„Ein Stundenbuch“ - der Untertitel wirkt zunächst anachronistisch. Denn der so benannte Gegenstand ist in seinem Ursprung ein reichbebildertes Brevier, das den Menschen im Mittelalter und beginnender Neuzeit mit Gebeten, Psalmen und Versen zur Andacht diente. John von Düffel,  dessen Band „Das Wenige und das Wesentliche“ den Untertitel „Ein Stundenbuch“ trägt, wählt den Anachronismus bewusst. Denn der Autor hat sein Vademecum für den Menschen geschrieben, der auch im digitalen Zeitalter genau das bleibt: ein Wesen, das früh auf vier Beinen, in der Mittagssonne des Lebens auf zwei Beinen und am Abend auf dreien geht. Will sagen: das krabbelnde Baby, der aufrecht Gehende, der Greis am Krückstock. Das ist der Mensch, zurückgeworfen auf seine blanke Existenz.  Das moderne Leben ändert nichts an dieser Tatsache. „Das Wenige und das Wesentliche“ zeichnet das Bild vom „Asketen der Zukunft“, der bewusst auf das Überflüssige verzichtet und doch immer lebenszugewandt bleibt. Dieses Ideal markiert ein Leben jenseits des Konsums. „Ich kaufe, also bin ich“. Sein enger Bezug zur Warenwelt - für den modernen Menschen eine Ersatz-Religion. Das schöne Shopping-Leben gaukelt Fülle vor, die bei genauem Hinsehen nur eine Leere verdeckt. Von Düffels „Stundenbuch“, ohne religiöse Zweckbestimmtheit neu definiert, zeigt Wege auf, wie in der Beschränkung auf das als wesentlich erkannte „Weniger“ ein Genuss liegen kann, der mit dem Konsumverhalten und seinen Abhängigkeiten nichts gemein hat. Es kündet von einer neuen Freiheit, die sich in der auf das rechte Maß bedachten Fähigkeit ausdrückt, „Genug“ zu sagen und diese Haltung lebenspraktisch einzuüben.

Der Untertitel Ihres Bandes „Das Wenige und das Wesentliche“ lautet: Ein Stundenbuch. Stundenbücher waren den Menschen früher Mittel zur Andacht. Verstehen Sie Ihren Text als Hinwendung zum alten mönchischen Ideal eines Lebens in „maßvoller Einfachheit“? Würden Sie dem zustimmen oder in welche Richtung geht Ihr Rezeptionsangebot?

J.v.D.: Die Stundenbücher der christlichen Tradition waren Wegbegleiter durch den Tag. Und das ist es vor allem, was „Das Wenige und das Wesentliche“ sein will, die Chronik eines Wegs durch die Stunden eines Tages, die man als Wegbegleiter durch seine eigene Zeit lesen und verstehen kann. In Etappen. Mit Pausen. In verschieden Stunden oder Phasen. Schließlich ist ein Tag wie ein Leben. Von der christlichen Tradition grenzt sich der Text aber inhaltlich ab: Die mönchischen Ideale sind aus meiner Sicht Askese-Ideale der Vergangenheit, Gott zugewandt, dem „weltlichen Leben“ entsagend. Ich versuche gerade umgekehrt, eine Askese zu skizzieren, die dem Leben zugewandt ist und am „Weltlichen“ teilnimmt.

Eine Neukonzeption von Askese also. Sie verstehen Askese nicht, wenn ich das richtig sehe, als Beschränkung um ihrer selbst willen, nicht als Selbstkasteiung, sondern als Übung der Konzentration auf das Wesentliche. „Das Wesentliche stellt sich heraus, indem man alles weglässt, was nicht nötig ist“, heißt es bei Ihnen. Demnach schließen sich Askese und Genuss nicht aus?

Ganz genau! Dass wir dazu neigen, Konsum und Genuss gleichzusetzen, ist ein Ergebnis unserer Konsumsozialisation, die umgekehrt jede Art von „Weniger“ als Defizit negativ besetzt. Jedes Produkt gibt sich in der Werbung als Genuss, als Erleichterung, als Freiheitsversprechen aus. Dadurch häufen wir immer mehr auf, geraten in immer mehr Abhängigkeiten, in denen wir oft mehr gefangen sind als dass wir sie genießen würden.

Das Loslassen oder Weglassen ist ein Sich-Lösen aus den vielen Abhängigkeiten, die der Konsum schafft. Ein „Weniger“ im Zuviel unserer Warenwelt ist ein Mehr an Freiheit. Und der Genuss der Freiheit ist noch immer der höchste.

Die „Askese der Zukunft“ beschreiben Sie als die Suche nach einer Lebensweise, die kein „way of life“, kein „lifestyle“ ist. Es ist vielmehr die Umwandlung vorgefertigter Bilder und Meinungen, wie man zu leben hat in die Erkenntnis, wie lebe ich richtig. Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, aber es gibt eine richtige Richtung im Falschen, sagen Sie. „Das Ideal des Asketen ist die größtmögliche Nähe zum richtigen Leben.“ Welcher Art sind die Erfahrungen, die es für Sie gebraucht hat, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?

Mir ist sehr bewusst, dass das große Worte sind. Aber es geht weniger um die Erfüllung eines Ideals vom „richtigen Leben“ als vielmehr um eine Richtung, um einen Kompass, der sich nicht an den Lifestyle-Bildern oder dem „way of life“ einer XXL-Konsumgesellschaft ausrichtet. Es geht um kleine Schritte, um eine Annäherung, die sich leben lässt, die kein radikaler Entschluss ist und kein guter Vorsatz, sondern eine Lebenspraxis, in der man dieses und jenes versucht, und sich von dem freimacht, was man nicht braucht. Für mich war ein Aha-Erlebnis die digitale Askese: die richtige Dosierung und der Verzicht auf ganz viele überflüssige mediale Reize und Überkommunikation.

„Das Zuviel pervertiert den Genuss zur Betäubung“ […] Weil ich nie bekomme, was ich wirklich brauche, bekomme ich nie genug“, sagen Sie. Konsum scheint also ein Opiat zu sein, das die Krankheit verschleiert und die Wurzel des Übels intakt lässt. Wesentliches wird als käuflich suggeriert: Glück, Zufriedenheit, Sozialprestige, Erfolg, Gesundheit, Jugend, Liebe. Die Versprechen der glitzernden Warenwelt verkehren sich nur allzu oft ins Gegenteil. Liest man Ihr Buch, erkennt man den Teufelskreis des Immer-mehr-Wollens und des Nie-Zufrieden-Seins. Inwiefern verschärft das Digitale noch das Problem?

Das Digitale ist ein Versprechen von Weglosigkeit: Alles ist verfügbar, erreichbar, nur einen Klick entfernt. Das hat seine sehr, sehr angenehmen Seiten, das stelle ich nicht infrage. Aber Wege sind auch wichtig. Genauso wichtig wie die äußere und innere Bewegung. Um sich zu spüren. Damit will ich nicht sagen, dass der Weg das Ziel ist. Das Ziel ist weniger interessant als der Grund, als die Frage nach dem Warum. Doch in der totalen Weglosigkeit fehlt der Abstand, fehlt die Distanz – und damit auch die Möglichkeit des Nachdenkens und Zu-sich-Kommens.

Fiona, die Philosophiestudentin aus Schottland, ist für Sie bereits im „Stundenbuch“  die Verkörperung des asketischen Ideals der Zukunft. „Für Fiona ging es nicht um Entbehrungen, sondern um das Entbehrliche. Nicht um Überwindungen der eigenen Bedürfnisse, sondern um das Gespür für sie“. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Gehen auf den gemeinsamen Spaziergängen mit Fiona - hat der Umstand, dass sie nicht am Laptop entstanden sind einen Einfluss auf Ihre Gedanken-Gänge im „Stundenbuch“ ebenso wie im aktuellen Buch „Ich möchte lieber nichts . Eine Geschichte vom Konsumverzicht“?

Ich glaube sehr an die Verbindung von Denken und Gehen, von geistiger und körperlicher Bewegung. Vor dem Laptop oder im Sitzen entstehen die Probleme und Blockaden. In der Bewegung lösen sie sich. Und Fiona – nun, sie ist nicht nur ein Kapitel, sondern ein Buch für sich. Das wusste ich damals beim „Stundenbuch“ noch nicht. Inzwischen habe ich ihr und ihrer Geschichte hoffentlich den gebührenden Raum gegeben.

Der Titel „Ich möchte lieber nichts“ scheint anzuknüpfen an „Das Wenige und das Wesentliche.“ Deshalb komme ich nochmals auf das Thema „Konsum“ und ein falsches Freiheitsversprechen zurück. Das Must-Have erweist sich im Nachhinein zumeist als überflüssig. Kaum ist das Objekt der Begierde konsumiert, erwachen schon neue Begehrlichkeiten. Unterlassen als der einfachste Weg, Abhängigkeiten zu verringern. Konsumverzicht -  ein entscheidender Schritt zu innerer Freiheit?

Innerer und äußerer Freiheit! Allerdings gehört zur Wahrheit dazu, dass die Voraussetzung dafür in dem Privileg besteht, sich entscheiden zu können. Wer keine Wahl hat und zum Allerwenigsten gezwungen ist, für den dürften viele Sätze in diesem Interview wie Hohn klingen. Nur ist die Unfreiheit vieler, die wenig haben, kein Argument gegen Freiheit, sich für das Wenige zu entscheiden. Das heißt nicht „Armut“ wie bei Franz von Assisi. Das heißt lediglich, sich für das richtige Maß zu entscheiden, während ringsum die Maßlosigkeit herrscht.

In Ihrer Schrift „Das Wenige und das Wesentliche“ entwerfen Sie die Gegenutopie zur Ideologie des Wachstums. Können wir mit einer Kultivierung der Kunst der Entsagung Krisen bewältigen und das Überleben des Menschen auf diesem Planeten ermöglichen?

Die Ideologie des Wachstums meint ja vor allem eine immer größere Zunahme des Konsums. Und ich glaube, allen ist klar, dass das auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen und mehr als acht Milliarden Menschen nicht funktionieren kann. Wenn wir weniger konsumieren, werden Ressourcen für vernünftige Dinge frei: für mehr Bildung, mehr Teilhabe, für eine Transformation unserer Lebensweise, die nicht die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bewirkt.

„Wir sind der Lungenkrebspatient, der im Mehrbettzimmer Kette raucht und hofft, dass die anderen aufhören. Wir wissen, dass es so nicht weitergeht und machen dennoch weiter“. Dann aber wiederum die Textstelle: „Die Übernahme einer ganzheitlichen Verantwortung angesichts acht Milliarden Egoismen ist illusorisch […] Der Unterschied, den ich als Einzelner machen kann, ist so verschwindend gering. Nichts ändert sich, wenn ich mich ändere.“ Sehen Sie die gegenwärtige Lage -  allem voran das rücksichtslose, zerstörerische Streben nach Gewinnmaximierung -  also als Problem, das hauptsächlich von der Wirtschaftsform, den großen Konzernen und der Industrie insgesamt ausgeht?

Die Widersprüche, die Sie ansprechen, existieren in dem Text, weil sie in der Realität existieren. Es sind allerdings verschiedene Ebenen, und es geht darum sie zu entmischen. Wenn wir über globale Zusammenhänge sprechen – siehe Pariser Klimaabkommen oder jetzt gerade die Weltkonferenz zur Plastikreduktion – schwanken die meisten zwischen Empörung und Resignation. Der Glaube an eine transnationale Lösungskompetenz ist angesichts der immer aggressiveren nationalen Egoismen und Nationalismen schwer zu halten. Aber auf der persönlichen Ebene frage ich mich trotzdem, was kann ich tun? Und für meinen Teil kann ich nur sagen: Ich tue lieber das Richtige und bewege mich mit kleinen Schritten in die andere Richtung, ehe ich total resigniere – auch wenn mein Handeln im Großen und Ganzen ehrlicherweise nicht ins Gewicht fällt. Dennoch …

„‘Genug’ ist die Bestätigung der richtigen Richtung im Falschen. Die Frage ‚Wie lebe ich richtig‘ ist aufs Engste verbunden mit der Frage ‘Was genügt?‘“. In diesem Zusammenhang erinnern Sie an die Weisheit des Diogenes, der zu Alexander dem Großen sagt „Geh mir aus der Sonne“, als der ihm jeden Wunsch erfüllen will. „‘Genug‘ zu sagen, genug zu haben ist ein politischer Akt des Asketen der Zukunft“ lesen wir im Stundenbuch. Was würden Sie persönlich Alexander dem Großen entgegnen?

Ich weiß nicht, ob ich die Größe hätte, wie Diogenes in seiner Tonne zu dem mächtigsten Mann der Welt zu sagen, er soll mich in Ruhe lassen – wenn er anbietet, mir jeden Wunsch zu erfüllen. Aber die mächtigsten Männer der Welt von heute sind auch andere. Was ich aber sehr wohl spüre, ist die Macht, die darin liegt, nicht nach den gesellschaftsüblichen Prioritäten zu handeln. Und eine gute Methode, die eigenen Prioritäten zu erkennen, liegt darin, herauszufinden, was und wie viel mir genügt. Allein schon die Blicke der Gegenseite, wenn man sagt, danke, mehr will ich gar nicht, das reicht mir … Das Genug ist schon eine Macht gegen das Immer-Mehr!

Interviewerin: Martina Pfeiffer

 

Zur Person
1966 in Göttingen geboren, wuchs John von Düffel u.a. in  Londonderry (Irland), Vermillion South-Dakota (USA) und Oldenburg (Niedersachsen) auf. Studium der Philosophie und Volkswirtschaft in Stirling (Schottland) und Freiburg im Breisgau.
Promotion 1989 über Erkenntnistheorie. Seit 1991 ist er Autor und Dramaturg an Theatern in Stendal, Oldenburg, Basel und Bonn. Von 2000-2009 wirkte er als Schauspieldramaturg am Thalia Theater Hamburg. Nach einer Gastprofessur am Literaturinstitut Leipzig war er Leiter des Dramatiker-Workshops des Berliner Theatertreffens. Hinzu kam die Leitung der Master Class des ITI Suisse, die Stiftungsprofessur am Institut Medien & Theater an der Universität Hildesheim, die Poetik-Professor an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg sowie die Poetik-Professur an der Universität Duisburg-Essen und an der Georg-August-Universität Göttingen. 

Von 2009 bis 2023: Dramaturg am Deutschen Theater Berlin. Seit 2009 lehrt John von Düffel Szenisches Schreiben an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Ab September 2025 übernimmt er die Künstlerische Leitung des Bamberger ETA Hoffmann Theaters. 

John von Düffel ist Autor von zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Bühnenbearbeitungen von Romanen. Eigene Romane und Essayistik u. a.: „Vom Wasser“ (1998), „Zeit des Verschwindens“ (2000), „Houwelandt“ (2004), „Beste Jahre“ (2007), „Goethe ruft an“ (2011), „Gespräch über die Unsterblichkeit“ (2015), „Die Wütenden und die Schuldigen“ (2021). 2022 veröffentlichte er „Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch“ beim DuMont Buchverlag Köln. 2024 folgte „Ich möchte lieber nichts. Eine Geschichte vom Konsumverzicht“, ebenfalls bei DuMont erschienen.

Das Schaffen John von Düffels wurde mit renommierten Preisen gewürdigt, u.a.: Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann Wettbewerb, Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Literatur, Aspekte-Literaturpreis des ZDF, Mara-Cassens-Preis, Preis Das neue Buch des Verbands deutscher Schriftsteller Niedersachsen/Bremen. Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen.

John von Düffel wohnt in Potsdam.

Weitere Informationen: www.johnvondueffel.de