Das Vergangene ist nicht passé
"Des Teufels Heizer": Spannungsmeisterliche Verschränkung zweier Zeitebenen

Ein Interview mit Krimiautor Stephan Hähnel
Als man die Leiche des angesehenen Arztes Dr. Heinrich Sellmann 1976 in Berlin auffindet, sieht alles nach einer regelrechten Hinrichtung aus. Schauerliches Detail: Der Mund des Mediziners ist vollgestopft mit Falschgeldnoten. Die Spur der Blüten führt ins KZ Sachsenhausen, in das Jahr 1945. Massive Widerstände seitens Altnazis und Behörden erschweren Kommissar Kräumings Ermittlungen. Offenbar besteht ein nachhaltiges Interesse daran, den Umstand, dass Sellmann bis 1945 im KZ Sachsenhausen praktizierte und Mitglied der SS war, zu verschweigen. Ein weiterer Mord folgt. Ist ein Serientäter am Werk? Mit dem im Februar 2025 erschienenen Kriminalroman "Des Teufels Heizer" hält Stephan Hähnel seine Leserschaft durch die spannungsmeisterliche Verschränkung zweier Zeitebenen in Atem. Hinzu kommt das Gespür des Autors für die Brisanz historischer Themen.

Ich freue mich über unser Treffen, lieber Stephan Hähnel, und steige ohne Warming up gleich ins Interview ein: Haben Sie vor der Abfassung von "Des Teufels Heizer" Archive durchforstet, Akten gewälzt? Oder haben Sie eher auf Lebensgeschichten gesetzt, die Ihnen erzählt wurden?
S.H.: Der Roman ist eine Mischung aus Fiktion, tatsächlichen Begebenheiten und historisch Belegbarem. Er basiert auf den wahren Lebensgeschichten des Standesbeamten und Leiters des Krematoriums des KZ Sachsenhausens sowie einer Hundeführerin aus dem KZ Ravensbrück.
Zwei sich vollkommen fremde Menschen beschließen am Ende der Todesmärsche kurz vor Schwerin sich zusammenzutun und sich unter falschen Namen als Ehepaar auszugeben, um nicht für ihre Taten belangt zu werden. Eine Lüge, die vor der juristischen Verfolgung schützt und die sie bis zum Ende ihres Daseins aufrechterhalten. Der Zufall will es, dass Dokumente, Briefe und Postkarten bei einer Wohnungsauflösung dem Sohn in die Hände fallen. Nichts von dem, was er über die Vergangenheit der Eltern zu wissen glaubte, ist wahr.
Bildmaterial, Dokumente aus diversen Archiven, Auszüge aus Prozessakten sowie die persönlichen Erinnerungen sind die Grundlage des Romans. Nicht alles konnte ich verwenden, Fragen blieben unbeantwortet, mancher Hinweis war reine Spekulation.
Das haben Hinweise wohl auch im realen Kriminalfall mitunter so an sich…
S.H.: Natürlich bedurfte es zusätzlicher Recherchen. Schon deswegen, weil der Roman auf zwei Zeitebenen stattfindet, im April 1945 und im September 1976. Auch wenn der Roman auf historischen Fakten und Tatsachen basiert, es ist kein Dokumentarroman. Der Reiz für mich bestand darin, einen derartigen Stoff mit den Möglichkeiten eines Kriminalromans zu gestalten.
Woher kommt Ihr generelles Interesse an der Psychopathologie des Verbrechens?
S.H.: Krimi ist Drama. Drama beschäftigt sich auch mit den Leiden der Seele. Der Roman stellt sich der Frage, wie man mit Schuld und Schuldgefühlen persönlich wie auch gesellschaftlich umgeht. In der Psychologie gibt es den Begriff des Schuldwahns. Betroffene sind der unerschütterlichen Überzeugung, schwere Schuld auf sich geladen zu haben. Oft spielen moralisches oder religiöses Schuldempfinden eine Rolle und gehen mit der Erwartung einher, für die empfundene Schuld bestraft zu werden. Was, wenn man sich für die unfassbare Schuld eines anderen, eines vermeintlichen Massenmörders, verantwortlich fühlt?
Gibt es in Ihrem Roman "toxische Lecks", also Momente oder Dialoge, wo fürs Leserauge die Fassade aufreißt und sich Wahrheiten über Hintergründe und Charaktere kundtun?
S.H.: Da gibt es mehrere, verrate ich aber nicht. Oder nur so viel, unter anderem ist es jener Moment, in dem die Schlösser eines Koffers geöffnet werden, wissend, jedes Detail des eigenen Lebens wird dadurch umgewertet.
Was haben Sie für diesen Roman dem Leben abgelauscht?
S.H.: Ein bisschen bin ich wie ein Staubsauger und alles, was der Alltag an Wichtigem und Nichtigem zu bieten hat, nehme ich auf, um es später zu verwenden. Beim Schreiben ist mir dieses Mal immer wieder der Satz von William Faulkner begegnet: „Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen.“
Die Vergangenheit, die nicht passé ist, mischt also auch Ihren Kommissar auf?
S.H.: Ja, so gesehen sind die Gedanken, die sich die Protagonisten, Kommissar Horst Kräuming und die Historikerin Andrea Grabes über die NS-Zeit und ihre historische Aufarbeitung machen, erschreckend aktuell. Die Erkenntnis, wenig oder nicht ausreichend aus der Vergangenheit zu lernen, hat mich erschrocken.
Wird in Ihrem 480 Seiten starken Roman aus einer einzigen homogenen Perspektive erzählt?
S.H.: Die Erzählperspektive springt zwischen zwei Erzählern hin und her: der des Kommissars und der des Täters.
Beim Schreiben kann es passieren, dass sich die Figuren anders entwickeln und verhalten, als sie vom Autor konzipiert waren. Das kann sich als glücklicher Umstand erweisen, der einem lebensvollen Roman zugute kommt. Ist Ihnen im Manuskript von "Des Teufels Heizer" mal eine Figur im Verlauf des Schreibens ausgebüchst?
S.H.: Ich habe zu meinen Charakteren grundsätzlich einen guten Draht. Nicht nur in diesem Buch ist es aber so, dass einzelne Personen ein Eigenleben entwickeln und sich nicht die Bohne darum scheren, was ich ihnen angedacht habe. Verblüfft mich jedes Mal. In diesem Roman war ich seitenweise in die Historikerin verliebt. Hat sie natürlich schamlos ausgenutzt und sich in den Vordergrund schreiben lassen.
Sie sagen über Ihren Kommissar Kräuming, er sei "eigensinnig". Das ist natürlich mit einer gewissen Unberechenbarkeit verbunden. Warum haben Sie Ihren Kommissar ausgerechnet mit dieser Eigenschaft ausgestattet?
S.H.: Ich mag Menschen, die hinterfragen, Dinge nicht als unabänderlich akzeptieren, Bestehendes auf ihre Statik prüfen, nicht fertig sind – im Sinne von perfekt, die mit anderen und über sich selbst lachen können, die machen und Fehler machen, die nein sagen, auch wenn es unbequem ist und die von allein wieder aufstehen, wenn ihnen niemand aufhilft. Kräuming ist ein solcher Typ.
Dr. Sellmann wird buchstäblich hingerichtet. Dem Toten waren gefälschte Geldscheine in den Mund gestopft worden. Ist die Sache mit dem Nazi-Falschgeld in Ihrem Buch an die tatsächliche "Operation Bernhard" oder andere historische Fakten angelehnt?
S.H.: Die "Aktion" oder "Operation Bernhard" spielt eine wichtige Rolle in dem Krimi. Auch wenn ich die Hintergründe ausführlich eingebettet habe und der Grund für die Morde mit den falschen britischen Banknoten zu tun hat, geht es nicht vordergründig darum. Da aber alles mit allem zusammenhängt, lassen sich die Morde nur aufklären, wenn man herausfindet, was sich in den letzten Tagen des Krieges abgespielt hat. Der Kommissar und die Historikerin fahnden sozusagen nach der Wahrheit. Quasi ein Krimi im Krimi.
Es gibt ein Buch mit dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, erschienen 1960 - eine Dokumentation der Greuel, für die dienstbare, todbringende Ärzte in KZs verantwortlich waren. Es gab damals Anfeindungen, als ob die Herausgeber die ungeheuerlichen Taten selbst erfunden hätten. In Ihrem Buch, Herr Hähnel, stellen sich Altnazis und Behörden den Ermittlungen in den Weg. Der Arzt Dr. Heinrich Sellmann hatte bis Mai 1945 in Sachsenhausen praktiziert und gehörte der SS an. Ist die Zeit und die Gesellschaft jetzt reif für dieses Thema? Reif für die Ermittlungen von Kommissar Kräuming, 1976 zum LKA nach Westberlin versetzt, und seiner Assistentin, Historikerin Dr. Andrea Grabes?
S.H.: Der überspitzte Ausspruch: „Ich war's nicht, Adolf Hitler ist's gewesen" aus einem Theaterstück von Herman van Harten beschreibt die Haltung nicht Weniger in der Nachkriegszeit, und ich meine nicht nur Ärzte. 1933 waren 45 % aller Ärzte Mitglied der NSDAP. Bis heute werden diese Jahre von einigen Wirrköpfen sogar als Fliegenschiss verniedlicht und sie bekommen zunehmend Applaus dafür. Ob die Zeit reif ist für solch ein Thema? Eindeutig ja. Abgesehen davon schreibe ich über das, was ich für wichtig erachte.
Halten Sie die Prägung "Gnade der späten Geburt" für akzeptabel?
S.H.: Ohne den Historikerstreit zu bewerten, denke ich, es ist eine präzise Erkenntnis. Ursprünglich wurde der Satz von Günter Gaus geprägt und bezieht sich auf jene Generation, die nach 1930 geboren worden waren und denen man keine Verantwortung für die Zeit des Nationalsozialismus geben kann. Helmut Kohl hat ihn dann leider zur Relativierung genutzt. Tatsache ist aber, niemand kann ehrlich behaupten, wie er sich in jener Zeit verhalten hätte. Bekanntermaßen gibt es die meisten Widerstandskämpfer nach einem Krieg.
"Was hat das mit mir zu tun?" hört man immer wieder, wenn es um die NS-Verbrechen geht. Auf die Schuldfrage angesprochen, weichen die Befragten aus, geben sich genervt oder spielen sie herunter. Die Erinnerung an die Täter scheint ausradiert, keiner will zur Verantwortung gezogen werden als Dulder, Mitläufer oder Helfer. Niemand will ein Nazi gewesen sein, man habe auch keinen in der Familie und überhaupt solle man die Vergangenheit vergangen sein lassen – was der "Wiederkehr des Verdrängten" vielleicht ja gerade Vorschub leistet. Was setzen Sie dieser Schlussstrichmentalität entgegen?
S.H.: Die Zeit, in der es noch Täter und Opfer gibt, ist fast vorbei. Ich kann verstehen, dass manche wenig Interesse haben, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Wunsch nach einem Schlussstrich ist sogar verständlich. Niemand beschäftigt sich gerne mit den schrecklichen Abgründen der Vergangenheit. Dennoch halte ich es für wichtig.
Andererseits erlebe ich fast jeden Tag ein unglaublich medial gehyptes Interesse an der SS, an Schlachten im 2. Weltkrieg oder an Adolf Hitler. Hitlers Frauen, Hitlers Architekten, Hitlers Helfer, Hitlers Hunde, Hitlers Gesundheit, Hitlers Kunst. Sozusagen Adolf Hitler Superstar! Fehlt eigentlich nur noch eine Quizsendung über den Führer.
2013 erschien von Aleida Assmann ein Buch über „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur". Darin schreibt sie, dass wir uns an einem Wendepunkt befinden. Bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben und die Erinnerung an die Judenvernichtung wird dann ausschließlich mediatisiert sein. Die Nachfahren lernen, wenn, dann vor allem aus den Überlieferungen. Sehen Sie sich mit "Des Teufels Heizer" in einer Mission, wenn Sie in Schulen lesen?
S.H.: Nein, es ist ein Angebot, etwas über die Vergangenheit zu erfahren. Das Krimiformat öffnet da möglicherweise eine Tür. Vielleicht auch deswegen, weil es nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommt.
Ist Ihnen im konkreten Fall von "Des Teufels Heizer" einer der Charaktere oder der ein oder andere Satz aus dem Buch nachgegangen oder hat Ihnen sogar eine schlaflose Nacht bereitet?
S.H.: Ja, während des Schreibens und ich habe fast drei Jahre an dem Buch gearbeitet, hat dieser Satz mich beschäftigt: "Ist das meine Hölle, Mutter?"
Interviewerin: Martina Pfeiffer
Die offizielle Buchpremiere ist am 15.05.2025 um 19 Uhr in der Mittelpunktbibliothek Köpenick, Alter Markt 2, 12555 Berlin. Begleitet wird Stephan Hähnel von Martin Sander, Trompeter der Brandenburger Symphoniker und Mitglied des Palastorchesters mit Max Raabe.
Eintritt frei. Um Voranmeldung wird gebeten: (030) 90297 – 18 oder 19.
Nächste Termine: 03.06.25/18 Uhr Spukvilla Albrechtstraße 110, 12103 Berlin; 19.06.25/19 Uhr Kulturküche Bohnsdorf, Dahmestraße 33, 12526 Berlin.