Niq Mhlongo ist ein in Soweto geborener Romancier, Kurzgeschichtenautor, Reisejournalist, Essayist, Redakteur und Pädagoge. 1997 schloss er sein Studium an der Wits University mit einem BA in afrikanischer Literatur und Politikwissenschaft ab. N.M. hat vier Romane geschrieben.  Seine Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Sammlungen veröffentlicht. Er erhielt  mehrere Literaturpreise,  darunter der Herman Charles Bosman Prize, der Mar de Letras und der K. Sello Duiker Literary Award. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, z.B. Französisch, Niederländisch, Flämisch, Deutsch, Birmanisch, Spanisch und Italienisch. Im Interview verrät Niq uns seine Ansichten über sein Herkunftsland Südafrika, über Berlin und nicht zuletzt über Literatur. Zu seiner bevorzugten Lektüre gehören Bernhard Schlink und Jenny Erpenbeck.  Am 06. Juni steht ein großes Jubiläum an: der 150. Geburtstag von Thomas Mann. Niq Mhlongo ist ein begeisterter Leser von Thomas Mann. Daher unterhalten wir uns im Interview auch über den weltberühmten Autor und Nobelpreisträger aus Lübeck.

Niq, ein herzliches Willkommen! Ich habe Ihre Kurzgeschichte "Hundeleben" in der Anthologie "Schlüsselorte", Berlin 2023, gelesen. Ihr Ich-Erzähler verbringt einen Großteil seiner Zeit im Mauerpark mitten in Berlin und scheint dort jedes Wochenende am Treiben teilzunehmen. Ist das so? Und wie sieht es bei Ihnen selbst  aus?
N.M.: Vielen Dank, Martina. Das stimmt. Ich finde Berlin eine "fußgängerfreundliche Stadt" mit vielen Parks, Seen und Büschen. Ich liebe es, in den Parks spazieren zu gehen, und der Mauerpark ist einer meiner Lieblingsparks, wo ich meine Spaziergänge machen kann. Es ist ein Ort, der mich inspiriert. Ich liebe die Energie, die Vielfalt der Kulturen, und die Geschichten, die durch seine Luft zu fließen scheinen. Es ist ein Mikrokosmos Berlins, und die Leute dort treiben mein Schreiben an.

Ihr Protagonist ist im Mauerpark, im Treptower Park und auf dem Tempelhofer Feld unterwegs. Ein Außenseiter aus Südafrika, der bei den einen als "verrückt" gilt, die anderen sehen ihn als "wagemutig" und "furchtlos". Der Ich-Erzähler ahnt, beim Gedanken an diesen Mann, "ein Leben voller leerer Räume und Geheimnisse". Wenn Sie in Berlin unterwegs sind, fallen Ihnen da viele solcher Außenseiter auf? 
N.M.: Wie jede andere Großstadt ist auch Berlin eine Stadt mit vielschichtigen Identitäten und harten Realitäten, die gewöhnlichen Menschen sind jeden Tag damit konfrontiert. Zu diesen harten Realitäten gehören Obdachlosigkeit, psychische Erkrankungen und Einsamkeit. Außenstehende haben oft die fesselndsten Geschichten. Sie leben an den Rändern Gesellschaft, in der Widersprüche und rohe Emotionen am offensichtlichsten sind. Berlin ist eine Stadt der Außenseiter
und diese Figuren spiegeln sowohl die Komplexität der Stadt als auch universelle Wahrheiten wider.

Als der Ich-Erzähler das Foto des Mannes, den er vom Mauerpark her kennt,  auf Instagram und Facebook postet, wird ein Südafrikaner namens Mr. Gama, der Cousin des Mannes, aufmerksam und nimmt den Kontakt auf.  Er schreibt, er kenne den Mann, der als "scorpion" bekannt sei. Sein richtiger Name sei Senzo Nake und er sei seit über vier Jahrzehnten verschollen. Dann kommt der Cousin nach Deutschland und trifft Scorpion. Doch Scorpion will nichts mehr über seine Vergangenheit in Südafrika wissen . Er erhebt eine ernste Anschuldigung: "In diesem Land überleben nur Verräter." Können Sie etwas zu den Hintergründen sagen, wie sich dieses harte Urteil möglicherweise erklärt?
N.M.: Das spiegelt die Kompromisse und moralischen Dilemmata wider, mit denen die Menschen während der Apartheid konfrontiert waren. Überleben bedeutete oft, die eigenen Werte oder die Gemeinschaft zu verraten. Die Aussage fängt den anhaltenden Schmerz ein
und moralische Narben, die diese Ära hinterlassen hat.

"Lass die Vergangenheit ruhen", rät Mr. Gama seinem Cousin. Hat er recht?
N.M.: Das kommt darauf an. Wir können die Vergangenheit nicht ignorieren, denn sie prägt, wer wir sind. Wie wir uns jedoch damit ist es wichtig. Manchmal ist es für die Heilung notwendig, es ruhen zu lassen, aber das sollte nicht entschuldigen Vermeidung von Rechenschaftspflicht oder Reflexion.

Gehören die "Apartheid" und damit auch das Dominanzgebaren der Weißen in Südafrika wirklich der Vergangenheit an?
N.M.: Überhaupt nicht. Die Apartheidsgesetze sind zwar verschwunden, aber ihr Erbe ist tief in den gesellschaftlichen Strukturen verankert. Die Wunden sind immer noch sichtbar in der Wirtschaft, in der Landverteilung und in den Rassenunterschieden. Der Kampf für Gleichberechtigung geht weiter.

Die Wiedererlangung von Würde und Freiheit durch das Erzählen der individuellen Lebensgeschichten – Ist dies das Ziel, welches die TRC (Truth Reconciliation Commission) in Südafrika zu erreichen versuchte?
N.M.: Ja, die TRC versuchte, den Opfern eine Stimme zu geben, die Wahrheit ans Licht zu bringen und eine Heilung einzuleiten. Die eigene Geschichte zu erzählen kann ermächtigend sein, aber ob es seine Ziele vollständig erreicht hat, bleibt dahingestellt. Würde und Versöhnung sind weiterhin in der Debatte.

Sie haben mir erzählt, Niq, dass Sie Bernhard Schlink, Jenny Erpenbeck und Thomas Mann gelesen haben. Ich möchte Ihnen gerne einige Fragen zu dem weltberühmten Lübecker stellen, denn Thomas Mann hat jetzt am 06.Juni seinen 150. Geburtstag.  Was ist es Ihrer Meinung nach, was seinen Erzählstil unverwechselbar macht?
N.M.: Manns Stil ist geprägt von tiefer psychologischer Einsicht und meisterhafter Prosa. Im Tod in Venedig fängt er die innere Zerrissenheit seiner Figuren mit poetischer Präzision ein und schafft eine Erzählung, die fühlt sich zeitlos und fest in seiner Epoche verwurzelt an.

Sie haben mir erzählt, dass Sie Manns Novelle "Tod in Venedig" gelesen haben. Vielen ist der Titel durch den Visconti-Film mit Dirk Bogarde ein Begriff. Hauptfigur der Novelle ist ja der alternde Schriftsteller Gustav Aschenbach, der die Lagunenstadt besucht. Er fühlt sich dort vom Knaben Tadzio angezogen. Vielfache Verweise auf die abendländische Ideengeschichte lassen den gelehrten Schriftsteller erkennen. Ist diese spezielle Novelle in ihre Zeit eingebettet oder könnte man sie als völlig losgelöst von Zeitbezügen betrachten?
N.M.: Es ist beides. Die Novelle reflektiert die kulturellen und moralischen Kämpfe ihrer Zeit, erkundet aber auch universelle Themen wie Begehren, Schönheit und Sterblichkeit, die bei Lesern auf der ganzen Welt und bei allen Generationen Anklang finden.

Lassen Sie mich auf den ersten Teil Ihrer Antwort zurückkommen: Kann Thomas Mann bei aller Ästhetik als Autor gesehen werden, dessen fiktionale Texte auch eine bestimmte politische Haltung freisetzen? Wie schätzen sie ihn ein?
N.M.: Während Mann sich sehr für Ästhetik interessierte, enthalten seine Werke auch politische
Unterströmungen. Vor allem in seinen späteren Schriften beschäftigte er sich mit den sozialen und politischen Umbrüchen seiner Zeit, die seine sich entwickelnde Perspektive zeigen.

Gehen wir über zu einem anderen Autor, den Sie mögen: Bernhard Schlink. Ein zeitgenössischer Schriftsteller, bekannt durch seinen Bestseller-Roman "Der Vorleser" aus dem Jahr 1995. Eng am Roman war die Verfilmung mit Kate Winslet und David Kross in den Hauptrollen. Würden Sie sich der Faszination des Ich-Erzählers für Hannah Schmitz anschließen? Was wir erfahren ist, dass diese Frau als KZ-Aufseherin massive Schuld auf sich geladen hat während der NS-Zeit…
N.M.: Hannah ist ein komplexer Charakter, und es ist verständlich, dass der Erzähler sie faszinierend findet. Sie verkörpert sowohl menschliche Fehler als auch die Möglichkeit der Veränderung. Ihre Schuld kann nicht übersehen oder entschuldigt werden.

Bei allen Vorbehalten ihr gegenüber, gibt es Anhaltspunkte, dass diese weithin ungebildete Frau am Ende des langen Vorleseprozesses doch irgendwie "geläutert" wird?
N.M.: Nein, ich glaube nicht, dass sie völlig geläutert ist. Ihre Schuld bleibt, obwohl sie Momente der Einsicht hat.  Solch tiefgreifendes Maß an Fehlverhalten kann nicht vollständig gereinigt werden. Höhepunkte ihrer Geschichte die Schwierigkeit, sich mit Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen.

Es gab und gibt hochkarätige Männer und Frauen der Feder, die niemals mit den besonders renommierten Literaturpreisen gewürdigt wurden.Jenny Erpenbeck hat für ihren Roman "Kairos" den International Booker Prize 2024 erhalten. Wie ist Ihre Meinung zu literarischen Auszeichnungen? Und warum hat das Wort dieser Schriftstellerin für Sie persönlich Gewicht?
N.M.: Literaturpreise können wichtige Werke ins Rampenlicht rücken und Stimmen verstärken, die sonst vielleicht ungehört blieben. Sie sind jedoch subjektiv und werden oft von Trends beeinflusst. Jenny Erpenbecks Anerkennung ist wohlverdient, denn ihr Schreiben bringt eine einzigartige Tiefe und Perspektive mit sich.

Wenn wir über Tiefe und Perspektive sprechen, da gibt es Menschen, für die machen Bücher, die sie gelesen haben, die Vorstellung von „Heimat“ aus. Für andere hat der Begriff "Heimat" nur eine räumlich-topographische Dimension, für wieder andere eher eine sozial-gemeinschaftliche  Komponente. Wie ist Ihre Einstellung dazu? Und ist "Heimat" etwas, das Sie an Berlin festmachen?
N.M.: Für mich ist "Zuhause" mehr als ein physischer Ort. Es umfasst Zugehörigkeit, Identität und
Gedächtnis. Berlin hat es mir ermöglicht, dieses Konzept neu zu definieren, aber meine Wurzeln in Südafrika sind ein integraler Bestandteil dessen, was "Heimat" für mich bedeutet. 

Braucht das Heimatgefühl, um in der Fremde entstehen zu können, Zeit zum Wachsen?Was braucht es überhaupt dazu?
N.M.: "Heimat" ist sowohl eine Erfahrung als auch ein fortlaufendes Projekt. Berlin hat mir ein Gefühl von Zugehörigkeit zu einer globalen Gemeinschaft gegeben, aber es ist auch eine ständige Reise, um einen Ort zu finden, der sich wirklich wie Zuhause anfühlt. Ich freue mich darauf, dies in Zukunft weiter zu erforschen.

Interview: Martina Pfeiffer

"Hundeleben", in: Schlüsselorte, InterKontinental Verlag, Berlin 2023