Bevor wir uns kennenlernten, waren es nur zwei Worte, die ich von ihr gehört hatte. Ich war wie vom Donner gerührt. Kein Wortschwall, nichts dick Aufgetragenes. Auf die Frage, welches literarische Werk sie gerne geschrieben hätte, sagte sie dem Literaturport: "Madame Bovary". Es war diese kurze Bemerkung, die in mir den Wunsch geweckt hat, dass die Dichterin aus Georgien beim Kulturring-Projekt "Begegnungen Wort-Wörtlich" dabei ist. Ich freue mich sehr über Ihre Zusage, liebe Bela Chekurishvili, und über unser heutiges Treffen.

Nun war ja Gustave Flaubert kein Vielschreiber. Er konnte Gedanken und Seelenvorgänge in Texte umwandeln, die er bis ins Letzte ausfeilte. "Madame Bovary – c'est moi", das bin ich! sagte er. Ein starker Satz, wie ich finde, gerade für einen Mann des 19. Jahrhunderts. Ist es diese außergewöhnliche Fähigkeit, was Sie an ihm bewundern? Oder sein ergründender, unbestechlicher Blick, der ihm den Namen "Monsieur le vivisecteur", "Herr Sezierer", einbrachte?
B.C.: Die Erstveröffentlichung des Romans Madame Bovary in Buchform erfolgte im Jahre 1857. Der Roman wurde ein Bestseller und das Interesse an diesem Buch ist bis zum heutigen Tag immer noch groß. Es ist allgemein bekannt, dass dieser Roman 1856 zuerst zensiert in der Zeitschrift La Revue de Paris erschien. Daraufhin wurde Gustave Flaubert von der Zensurbehörde wegen des "Verstoßes gegen die guten Sitten“ angeklagt und der "Verherrlichung des Ehebruchs“ beschuldigt. Natürlich wird niemand mehr den literarischen Text nach der Moral und dem Verhalten der Figuren beurteilen. Es ist die Beschreibung der Verhältnisse, die den Roman unvergesslich macht. Zunächst war ich von der Form des Textes fasziniert. Der Autor hat die Fähigkeit, Dinge oder Ereignisse so zu beschreiben, dass dieser Text zur Weltliteratur wurde.

Ja, Emma Bovary ­- eine feinsinnige und zugleich sinnliche Frau, die in ihrer drögen Ehe dahinvegetieren würde, wäre da nicht … Den Roman auf die "Sittenwidrigkeit" zu reduzieren, wäre einfältig und würde Flaubert nicht gerecht werden, oder wie sehen Sie das?
B.C.: Gustave Flaubert ist für mich ein außergewöhnlicher Schriftsteller. Er akzeptiert keine literarischen Gesetze, z.B. ist die Exposition im Roman größer im Vergleich mit der Haupthandlung. Auch bleibt unklar, wer erzählt am Anfang über die Jugend des späteren Landarztes Charles Bovary. Ist der Autor sein Klassenkamerad? Wer erzählt danach den Text, die gleiche Person oder ein anderer? Flaubert schafft keine Vorbilder, positive Figuren sind nicht sein Ziel. Er ist auch kein Humanist, sucht nicht nach guten Zügen oder guten Seiten in seinen Figuren. Dennoch sind die Leserinnen und Leser von diesen Figuren gebannt und berauscht, weil sie realistisch und lebendig sind. Jeder Wunsch, jede Bewegung von Emma Bovary ist uns allen bekannt. Hier ist keine Verfälschung, keine Abweichung. Diese Frau mit ihrer Affektiertheit und ihrem Wunsch, sich lebendig zu fühlen ist uns so nahe. Sie schockiert bis heute die bürgerliche Gesellschaft. Ich vergleiche Emma Bovary mit Anna Karenina. Beide hatten ähnliche Eheprobleme, d.h. keine Freude in der Ehe und beide waren tragisch verliebt in Männer, die nichts von Frauen verstanden. „Madame Bovary - c'est moi" –  jeder Autor muss eigene Figuren so empfinden, denke ich.

Stimmen Sie dem Vergleich zu, dass Prosa schreiben wie Steinmetzarbeit und Gedichte schreiben wie Aquarellieren ist? Das jedenfalls meinte Friederike Mayröcker. War Flauberts Arbeit an "Madame Bovary" der eines Steinmetzes vergleichbar?
B.C.: Beide Metaphern sind interessant, beide sind explizit und zeigen die Herangehensweise an die schriftstellerische Arbeit. Gustave Flaubert fand, dass es beim Schreiben am wichtigsten sei, die richtigen Worte zu finden. Deshalb schrieb er so gemächlich, ja sehr langsam.

Sowohl bei der Steinbearbeitung, als auch bei der Aquarellmalerei kommt es auf sehr präzise Handbewegungen an, also auf Genauigkeit, da sonst das Material zerstört wird und die ganze Mühe des Künstlers umsonst war. Genauso verhält es sich mit den Worten, wenn der Autor kein ausdrucksstarkes Wort findet, kommt die Botschaft des Textes beim Leser nicht an. Was die Schwierigkeit beim Schreiben von Prosa und Poesie betrifft, so kann ich sagen, dass es sich in einer bestimmten Art und Weise um eine innere Konstruktion des Autors handelt, es hängt nicht davon ab, ob die Arbeit schwer oder leicht ist. Der Autor macht einfach, was er kann und wie er es kann.

Wer ist die erste Person, die einen fertigen Text von Ihnen lesen darf oder zu hören bekommt?
B.C.: In meinem Freundeskreis während meines Studiums in Georgien war es sehr beliebt, dass wir uns gegenseitig unsere Gedichte und Prosatexte zum Lesen gaben oder vorlasen. An der Universität in Tiflis gab es einen sogenannten Schriftstellerclub, eine studentische Initiative. Einmal in der Woche trafen wir uns im Hörsaal Nummer 93 und lasen unsere frisch geschriebenen poetischen und prosaischen Texte vor, dann diskutierten wir darüber. Seitdem habe ich mir angewöhnt, meine neuen Gedichte meinen Freundinnen und Freunden zu schicken. Ich sende meine Gedichte an drei, vier Leute gleichzeitig, nicht alle von ihnen sind Autoren. Genauso bekomme ich von meinen Kollegen Texte. Es passiert oft in der Nacht.

Georgien ist das Land, in dem Sie geboren sind, in Gurjaani in Ostgeorgien. Sie leben seit einigen Jahren in Berlin Moabit. Was, würden Sie sagen, ist das Unverwechselbare am Moabiter Kiez?
B.C.: Zunächst möchte ich sagen, dass ich zum Studium nach Deutschland gekommen bin und an der Universität Bonn Komparatistik studiert habe. Da mein Partner in Berlin lebt, pendelte ich während meines Studiums zwischen Berlin und Bonn. Mein Berlin habe ich erst richtig während der Covid-Pandemie kennengelernt, als ich lange Spaziergänge zu Fuß machte und oft mit der U- und S-Bahn fuhr. 

In unserem Moabiter Kiez hat man durch das Kopfsteinpflaster auf den Straßen eine gewisse Altstadtatmosphäre. Was mich hier besonders fasziniert, ist die Moabiter Markthalle. Das ist natürlich kein orientalischer Basar wie in meiner Kindheit, so eine Markthalle gab es in unserem Stadtviertel in Tiflis. Leider ist dort jetzt ein moderner Supermarkt entstanden. Die Moabiter Markthallenatmosphäre berührt mich persönlich sehr. Da gibt es einen Metzger und einen italienischen Speiseladen, da habe ich meinen Kuchenstand und meinen Brotstand. Solche Orte bedeuten für mich im Alltag sehr viel.

2019 kam der Bildband "Unterwegs" heraus – Malerei von Birte Svea Metzdorf, Katharina Worring und Franziska Schemel, begleitet von Lyrik, darunter drei Texte von Ihnen. Was heißt es für Sie, weiterhin "auf dem Weg" zu sein, auch wenn Ihr Pass Sie als in Berlin ansässig ausweist?
B.C.: Eigentlich bin ich immer unterwegs, denn mein Aufenthalt in Deutschland ist ja visumspflichtig. Ich muss sagen, dass dieses Unterwegssein mein Kindheitstraum war. Ich bin in einem abgeschotteten Land, der Sowjetunion, geboren und aufgewachsen. Es war lange Zeit sehr schwierig, ins Ausland zu reisen, bis zur Visaliberalisierung und bis das Internet in die Welt trat.

In meinem letzten Gedichtband "Das Kettenkarussell" (Verlag Das Wunderhorn. 2021), widme ich ein Gedicht meinen Geschwistern. Ich zitiere hier aus diesem Gedicht:

"Schuld war nur das Kettenkarussell,
wie seine Schaukeln flogen, ach, so schnell,
aus ihnen sah die Welt so völlig anders aus.
Uns schwindelte,
und jauchzend riefen wir:
„Weißt du was,
ich seh Amerika,
und jetzt kommt Frankreich
und dann Afrika,
und der Atlantik
und der Nordpol – da!“
So flogen wir und kamen um die Welt
und Grenzen gab es nicht mehr, die uns hielten,
und jede Zone war für uns erlaubt“...

Das Wichtigste für mich ist das Gefühl, Teil der ganzen Welt zu sein, andere Menschen treffen zu können, überall meine Stimme erheben zu können. Immer in diesem Zustand zu leben, in dem wir sagen: "The sky is the limit“, erstickt die schöpferische Kraft in jedem Schriftsteller, Künstler… Dieses Gefühl, dass ich ein Teil der ganzen Welt bin, hatte ich vor zehn Jahren, als ich in Georgien lebte, nicht. Sie werden auch zugeben, dass diese Erfahrung für einen Schriftsteller sehr wichtig ist, denn neue Begegnungen bereichern uns.

Das bringt mich zu Ihrem Gedicht "Der Nagel". Flüchtlinge suchen in der Fremde ein Zuhause, oder wie es bei Ihnen heißt,  "einen Ort, um einen Nagel einzuschlagen, den Mantel dranzuhängen" . Danke vielmals, dass Sie Ihr Gedicht zum Weltflüchtlingstag für unsere Hörerschaft als Podcast eingesprochen haben!  Ihre wahre Heimat – Sind das die literarischen Imaginationsräume?
B.C.: Was bedeutet es, zu Hause zu sein? Wenn man von der Phase des Suchens in die Phase des Konstruierens übergeht? Ich fühle mich in einem Schreibprozess zu Hause. Ich kann nicht sagen, dass ich mich heute in Berlin nicht zu Hause fühle. Seit ich in Deutschland bin, haben meine Texte andere Züge angenommen. Diesen Prozess zu beobachten, wie man sich verändert ist doch sehr interessant.

Welchen Unterschied macht es für Sie, Literatur in deutscher Sprache zu lesen oder in Ihrer Muttersprache?
B.C.: Es macht einen großen Unterschied, in welcher Sprache ich lese. In letzter Zeit habe ich mich sehr intensiv mit deutschen Reiseberichten über den Kaukasus beschäftigt. Diese Texte sind so nuancenreich, dass man sie in der Originalsprache lesen muss, um alle Details zu verstehen. Seit ich in Deutschland bin, bin ich ständig in einem Vergleichszustand. z.B. die Gedichte meiner Lieblingsdichterin Emily Dickinson oder meines Lieblingsdichters Federico García Lorca, die ich immer auf Georgisch gelesen habe, lese ich jetzt auf Englisch und auf Deutsch und versuche dann, diese Kleinigkeiten zu verstehen, was der Autor oder die Autorin unter den Zeilen versteckt hat.

Diesen Zustand des permanenten inneren Übersetzens, dieses gedanklich Nie-zur-Ruhe-Kommen im positiven Sinne kennen viele, die "polyglott" sind. Und was gehört noch zu Ihrer bevorzugten Lektüre, in der Originalsprache oder in der Übersetzung?
B.C.: Mein Ziel und Traum war es, die deutsche Sprache gut zu lernen, deshalb habe ich mich an der Universität Bonn beworben. Endlich kann ich die Gedichte von Rainer Maria Rilke lesen. Dann habe ich in der deutschen Literatur auch andere Leidenschaften entdeckt, wie die mittelalterliche Literatur, die Gedichte von Walther von der Vogelweide oder den großen Versroman von Gottfried von Straßburg "Tristan".
Meine Generation, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist und in den unruhigen 90er Jahren studierte, hatte wenig Gelegenheit, Fremdsprachen zu lernen. Ich wollte diese Sprachlücke unbedingt schließen. Auch lese ich gerne die wunderbaren Texte der Weltliteratur auf Georgisch, zum Beispiel Umberto Eco, Elena Ferrante, Salman Rushdie oder Margaret Atwood. Natürlich lese ich in meiner Muttersprache schneller als in einer Fremdsprache, aber die Werke von Franz Kafka oder Thomas Mann, die ich auf Georgisch gelesen habe, lese ich heutzutage noch einmal auf Deutsch.

Gibt es ein Wort in der deutschen Sprache, das etwas in Ihnen zum Klingen bringt?
B.C.: Ich möchte sagen, die deutsche Wortbildung (Komposita) bewegt mich, überrascht mich immer wieder. Ich erinnere mich an meine Begeisterung, als ich zum ersten Mal das Wort "Lebensgefährte" hörte. Die Ausdruckskraft der deutschen Sprache fasziniert immer wieder.
Ich mag das Wort "Freiheit", weil ich das Gefühl habe, dass dieses Wort Flügel hat, dass sein Klang zum Inhalt passt.
Da ich mich mit Übersetzungen von zeitgenössischer Lyrik aus dem Deutschen ins Georgische beschäftige, suche ich sehr lange nach dem passenden Wort oder Begriff, da diese beiden Sprachen eine absolut unterschiedliche Konstruktion haben und unterschiedlich funktionieren.

Und  was treibt Sie in Deutschland zur Weißglut?
B.C.: Vielleicht das, was man in Italien und nicht in Deutschland antrifft – eine gewisse Lebensfreude, die mit Zufriedenheit verbunden ist. Ich meine das, was man in Italien unter dolce vita versteht.

Bietet Berlin für Sie als Künstlerin einen Standortvorteil?
B.C.: Berlin ist eine vielfältige und abwechslungsreiche Stadt, in der man viel lernen und entdecken kann. Ich bin ein großer Fan von Museen und Ausstellungen, Lesungen und Performances. Das alles kann man in Berlin erleben. Mir gefällt auch die Vielfalt der Bevölkerung, ähnlich wie in Tiflis. Ich denke, Berlin ist ideal für Künstler, man ist immer mobil und schläft nicht ein. Das ist eine Stadt, die mich inspiriert.

"Der Osten Leuchtet: Poetische Töne aus Europa", erschienen 2022. Hier sind Sie mit mehreren Gedichten vertreten. Im Vorwort ist betont, dass es bei der Anthologie keinesfalls um Ost gegen West gehen soll. Darin zu finden ist hochkarätige Dichtung von 92 AutorInnen mit Wurzeln in 21 Ländern. Was müsste passieren, damit die Wertschätzung osteuropäischer Dichtung in Deutschland ausgebaut werden kann?
B.C.: Der West-Ost-Diskurs ist ein altes Thema. Nicht nur der Ferne Osten war für die westliche Welt inakzeptabel, sondern auch der östliche Teil Europas. Diese politischen Peripetien kennen wir alle. Der Osten Europas bleibt bis heute fremd. Georgien galt immer als bekannter Orient, das war alles, was man über dies christliche orientalische Land wusste. Eine erste georgische literarische Erzählung stammt aus dem 5. Jahrhundert. Wussten sie das? Wichtig für die Wertschätzung osteuropäischer Dichtung heute ist mehr Information. 

Vermutlich haben diffuse oder sogar verzerrte Vorstellungen den Weg für die Wertschätzung verstellt…
B.C.: In Deutschland gibt es immer noch ein Informationsdefizit über die Literatur aus Osteuropa. Sowohl über die zeitgenössischen, als auch über die alten Autoren aus Georgien weiß man sehr, sehr wenig. Kurz vor 2018 als Georgien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse wurde, übersetzte und veröffentlichte man die zeitgenössische georgische Literatur ins Deutsche. Darunter waren auch meine Gedichtbände im Verlag das Wunderhorn Heidelberg. Da ich immer noch in Deutschland lebe, funktioniert meine Zusammenarbeit mit dem Verlag. Im Allgemeinen ist das Interesse an der georgischen Literatur, besonders an der Lyrik, verloren gegangen. Ich denke, wir brauchen mehr internationale Projekte, persönliche Kontakte und Begegnungen sowie mehr Übersetzungen.

Im Fall des Buches "Säe den Weizen, Ukraine: Lyrik zum Krieg aus der Ukraine und Georgien" sind Sie und die deutsche Lyrikerin Sabine Schiffner die Herausgeberinnen und Übersetzerinnen. Eine Gedichtsammlung, die uns auf bemerkenswerte Weise aktuell und haarscharf betrifft. In Ihrem Band zitieren georgische und ukrainische Dichter einander. Würden Sie etwas zur Tradition der Beziehungen zwischen Georgien und der Ukraine erzählen?
B.C.: Einer der großen Dichter der ukrainischen Literatur war Taras Schewtschenko (Ševčenko), dessen Gedicht "Das Vermächtnis" in der Sowjetzeit auf dem Lehrplan stand. Da es damals wie heute in Georgien Pflicht war, lyrische Werke auswendig zu lernen, konnte jeder von uns dieses Gedicht zitieren. Ich kann hier auch die Anfangszeilen des Gedichtes wiedergeben:

"Wenn ich sterbe, so bestattet / Mich auf eines Kurhanes Zinne,
Mitten in der breiten Steppe / Der geliebten Ukraine“.

Vor dem Hauptgebäude der staatlichen Universität Tiflis steht die Skulptur von Schewtschenko. Es ist auch bekannt, dass der georgische Dichter des 19. Jahrhunderts, Akaki Tsereteli, die Poesie von Taras Schewtschenko als ausschlaggebend für sein Schaffen ansah. Er ließ sich von dessen Gedicht „Kaukasus“ inspirieren und schrieb sein bekanntestes Gedicht darüber. Es handelt von der georgischen Legende des Halbgottes Amiran, der wie Prometheus an den Kaukasus gefesselt war und sich als Freiheitskämpfer mit dem georgischen Volk personifizierte.

Eine weitere ukrainische Dichterin ist Lessja Ukrajinka, die eng mit Georgien verbunden war. Sie lebte 1903–1913 Jahre in Georgien und starb auch dort. Nach wie vor ist sie in Georgien populär. Ihr Leben und ihre Werke sind häufig Thema von Ausstellungen, Lesungen und Aufführungen in unserem Land. Vor kurzem wurde in Tiflis ihr dramatisches Langgedicht „Kassandra“ übersetzt und veröffentlicht.

Ich könnte auch lang über Autoren wie Oksana Sabuschko und Serhij Zhadan sprechen, deren Gedichte in Georgien sehr bekannt sind, oder über Natalia Trokhim, die seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine nach Tiflis gezogen ist und dort als Schriftstellerin tätig ist. Die Sammlung ukrainischer Gedichte zum Thema Krieg wurde auch in Georgien veröffentlicht, und die Autoren stehen in engem Kontakt miteinander. Ich möchte betonen, dass unsere Länder, abgesehen von der literarischen Tradition, in gewisser Weise ein gemeinsames Schicksal als postsowjetische Länder haben und auch einen gemeinsamen politischen Feind wie das russische Machtsystem. Erwähnen möchte hier auch den aus Charkiw stammenden und in Deutschland lebenden ukrainischen Dichter und Übersetzer Yevgeniy Breyger, mit dem ich in Deutschland Kontakt halte. 

In Ihrem Vorwort sprechen Sie von den Kriegen in Abchasien 1992-93, in Südossetien (Samatschablo) 1991-92 und in Georgien (2008). 2016 gehörte einer der Dichter, der auch in diesem Band vertreten ist, Vasyl Machno, zu den Unterzeichnern des Aufrufs des Internationalen Literaturfestivals Berlin "Schluss mit dem Massenmord in Aleppo!" Mir scheint, mit Ihrem Lyrikband wollen Sie die kritische Sicht auf die machtpolitischen Motive und Zusammenhänge vertiefen?
B.C.: Mit unserem Gedichtband wollten wir uns vor allem an deutsche Leserinnen und Leser wenden. Es ist kein abstrakter Krieg, meine ich, es ist keine Fiktion, keine Heldensaga. Wir, die beiden Länder, befinden uns in einem realen Krieg gegen das putinistische Russland. Was können die Autorinnen und Autoren anderes tun, als davon zu erzählen? Viele Menschen in Europa haben die Brutalität dieses Krieges noch nicht begriffen. Sie verstehen nicht, was es heißt, in permanenter Angst vor einem Nachbarland wie Russland zu leben.

Ein besonderes Merkmal des Bandes ist die Nennung eines Statements der jeweiligen Dichter im Anschluss an deren Gedicht. Was kann die Kunst gegen brutale Hegemonie ausrichten? Ein Statements hierzu habe ich aus Ihrem Buch herausgesucht: "Dichtung beendet keine Kriege, aber sie sagt uns, was in Zeiten des Krieges mit dem Menschsein passiert. Sie ist eine Art Barometer […] das uns sagt, wie es um unser menschliches Wetter bestellt ist" (Ilya Kaminski).  Wie sehen Sie die Wirkungsmöglichkeiten Ihrer eigenen Gedichte als Mittel gegen den Krieg?
B.C.: Ich glaube nicht, dass meine Gedichte oder die Poesie im Allgemeinen etwas verändern können, aber ich als Persönlichkeit habe mich während des Schreibprozesses verändert. Als Beobachter dieses brutalen Geschehens habe ich einige neue Eigenschaften in mir entdeckt. Und wenn ich diese Erfahrung an andere weitergebe, dann hilft das vielleicht auch anderen, sich selbst zu verstehen. Und das finde ich sehr wichtig. Nosce te ipsum (Erkenne dich selbst) – eine philosophische Maxime, die auf dem Tempel des Apollon in der antiken griechischen Stadt Delphi eingraviert ist, bedeutet doch den Anfang von persönlicher Entwicklung.

Das nehme ich als Ausklang unserer Wort-Wörtlichen Begegnung, liebe Bela Chekurishvili.   Ihnen wünsche ich weiterhin ein inspirierendes Leben in Berlin, reichlich Schaffenskraft und Erfolg. Ganz herzlichen Dank!

Interview: Martina Pfeiffer