Autorenlesung mit Matthias Nawrat
Die Stadt. Am Morgen holte ich mir einen Espresso in einer Espresso-Bar in unserer Straße und ging Richtung Fluss los. Am Ufer joggte ein Mann in neongelbem Shirt und schwarzen engen Hosen. Vor einem Zebrastreifen blieb der Fahrer eines weißen SUVs stehen und winkte mich freundlich über die Straße. Vor der Kettenbrücke folgte ich mit dem Blick dem Lauf der Donau bis zu den Bergen, die hinter der Stadt am Horizont halb von Nebel verdeckt waren. Dorthin fuhren die Stadtbewohner vermutlich an den Wochenenden, dachte ich, um Sport zu treiben, zu wandern und sich zu erholen. Die Reicheren unter ihnen hatten dort vielleicht Häuser. Alles ist, so dachte ich, wie überall in Europa. […] S. 136 f.
Strukturen. Ich weiß nichts darüber, wie das Leben und die Arbeit hier organisiert sind. In welches Netz aus Abhängigkeiten, Demütigungen oder Möglichkeiten die Menschen in diesem Land eingespannt sind […] Auch weiß ich nichts darüber, wie sich die heutigen globalen Strukturen und Umstände in die lokalen übersetzen. Ich muss hier nicht zur Post, keine Arbeit suchen oder ausführen, ich muss nichts beantragen, nichts mieten, keine Kinder für die Schule anmelden und den hiesigen Lehrplänen aussetzen […]“ S. 137 f.
In den Zeiten von Massentourismus, Tiktok & Co. geben sich viele der Illusion hin, über jeden Ort der Erde im Bilde zu sein. "Die heutige Reiseliteratur kann die Lesenden […] auch in ein Bewusstsein des Durchschauens des eigenen Falsch-Wissens versetzen und ein genaueres eigenes Schauen vorbereiten. Andererseits kann sie vielleicht ein Gegengewicht zu der alltäglichen medialen Repräsentation der Welt sein – ein ruhigeres, mehrschichtiges, historisierendes Verfahren der Auseinandersetzung mit der globalen Gegenwart, dabei im Bewusstsein der Begrenzung der eigenen Perspektive." (M.N. im Interview). Seine Reisen führten Matthias Nawrat "in die Zentren und an die Ränder des postkommunistischen Raums.“ Eine Lektüre, die in Anbetracht der aktuellen geopolitischen Lage besondere Dringlichkeit entwickelt und uns, laut Pressetext, neue Erkenntnisse bringen könne. Für sein literarisches Schaffen erhielt Matthias Nawrat den Adelbert-von Chamisso-Förderpreis, die Alfred Döblin-Medaille, den Literaturpreis der Europäischen Union sowie den Fontane-Literaturpreis.
„Budapest“ (2017)
in: "Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa“, Hamburg: Rowohlt, 2024
Autor und Sprecher: Matthias Nawrat
