sprache und darum, wie man den Impuls aufrechterhält, der einen dazu gebracht hat, einen Text zu beginnen und zu verhindern, dass er sich abnutzt und am Ende konventionell klingt. Wenn man dazu in der Lage ist, wird der Leser das meiner Meinung nach spüren und sich vielleicht sogar davon berühren lassen.
Umberto Eco sagte einmal, er habe gedacht, Bücher sprächen von der Welt außerhalb der Bücher. Bis ihm irgendwann dämmerte, dass Bücher oft von anderen Büchern sprechen – ein Flüstern, ein "Dialog zwischen Pergament und Pergament". Gilt das auch für Sie und Ihre Art zu schreiben?
P.T.: Sicherlich. Ich kann nicht sehr lange an einem Text arbeiten, ohne ein Buch aufzuschlagen und nach einer Wendung oder einem Ton zu suchen, der mein eigenes Schreiben irgendwie alimentiert. Les Enfants Boetti ist voll von Plagiaten, transformierten Übersetzungen und versteckten Zitaten. Manchmal denke ich, dass Schreiben so etwa ist, als wäre man tot und würde mit anderen toten Schriftstellern sprechen, um die Lebenden besser zu verstehen.
Sie übersetzen aus dem Englischen. Gerne wüßte ich von Ihnen: Haben Übersetzer eher eine dienende Funktion oder müssen Sie selbst Künstler sein, um gut zu übersetzen? Haben Sie beim Übersetzen den Ehrgeiz, ein Kunstwerk zu schaffen, das dem Original ebenbürtig ist?
P.T.: Es fällt mir nicht leicht, Ihre Fragen zum Übersetzen zu beantworten, denn sie kommen zu einer Zeit, da es mir schwer fällt, wenn nicht gar unmöglich ist, sowohl ein überzeugter Autor als auch ein überzeugter Übersetzer zu sein. Mir fallen tatsächlich nicht so viele bemerkenswerte Übersetzer ein, die herausragende Schriftsteller sind, und umgekehrt. Übersetzen ist so herausfordernd, dass man es sich nicht wirklich leisten kann, es in Teilzeit oder halbherzig zu machen. Wenn ich die Übersetzerarbeit, die ich nur mache, um Geld zu verdienen, beiseite lasse, die im Wesentlichen nicht literarisch ist, ist das Übersetzen für mich zu einer Art Spiel geworden, das mir beim Schreiben hilft. Da ich Texte in vier bis fünf unterschiedlichen Sprachen lese und auch sehr oft in Übersetzungen, frage ich mich ständig, wie dieser oder jener Satz, den ich mag, in einer anderen Sprache klingen könnte. Und so versuche ich, das ins Französische zu übersetzen und es möglicherweise in die Geschichte einzubauen, an der ich arbeite, wenn es überhaupt relevant ist. Oder ich schlage einfach eine Kurzgeschichte von Ingeborg Bachmann auf, also etwa "Probleme, Probleme" (aus der Sammlung Simultan) und übersetze irgend einen Auszug ins Englische oder ins Französische. Auf den ersten Blick wird es unscharf und holprig erscheinen, aber wenn ich das Ganze ein wenig bearbeite, könnte es vage an Bachmanns Tonfall erinnern und gleichzeitig seltsam französisch klingen. So fanden sich in Les Enfants Boetti Bruchstücke von Italienisch, Englisch und Spanisch, übersetzt oder nicht, wieder. Und deshalb habe ich auch den Anfang des folgenden Gedichts von Emily Dickinson verwendet:
There’s a certain Slant of light,
Winter afternoons –
That Oppresses. (…)
Nur dass Lou Tamma in meinem Buch diese Worte Italienisch ausspricht.
Lieber Pierre Testard, die Teilnahme am Kulturring-Projekt "Begegnungen Wort-Wörtlich-Gesprächsfreude Grenzenlos", von Ihnen als Autor und literarischer Übersetzer, war eine kurzweilige und anregende Reise in das Gebiet des Schreibens und des Übersetzens. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch genommen haben. Es war mir ein großes Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten. Vielen Dank und alles Gute für Ihre Zukunftspläne!
Pierre Testard lebt seit 2019 in Berlin. Er studierte Philosophie an der Sorbonne in Paris, Moderne Geschichte am King's College London und zuletzt (2017-2019) Kreatives Schreiben an der Université Paris VIII - Saint-Denis.
Seine erste Übersetzung in Buchlänge war ein Konzeptbuch mit dem Titel Bad Driver, von zwei in Berlin lebenden Künstlern, Jay Chung und Q Takeki Maeda, in englischer Sprache verfasst. Es wurde in einer streng limitierten Auflage gedruckt und wird Teil der ständigen Sammlung des Frac Lorraine sein, einem regionalen Kunstinstitut mit Sitz in Metz im Osten Frankreichs. Der Text selbst ist eine Satire auf ein akademisches Buch, das sich über die vielen Vorurteile lustig macht, die Westler gegenüber der chinesischen und japanischen Kultur haben. Er übersetzte auch einige Gedichte von Eileen Myles und einige Auszüge aus Essays und Romanen, die hauptsächlich hier zu finden sind: https://www.specimen.press/writers/pierre-testard/ . Pierre hat die ersten Seiten des Romans Park aus dem Deutschen übersetzt, ein Werk des jungen Schriftstellers Marius Goldhorn.
Es gibt zwei große Schriftsteller, deren Bücher in Frankreich weitgehend unbeachtet geblieben sind und die Pierre gerne übersetzen würde: Elizabeth Hardwick und Rainald Goetz. Hardwicks Sleepless Nights wurde vor ein paar Jahren ins Französische übertragen, das Buch ist bereits vergriffen; Rave von Rainald Goetz gibt es bislang nicht auf Französisch.
Les Enfants Boetti wurde 2022 veröffentlicht. Dies ist die Geschichte von zwei Geschwistern aus Rom, Ada und Angelo, die von ihren Kindheitserinnerungen heimgesucht werden, insbesondere von Erinnerungen an eine mit den Eltern befreundete Person, Lou Tamma, eine Künstlerpersönlichkeit, die ihnen nachgeht, wo immer sie sind, in Rom oder London, im Schlaf oder bei der Arbeit. Der Erzähler selbst ist von dieser Figur fasziniert und versucht, diese Person ausfindig zu machen.
Derzeit schreibt Pierre Testard an einem Roman über drei Musiker, die in einem Wohnwagen am Rande eines kleinen Dorfes in Burgund, im Zentrum Frankreichs, leben. Sie sind beide dem Dorf Anlass für Neugier und Besorgnis, weil sie sehr geheimnisvoll tun, wenn sie über ihre Musik sprechen und offenbar keinen plausiblen Grund für ihren Aufenthalt in diesem Dorf angeben können. Pierre hat 2023 am Literarischen Colloquium Berlin das Eröffnungskapitel des Buches gelesen. Der Link hierzu: https://lcb.de/pierre-testard-uebersetzung/
Interview: Martina Pfeiffer