Das Märchen "Der goldene Schlüssel" der Brüder Grimm bildet den Abschluss der Kinder- und Hausmärchen. Warum entlässt uns das illustre Brüderpaar ausgerechnet mit dieser schmalen Geschichte, in der so manches – zunächst einmal – nicht zueinander passt? Ein goldener Schlüssel und ein eisernes Kästlein. Gold und Eisen. Und auch das kaum erkennbare Schlüsselloch des angetroffenen Kästchens stimmt nachdenklich, ob es überhaupt einen Schlüssel dafür gibt. Das Entsperren des eisernen Kästchens mit dem aufgefundenen Schlüssel steht bevor. Freudvolle Erwartung erfüllt den Knaben. Und tatsächlich: Der goldene Schlüssel passt glücklich ins Schloss des eisernen Kästleins. Aber warum beeilt sich der Junge nicht, nachdem er den Schlüssel einmal gedreht hat, ganz aufzuschließen? Diese Frage geht an uns Lesende, die nunmehr verstärkt miteinbezogen werden. Was mag wohl der Inhalt des Kästchens sein? Schätze von äußerem Glanz? Oder Werte, die den inneren Reichtum ausmachen? Sich das vorzustellen ist unsere Sache: " [U]nd nun müssen wir warten, bis er vollends aufgeschlossen und den Deckel aufgemacht hat, dann werden wir erfahren, was für wunderbare Sachen in dem Kästchen lagen". Das Märchen scheint seine Leserschaft aufzurufen, die Dinge nicht beschleunigen zu wollen, nichts zu überstürzen. Der Knabe handelt nicht voreilig, sondern im richtigen Moment. Und mit einem Mal fügt sich für ihn alles wie von selbst. Die zeitlose Kernbotschaft des Märchens verfängt auch und gerade in unserer modernen Zeit des hektischen Sofortismus. Das narrative Kleinod am Ausgang der Grimm'schen Märchensammlung ist Erzählkunst im besten Sinne mit dem impliziten Appell, eigene Gedanken daraus abzuleiten. Geduld ist der wahre Wert, denn würde alles allzu einfach passen, dann wäre das ja ein Märchen…
"Der goldene Schlüssel", Märchen der Brüder Grimm
Sprecherin: Nicole Weißbrodt