"Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, denn es war einmal und will noch nichts gestorben sein, das Mädchen Minna, das zur Welt gekommen war mit einer Glückshaut, und es lief, im Jahr 1813, neun Jahre nach seiner Geburt, zwischen den Bäumen des Miriquidi, jenes Waldes, in dem es von seiner Mutter ausgesetzt worden war, während des Pilzsuchens, in einem der sieben Täler, durch die der Fluss Flöha fließt, und in dem Minna verloren gehen sollte, damit sie den Heimweg verliere […] und Minna lief bergauf, bergab, rief nach ihrer Mutter, suchte den Weg, den sie gemeinsam gekommen waren, und als es dunkelte, trat das Mädchen in morsches Holz, stolperte, fiel hin und erblickte ein Netzwerk aus kaltem grünlichen Licht, das den Waldboden durchzog, und Minna folgte ihm die ganze Nacht hindurch, an Tannen Fichten Föhren vorbei, bis es dämmerte und das Licht verglomm […]" (S. 9)
Durch Kerstin Hensels Roman Die Glückshaut zieht sich die unausgesprochene Frage, ob es zutrifft, dass Minna Leichsenring – 1804 im Erzgebirge in einer sogenannten "Glückshaut" geboren – und ihre Nachfahren tatsächlich mit mehr Glück als andere Menschen gesegnet sind. Ob es also stimmt, was dem medizinischen Phänomen nachgesagt wird, und worin dieses "Glück" denn besteht. Die schwarze Krähe auf dem Buchcover jedenfalls stimmt nicht notwendig optimistisch. Der Roman der 1961 in Karl-Marx-Stadt geborenen Schriftstellerin beschwört in Sprachduktus und Motivik streckenweise ein Märchengeschehen herauf. Doch er ist keineswegs allein im Obergeschoss des Wunderbaren angesiedelt. Vielmehr durchmischt er die Ebenen von Traum und Wirklichkeit, spielt mit unseren Auffassungen von "Glück" und düpiert Erwartungen, wie ein "gutes" Leben zu sein habe.
Für ihr literarisches Schaffen erhielt Kerstin Hensel den Anna-Seghers-Preis, den Leonce-und-Lena-Preis, den Lyrikpreis der Stadt Meran, den Förderpreis zum Brandenburger Literaturpreis, den Förderpreis zum Lessingpreis, den Gerrit-Engelke-Preis, den Ida-Dehmel-Preis. Sie ist Mitglied des Pen und der Sächsischen Akademie der Künste. Seit 2001 ist sie Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin.
Die Glückshaut (Roman), Quintus-Verlag, Berlin 2024
Autorin und Sprecherin: Kerstin Hensel