Ein ganz herzliches Willkommen zum LiteratInnen-Interview des Kulturrings, liebe Kerstin Hensel. Wir freuen uns sehr, dass Sie heute bei uns sind. Wie ich Ihrer Biografie entnehmen konnte, sind Sie 1961 in Karl-Marx-Stadt, Chemnitz, geboren.  Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Kindheit und Jugend, aus heutiger Warte, was würden Sie über diese Zeit sagen?
Kindheit und Jugend waren bei mir, wie bei den meisten Menschen, prägend. Als Kind nimmt man seinen Lebensort nur als gegenwärtig wahr, als bespielbares Wohnareal, das ist, was es ist. Der Zweite Weltkrieg lag bei meiner Geburt gerade mal fünfzehn Jahre zurück. Die Bombentrichter im Küchwald, die Einschusslöcher der Granaten in den Gebäuden, Häuserlücken und Halbruinen waren sichtbare Merkzeichen der, wie meine Familie verharmlosend zu sagen pflegte, „schlechten Zeit“. Die durch sozialistische Neubebauung in utopischer Weite und sinnlicher Kälte gestaltete Innenstadt, wie auch der berühmte Kaßberg mit seinen Bürgerhäusern und Jugendstilvillen, waren Gegebenheiten, deren tiefere Bedeutung ich erst später erforschte. Im bin im adoleszenten Sozialismus aufgewachsen, mit dem sich meine Eltern klaglos arrangiert hatten. Mein Widerstand gegen das Widerstandslose begann, als ich etwa 14 Jahre alt war.
Ich schrieb darüber u.a. in meinen Erzählungen „Kaßberg“ (1990), „Im Schlauch“ (1993) im Roman „Die Glückshaut“ (2024), sowie im Essay „Die gute böse Stube“ (2024) 

Wann hat sich eigentlich Ihr Interesse für Literatur herausgeschält? 
Es begann als Kleinkind mit Bildgeschichten und Märchen. Als ich selber lesen konnte, las ich alles, was ich in die Finger bekam. ALLES hat mein Interesse für Literatur erweckt und war am Ende für mein eigenes Schreiben in irgendeiner Form wichtig. 

Welche Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren es, die Ihr Interesse geweckt haben?
„Vorbilder“ gab es in meiner Jugendzeit auch – die französischen Naturalisten, russische, sowjetische, englische, lateinamerikanische und subversive osteuropäische Literatur, James Krüss, Bertolt Brecht, Günter Grass, Ernst Jandl, Heiner Müller und einige mehr - eine bunte internationale Mischung. 

Gab es etwas, was Ihnen damals gegen den Strich ging? 
Feigheit, Ignoranz, Dummheit, Bequemlichkeit, Starrsinn, Niedertracht, Lügen, Gleichgültigkeit, Flachdenken, Gewalt und Militarismus. Diese Verhaltensweisen gehen mir allerdings jederzeit gegen den Strich.

Wie wir ja bereits erfahren haben, sind Sie in der DDR aufgewachsen und haben den Sozialismus erlebt. Was sind für Sie persönlich Erfahrungsmomente echter Gemeinschaft?
Begegnungen mit Menschen, mit denen ich in höchster Aufmerksamkeit, ernsthafter Zuneigung, scharfsinnigem Witz und gutem Appetit zusammensitze, ohne auf die Uhr zu gucken. Im Idealfall in einer angenehmen, von Frieden bestimmten Landschaft. 

Wenn Sie künftig Ihre DDR-Zeit nochmals literarisch aufgreifen würden,  was wäre dann Ihr Thema?
Als Literatin schreibe ich nicht „über die DDR“, sondern poetisch fiktive Geschichten, deren Handlungskulisse ich mitunter in die Zeit zwischen 1949 und 1990 im Osten Deutschlands stelle. Peter Hacks sagte einmal „Ich bin ein Dichter und kein Zeitgenosse“. Dem schließe ich mich an.

Ihnen wurden gleich mehrere wichtige Literaturpreise verliehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas spurlos an einem vorbeigeht. Macht ein Preis einen Menschen anders?
Meine Literaturpreise liegen schon eine Weile zurück und verursachten nicht diesen Hype, wie das Preise heute tun. Sie haben mich gefreut, doch nicht verändert. Für mich war und ist Schreiben keine olympische Disziplin, sondern überlebensnotwendig. Gegenwärtig sind hochbepreiste Bücher für den Buchmarkt, der inzwischen ein rein kapitalistisches, d.h. auf Profit orientiertes Unternehmen ist, rentabel. Gewiss auch für die ausgezeichneten Autoren. Und ja, ich kenne einige, auf die sich der giftige Nebel maßlosen Ruhms gelegt hat. Da kann ich nur bedauernd sagen: Alles hat seinen Preis.

Wie können wir uns Ihren Tagesablauf vorstellen, wenn Sie an einem Buch schreiben?
Unspektakulär: Sechs Uhr aufstehen, an den Schreibtisch setzen, schreiben so lange es geht.

Ihr neuer Roman "Die Glückshaut": Die Romanheldin Minna Leichsenring ist 1804 im Erzgebirge geboren. Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Roman im Erzgebirge spielen zu lassen?
Das Erzgebirge ist die Landschaft meiner Herkunftsfamilie. Das ist aber nicht ausschlaggebend für den Roman. Das Gebirge ist, wie der Wald, Kulisse und Symbol. „Die Glückshaut“ ist demnach kein Heimatroman, sondern eine Welterzählung, die im gebrochenen Rahmen des romantischen deutschen Märchenwaldes stattfindet und gleichzeitig aus diesem herausfällt.

Aus welchem Grund lassen Sie die erzgebirgische Mundart in Ihren Roman einfließen?
Dialekte, wenn sie nicht „authentisch“, sondern als Sprache literarischer Figuren verwendet werden, bringen die Geschichte auf eine geerdete Ebene und lassen tief in die Verhältnisse blicken. Außerdem bewahren Dialekte besondere Worte und Ausdrücke. Sie dürfen nur nicht kitschig oder rein museal werden.

Die schwarze Krähe auf dem Buchcover haben Sie mit ausgewählt. Kann Ihr Roman trotz "Glücks"-Titel als "Nachtstück" gelesen werden?
Durchaus. Die Krähe (Rabe) als Symbol/Mythos, die Tod, Unglück, Hexerei, aber auch Neugier und Klugheit assoziiert, durchfliegt meinen Roman als dunkle Weissagerin. 

Ist das Glück ein Kipp-Phänomen, oder anders gefragt: Wie störanfällig ist das Glück? 
Glück ist kein Dauerzustand, sondern Momentsache, störanfällig und flüchtig. Jeder definiert es anders. Das Glück in Grimms Märchen findet sich noch ausschließlich als Wunsch nach Wohlstand und hoher sozialer Stellung. Im wirklichen Leben hatten einfache Menschen damals weder die Zeit, das Bedürfnis, noch die „Erlaubnis“ über individuelles Glück auf Erden nachzudenken und schon gar nicht, es für sich einzufordern.

"Nichts im Übermaß" ist uns aus der Antike überliefert. Vielleicht ein Glücksrezept. Taugen Menschen, die stets darauf bedacht sind Maß zu halten, als Figuren für einen Roman, der das Glück thematisiert?
Ich denke, Maß halten ist eine Bedingung für Zufriedenheit. Zufriedenheit wird oft mit Glück gleichgesetzt. Ein richtiges starkes Glücksgefühl jedoch geht über Zufriedenheit hinaus – also über das angesagte Maß. Ist man zum Beispiel verliebt, dem Tod von der Schippe gesprungen oder man hat einen ganz großen Wurf gemacht, ist man erstmal „wunschlos“ glücklich. Solches Glück bedeutet, dass eine positiv gestimmte Erregungskurve heftig nach oben ausschlägt. Da bleibt es nur meistens nicht lange.

Hierzu passt dann ja meine Folgefrage: Auf Seite 58 Ihres Werks findet sich ein Ausspruch Erasmus von Rotterdams: "Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit". Ein wenig Verrücktheit zuzulassen, das scheint im Unterschied zum Maßhalten noch ein anderes Glücksrezept zu sein. Lässt sich das auch in Ihrem Roman beobachten? 
Ja. Hört man dem Wort “verrückt“ richtig nach, bedeutet es, jemand ist von einer Normposition weggerückt. Der Ver-rückte hintergeht das Gewöhnliche und wird daher von seinen Mitmenschen als störend, bemitleidenswert oder lächerlich empfunden oder gar angegriffen. Verrückte (das meine ich nicht im pathologischen Sinn) können unter Umständen glücklicher (freier) empfinden als Menschen, die mit allem im Einklang stehen und sich problemlos überall anpassen. Das gilt ebenso für das Unglück. Die psychische Schutzhaut eines Normverweigerers ist meistens dünn, da ihm oftmals Liebe und Anerkennung entzogen wird. Die Hauptperson meines Romans Minna Leichsenring ist so eine Außenseiterin. 

Schauen wir uns die Zeitsprünge in Ihrem Roman an. Dazu meine Frage: Bleibt Glück oder Unglück zu allen Zeiten gleich oder hat es jeweils andere Erscheinungsformen?
Wie gesagt, Glück ist flüchtig, mehrdeutig und kulturell verschieden auslegbar. Antike Philosophen haben es als Sinn des Lebens schlechthin betrachtet und es praktischer Weise in der Schmerzfreiheit und der Seelenruhe gesehen. Das ist nicht falsch. Bestimmte Religionen versprechen ihren Anhängern Glück erst im Jenseits, damit sie bis dahin ihre irdischen Pflichten und Gebote erfüllen und nicht Träumen nachhängen. Der diktatorische Kommunismus behauptet, das unwissende Volk müsse durch bedingungslosen Glauben an die Ideologie zum kollektiven Glück gezwungen werden. Auch die NS-Gefühlspolitik machte aus dem Glücksbegriff einen Propagandabegriff. “Kraft durch Freude“ war der Höhepunkt einer der glücklosesten Zeiten der Menschheit. Der heutige Turbokapitalismus propagiert Glück als Besitz, Wohlstand und gnadenlosen Egoismus. Man könnte noch vieles mehr sagen. Fakt ist: Durch die Zeiten hindurch wird der Begriff Glück als Vehikel oft von Machthabern verwendet, um individuelles Glückswissen einzuschränken.

Ist es für Sie vielleicht auch eine Art von Glück, in einer öffentlichen Runde aus Ihrem Roman "Die Glückshaut"  zu lesen? 
Ich finde in meiner Arbeit durchaus glückliche Momente, mitunter auch auf Lesungen. Im Großen und Ganzen jedoch sind meine Lesungen und Publikumsgespräche Herausforderungen, etwas neu und anders zu sehen als gewöhnlich, also etwas ver-rückt zu sein.

Kamen für Sie bei Ihren Lesungen überraschende Kommentare oder Fragen aus dem Publikum?
Von Euphorie bis Ratlosigkeit, vom roten Teppich bis zum Leseboykott war alles dabei. Glück ist für mich, wenn ich etwas beim Leser bewirke, und wenn es ein Aufschrecken ist.

Vielleicht als letzte Frage, Frau Hensel. Worauf dürfen wir uns freuen im Anschluss an Ihren Roman "Die Glückshaut“? Das würde unsere Leserschaft mit Sicherheit interessieren.
Im Frühjahr 2026 wird im Luchterhand Verlag ein Band mit zwei längeren Erzählungen erscheinen. Der Titel: „Abendgruß“. Auch da spielt das Glück eine Rolle, wenn auch auf andere Weise als in der „Glückshaut“.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Nach der 10. Schulklasse machte sie ihre Ausbildung und arbeitete zunächst als chirurgische Schwester. 
Im gleichen Jahr der Geburt ihres Sohnes, 1983, nahm sie ein Studium am Institut für Literatur in Leipzig auf. Dieses beendete sie 1985. In den Jahren 1985-1987 war sie am Leipziger Theater tätig. Seit 1987 ist sie freiberufliche Schriftstellerin. 

Kerstin Hensel erhielt zahlreiche Würdigungen:
Den Anna-Seghers-Preis, den Leonce-und-Lena-Preis, den Lyrikpreis der Stadt Meran, den Förderpreis zum Brandenburger Literaturpreis, den Förderpreis zum Lessingpreis, den Gerrit-Engelke-Preis, den Ida-Dehmel-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium.  Sie ist Mitglied des Pen und der Sächsischen Akademie der Künste 

Werk (Auswahl):
Romane, u.a.: Gipshut, Im Spinnhaus, Falscher Hase,  Zuletzt: Die Glückshaut (2024), erschienen im Quintus Verlag, Berlin.
Erzählungen, u.a.: Hallimasch, Tanz am Kanal, Neunerlei
Lyrik, u.a.: Stilleben mit Zukunft, Schlaraffenzucht
Des Weiteren Essays, Theaterstücke und Hörspiele
In den Jahren 2000-2001 hatte die Autorin eine Professur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Seit 2001 ist sie Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin.

Im umfangreichen Werk von Kerstin Hensel habe ich auch einen Bildband entdeckt, der mich sehr angesprochen hat. Zusammen mit dem Fotografen Thomas Billhardt hat die Autorin   Alles war so. Alles war anders. Bilder aus der DDR (Leipzig 1999) veröffentlicht. Im Vorspann schreibt Kerstin Hensel: […] Thomas Billhardts Aufnahmen zeugen von einer Epoche, die komplizierter und komplexer war als das, was die Zeitschreiber heute vorgeben […] Die Wahrheit steckt hinter den Fassaden. Letztendlich aber ist sie in den Menschen, und man kann sagen: Es gab so viele Deutsche Demokratische Republiken, wie es Menschen gab, die dort gelebt haben […) Die DDR war, wie jedes sozialistische Land, ein Ort, wo der Widerspruch zwischen gedachter und gelebter Utopie und Realität aufs krasseste zutage trat. Aber sie war kein Laboratorium und das Dasein dort kein Experiment. Hinter jedem Menschen steckt ein Leben, kein vorläufiges, sondern ein jahrzehntelang gelebtes. Geschichte kann weder aufgearbeitet noch bewältigt werden. Sie ist nur aus dem Alltag heraus zu begreifen […]"

Interview: Martina Pfeiffer