Das Feingewebe des Originals nicht kompromittieren
Martina Pfeiffer: Über Klippen und Freiräume der sprachlichen Übertragung

Übersetzungskönnerschaft hat mit Wissen und zugleich mit Gespür zu tun. Die Losung: forschen und fühlen. Allerdings: Buchstabengläubig und ein Vasall Konrad Dudens zu sein, bringt bei der Witterung für die Schwingungen der Sprache nicht zwangsläufig weiter. Wir alle kennen Situationen, in denen Kommunikationspartner etwas äußern, das in seiner intendierten Botschaft nicht ankommt. Das Eigentliche bleibt außen vor. Das Nichtgemeinte wird in die Rede hineininterpretiert. Ein offenkundiges Missverhältnis zwischen dem Ausgesprochenen und der parallel erfolgten Übersetzung war bei einem Simultan-Dolmetschen im TV vernehmbar: Im amerikanischen Englisch wurde von "my gut feeling" gesprochen. Ins Deutsche übersetzt mutierte das "Bauchgefühl" ("gut feeling") zum "Gottesgefühl", also zum "god feeling". Fürwahr, ein verfehlter Sinn. Kürzlich gab ein medienwirksam geäußerter Spruch Übersetzerhirnen zu denken: Donald Trumps vollmundige Devise, mit der er den Klimawandel obstinat in Abrede stellt: "Drill, baby, drill". Dies hat rein gar nichts mit einem Schätzchen oder mit einem Baby und Mutterglück zu tun, vielmehr: "Wir bohren auf Teufel komm raus." Oder wenn in unterschiedlichen Zusammenhängen vom "perfect storm" die Rede ist, birgt das für Nicht-Muttersprachler zunächst einen Irritationsmoment. Die Wendung ließe sich – unter Loslösung von Gedanken an eine meteorologisch bedingte Naturkatastrophe – sinngemäß wohl angemessen wiedergeben mit "Schlimmer geht's nicht".
Bezogen auf die Literatur sind kundige Übersetzer bestrebt, die Eigenarten des Textes als Kostbarkeit zu erhalten. Eingedenk dessen, dass der Schriftsinn – unabhängig von der geläufigen Auslegung – auch mehrfach gelagert sein und etwas Unentdecktes beinhalten könnte. Und es ist nun mal nicht Sache der Literaturschaffenden, betreute Führungen durch das mehr oder weniger unwegsame Gelände ihrer Schriften zu veranstalten. Sind Übersetzer eigentlich selber Künstler oder haben sie eher dienende Funktion? Ist die Translation ein zweitrangiges oder ein gleichrangiges Kunstwerk? Wer Texte aus der Fremdsprache in die eigene überträgt, trägt sie lange in sich. Worte gewinnen eine Eigendynamik und hallen nach. Assoziationsspielräume eröffnen sich, mitunter konträre. Dabei meint Übersetzen niemals 1:1 nachzubuchstabieren, am Wort buchstäblich kleben zu bleiben. Wer sich mit fremdsprachlichem Schriftgut beschäftigt, wird vermutlich in der Übersetzung nicht "dasselbe" in seiner eigenen Sprache hervorzubringen versuchen, erscheint dies doch ohnehin nicht machbar. Im Bereich des Möglichen sei, so der Semiotiker Umberto Eco, allenfalls "quasi" dasselbe. Giacomo Leopardi nennt es die unüberbrückbare Eigengesetzlichkeit der Sprache. Und Karl Kraus wusste anscheinend, wie verflixt so ein translatorisches Unternehmen zwischen Fremd- und Muttersprache sein kann, denn: "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück". Festzuhalten bleibt, gutes Übersetzen ist keine kopierende Nachahmung, sondern sprachgestalterische Anstrengung. Und die kann unter Umständen schon an Kleinigkeiten scheitern. Taucht zum Beispiel die Eule auf, so kann es töricht und unfreiwillig komisch sein, die Übersetzung in Richtung "Weisheit" laufen zu lassen, denn dieser Vogel ist, je nach Kulturkreis, ein völlig anderer Symbolträger. Dergleichen Beispiele sind Legion.
Schon August Wilhelm Schlegel wollte zu seiner Zeit eine Übersetzung ohne Kettenhemd. Er sprach davon, das zu Übersetzende dem geistigen Hauch der fremdsprachlichen Worte und Fügungen anzuverwandeln. Die einzig und allein gültige Lesart gibt es nicht. Übersetzen ist eben keine exakte Wissenschaft. Dafür aber eine "exakte Kunst", so der amerikanische Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner. Natürlich gilt es, intratextuellen Verweisen nachzuspüren, aber auch das außertextliche Umfeld mit einzubeziehen. Überdies erscheint es sinnvoll, dass ein und dieselbe Person gleich mehrere Werke eines Autors überträgt, wie im Fall von Swetlana Geier – eine kenntnisreiche und umsichtige Übersetzerin der bedeutenden Werke Fjodor M. Dostojewkskijs.
Die griffige Doppelung "Traduttore, traditore" – der Übersetzer als Verräter am Original – hat ihre Wahrheit bis heute. Gleichwohl kann die Übersetzung beitragen, die Eigenwilligkeiten des Originaltextes zu bewahren, Gedankensprüngen zu entsprechen, Schroffheiten als solche kongenial zur Wirkung zu bringen; Leerstellen und weiße Flächen, die vom Autor in der Ausgangssprache mit Bedacht gesetzt sind, in der Übersetzung ebenfalls offen zu lassen, so dass die Leserschaft sie weiterhin als ergänzungswürdig wahrnimmt. Der Mutter- wie der Fremdsprache im lexikalischen Sinn mächtig zu sein kann nicht genügen. Geht es doch u.a. um Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, Wortneuschöpfungen, Wortspiele, idiomatische Wendungen, Ironiesignale und Paradoxien; auch um den Klangteppich, die Rhythmen, den Satzbau und etwaige willentliche Verstöße gegen den kodifizierten Sprachgebrauch. Bei alledem sollte das Feingewebe des Originals nicht kompromittiert werden. Denn worum es bei der literarischen Übersetzung geht, ist doch wohl nach wie vor dieser hochdelikate "geistige Hauch".
Ganz gleich, wie sehr wir bisweilen mit manchen Übersetzungen hadern: Würden alle Menschen in einer einzigen Universalsprache kommunizieren, brächte uns das um den kulturvermittelnden Genuss, den eine gelungene sprachliche Übertragung in Aussicht stellt.