"Ob ich der Held meines eigenen Lebens werde oder ob diese Stellung jemand anderem zukommt, wird sich zeigen", so lautet der legendäre erste Satz bei Charles Dickens im Roman David Copperfield,  einer großangelegten Emanzipationsgeschichte der Titelfigur. 

"Hero shots" auf Webseiten lenken als Blickfang die Aufmerksamkeit auf das, was sie durch die Art ihrer gesteigerten Präsentation hervorheben; so verleiht beispielsweise gerade die "Untersicht" auf die zu profilierende Person dieser den Anschein von Stärke und Überlegenheit. Der politische Denker Machiavelli hatte zu seiner Zeit bereits die entsprechende Witterung: Wer vom Feldherrnhügel hinabschaut, sieht die konturlose Masse; das große Individuum erkennen nur diejenigen, die aus der Ebene den Blick nach oben richten. Der Nimbus des Heldenhaften verdankt sich offenbar der vorteilhaften Positionierung und – der Distanz. Zumal sich bei Hegel der Gedanke findet, der Kammerdiener kenne keine Helden, denn er ziehe dem Helden die Stiefel aus, helfe ihm beim Zubettgehen und erlebe ihn, aus nächster Nähe,  eben nicht nicht als Übermenschen.

Ob Übermensch oder nicht, es bleibt die Frage, was den Helden ausmacht. Hierzu eine erste Kurzauskunft von Jan Philipp Reemtsma: Der Held muss, um als solcher gelten zu dürfen, auf jeden Fall eins: "eine Saite in uns zum Klingen bringen"-

Odysseus, Herakles und ein Antiheld

Berühmte Heldenmuster sind aus der Antike bekannt. Sie ranken sich z.B. um Achill, Herakles, Odysseus. Ihre zielfixierten Taten und ihre unerschrockene Todesverachtung verlieh ihnen, im Verbund mit Klugheit und List,  eine mythische Qualität. Auf den Durchgangsreliefs des Brandenburger Tores ist die Herkulessage dargestellt. Abenteuer, Krieg oder zumindest der Zweikampf sind klassische Bewährungsfelder von Helden in historischer Überlieferung, Epos, Mythologie und Sagenwelt. Um sich als Held zu konturieren, bedarf es nicht allein einer entsprechenden Positionierung, sondern auch eines Widerparts: Ein strahlender Siegfried wäre nicht das, was er ist, ohne seinen dunklen Kontrahenten Hagen. 

Heroen zeichnen sich weniger durch Lippenbekenntnisse denn durch ihre Aktionen aus. Sie sind wagemutig, wachsen über sich hinaus. Und doch geht es auch anders, und das vor allem in der literarischen Moderne.  Mit der Figur des Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom liefert James Joyce in seinem Jahrhundertwerk  "Ulysses" eine grundlegende Neuinterpretation des homerischen Odysseus. Ganz unheldisch ist "Poldie" Bloom durch sein Aus-dem-Wege-gehen, wenn ihm unangenehme Wahrheiten begegnen – ein Meister im psychologischen Verdrängen. Der Hahnrei als (Anti)-Held. In Dublin wird alljährlich am 16. Juni der sogenannte "Bloomsday" begangen als Hommage an diesen Allerweltshelden von der grünen Insel.   

„Helden des Alltags“ und „Superhelden“

In der realen Welt ebenso wie in der Spielzeugwelt des Kinderzimmers sind neue Helden nachgerückt: Polizist, Sanitäter, Feuerwehrmann, Bauarbeiter werden für die ganz junge Kundschaft als Set unter der Bezeichnung "Alltagshelden" angeboten. Pizzabringdienste beschreiben ihre Boten ebenfalls als "Helden des Alltags". Damendessous sollen als "Sheroism-Kollektion" zum Kauf verleiten. Wer Süßigkeiten mag, für den ist der "Sheroes-Mix" ein Begriff. Eine Berliner Initiative  macht sich auf ihrer Website "Kiezhelden" stark für lokalen Handel und Dienstleistungen. Für den Bevölkerungsschutz werden "echte Alltagshelden" gesucht, mit "Nerven aus Stahl und Herzen aus Gold". Und Bierliebhaber kennen womöglich den Slogan: "Wahre Helden stehen mitten im Leben."

Gleichzeitig macht die Superheldenindustrie Kasse, genießen deren Repräsentanten ein unverhohlenes Renommee. Sie, die muskelbepackt  ihre Feinde unterwerfen und nebenbei auch noch die Welt retten. Der Stellenwert von heroischen Vorbildern im Netz, in Computerspielen, Comics und cineastischen Blockbustern ist – nicht nur bei Kindern und Jugendlichen – hoch zu veranschlagen. Offenbar gibt es ein nachhaltiges Bedürfnis nach Idolisierung und Starkult. Bei genauerem Hinschauen auf Supermänner und –frauen zu entdecken: Ihre nicht selten eindimensional wirkenden Verhaltensmuster, die auf Seiten der Klientel bestimmte Wahrnehmungsraster bedienen. 

Hier ein Held, dort ein Narr

Der Kulturwissenschaftler Christian Schneider kommt in seiner Abhandlung "Wozu Helden?" über die Kultur- und Zeitabhängigkeit der Zuschreibung von Heldentum zu dem Ergebnis: Was ein Held ist, wird durch das soziale Koordinatensystem bestimmt, welches die heroischen Taten bewertet. Ein Held ist einer nicht überall und zu jeder Zeit. Dieselbe Handlung, die ihn hier zum Helden werden lässt, kann ihn dort, in einem anderen Koordinatensystem, zum  Verbrecher machen, oder auch zum Narren. Will sagen: Des einen Held ist des anderen Lumpazius.

Versuchen wir es einmal mit einer kleinen Helden-Begutachtung:  Mal ist er der Himmelsstürmer mit hochfliegenden Ideen und entschlossenen Taten. Dann wieder ein Kümmerer, dessen Augenmerk auf dem Irdischen – den Mitmenschen und dem Alltag – liegt, "einer von uns". Während manch ein Held, der uns beeindruckt, verbindlich festgeschriebene Regeln und Normen verinnerlicht, folgt ein anderer, der bewundert wird, seinem eigenen Gesetz und neigt zu Alleingängen. Für den einen zählen Pflichtbewusstsein und Gefolgschaftstreue, die Gemeinschaft stabilisierend, indem er die Norm sogar an Mustergültigkeit übererfüllt. Der andere zeigt sich gehorsamsverweigernd, hat seinen eigenen Kopf mit abweichendem Wertesystem. Kurt Tucholsky meinte einmal: Nichts erfordere mehr Mut und Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und mit einem ausdrücklichen „Nein!“ Profil zu zeigen.

Heldenklischees auf dem Prüfstand

Ein überdenkenswerter Spruch: „Einmal Held, immer Held.“ Wirklich? Ein Dopingskandal hat schon so manchem Sportidol über Nacht den glänzenden Nimbus geraubt. Und auch sonst ist es fraglich, ob eine/r in allen Lebenslagen ununterbrochen heldenhaft sein kann. Insgesamt gesehen haben Menschen, die als "role model" gelten, doch – genau besehen -  ebenso mit menschlichen Schwächen zu kämpfen wie der unspektakuläre Mitmensch von der Straße: Jähzorn, Alkoholsucht, Liebeskummer, Depressionen oder Angst vor der eigenen Courage. Es dürfte also in jeder Heldenbiographie Phasen oder Situationen geben, die beweisen, dass einer nicht „immer“ das leuchtende Vorbild abgibt.

 Es heißt, sein Ruhm mache den Helden unsterblich. In vielen Städten der Welt finden sich "Heldenplätze". Vielerorts werden solche Lokalitäten, auch Straßen, im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs umbenannt, Denkmäler entfernt. Zunehmend verzeichnen wir in neuerer Zeit die Tendenz, dass das Bild von Kolonialherren, Generälen und Eroberern kritisch hinterfragt wird. Skepsis bei dergleichen Helden ist also angebracht, wie auch bei all denjenigen, die auf „Ruhm“,  „Ehre“ und die „Verewigung“ ihrer Person versessen sind.

Einen davon abweichenden Heldentypus – und den gibt es eben auch - , dem es nicht um Huldigung durch namentliche Nennung und um Aufnahme in eine illustre "Hall of Fame" geht, verkörpert z.B.  der anonyme "Tank Man", der 1989 allein auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking den heranrückenden Panzern trotzte.  Oder die tapferen Feuerwehrmänner vom New Yorker Ground Zero; die namenlosen Bekämpfer kalifornischer und australischer Waldbrände und Buschfeuer. Natürlich ließe sich die Liste noch erheblich erweitern.

Gegenwartsdiagnostisch finden wir in der Gesellschaft statt antiquiertem Heldentum zum Glück auch Zivilcourage bei Menschen, die z.B. Mobbing in der Schule oder Hatespeech im Netz die Stirn bieten; die einschreiten gegen ausgrenzende Äußerungen und Gewalt in den städtischen Verkehrsmitteln oder auf der Straße, die anderen unter die Arme greifen, ihren Mitmenschen in Notlagen beistehen. In diese Riege gehören zum Beispiel Streetworker, Pflegekräfte mit Herz, Ärzte, Sanitäter und freiwillige Helfer in Katastrophen- Kriegs- und und Krisengebieten, die nicht selten ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren.  Ein Held dieser Prägung ist jedenfalls keiner, der – im Kopfkino effektvoll begleitet von Es-Dur-Klängen,  der sogenannten heroischen Tonart –  auf einem Edelhengst ins Abendrot reitet. Oder, um es so auszudrücken, wie es der Philosoph Odo Marquard sinngemäß meinte: Die eigentlichen Helden sind  diejenigen, die den Laden schmeißen, während die „Helden“ gerade mit Heldischem beschäftigt sind.

Und noch ein Klischee

Heldentum – eine reine Männerdomäne?  Moderne Gegenbeispiele gefällig? Denken wir an Irena Sendler, die als Widerstandskämpferin jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto gebracht, sie bei polnischen Familien versteckt und ihnen falsche Papiere besorgt hat. Und die selbst unter Folter der Gestapo die Namen dieser Familien und der Geretteten nicht preisgegeben hat. Eingegangen in die Geschichte ist "Der Busboykott von Montgomery". Ausgelöst wurde dieser durch die Farbige Rosa Parks. Sie bleibt am ersten Dezember des Jahres 1955  im Bus auf ihrem Platz sitzen,  statt diesen für Weiße zu räumen, nimmt Gefängnis und Verurteilung in Kauf und wird durch ihren Akt der Verweigerung zur Leitfigur der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung.  Erinnert sei an Malala Yousafzai aus Pakistan, die für die Bildungsrechte der Mädchen kämpfte und 2012 von fundamentalistischen Fanatikern durch einen Kopfschuss schwer verletzt wurde. Kapitänin Carola Rackete rettet 2019 vom Ertrinken bedrohte Flüchlinge aus dem Mittelmeer und widersetzt sich dem italienischen Innenminister. Jährlich wird der "Heldinnen-Award" von der Alice-Schwarzer-Stiftung verliehen. 2023 erhielt ihn die iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, 2024 die Ärztin Cornelia Strunz zusammen mit der Sozialarbeiterin Virginia Wangare Greiner für ihr Eintreten gegen die Genitalverstümmelung.

Ob Heldin oder Held, oder etwas neutraler ausgedrückt "Vorbilder" – sie haben weitaus mehr an Wert und Tiefe zu bieten als das schablonenhafte und damit leicht austauschbare Draufgängertum aus der Massenkultur.  Sie setzen sich selbstlos für ein höheres Ziel im Dienst der Menschlichkeit ein. Sie leisten unschätzbare Arbeit für den gesellschaftlichen und geschichtlichen Vorwärtsgang – und dies gänzlich ohne das Kalkül der Selbstaufwertung, ohne entbehrliches Gehabe.