"Verdammt Esther, hör auf mit der ewig Unfertigen, Unvollendeten, ja, ja, ja, du bist unvollendet, ich bin unvollendet, wir alle sind unvollendet und das muss auch so sein. Wer würde sich denn sonst um all das bemühen, aus dem Kreativität entspringt, aus dem Liebe entstehen kann, aus dem heraus sich die Welt überhaupt noch dreht? Du bist arrogant, auch dir selbst gegenüber, ja, Esther, selbstgerecht und maßlos, ja das bist du! Nimm dich hin, wie du bist, hör auf zu lügen […] Unfertig, unvollständig, unvollendet! Vollendet! Schuberts Unvollendete ist vollendet! […] (S. 46)
Tagtäglich gehen wir unzählige Schritte und haben schon fast die Wertschätzung dafür verloren, was es heißt, Fuß vor Fuß setzen zu können, ohne den geringsten Schmerz. Es sind sorglose Schritte, weil gedankenlos. Esther hat von Geburt an einen Wirbelsäulenschaden. 124 Tage Liegegips, Gipskorsett, die Knochentransplantation ein Reinfall – Esthers Hoffnungen, sich bewegen zu können wie andere junge Frauen, zergehen. Ihre Selbsteinschätzung, deswegen "unvollendet" zu sein, belastet ihre Beziehung. Allen Widrigkeiten zum Trotz macht sie ihren Weg und arriviert als Journalistin. Ihr Freund Sebastian, nach einem Autounfall verletzt, gibt die Karriere als Solist in der Musik auf. Der Gedanke, der Mensch als solcher bleibe, so sehr er sich bemüht, doch immer "unvollendet", zieht sich leitmotivisch durch Kornelia Bojes Buch. Für diese Erkenntnis, die sich gegen jeden Perfektionismus als überzogenen Anspruch an sich selbst wendet, schafft die Autorin im Romanverlauf eine Akzeptanz. M.Pfeiffer
Text: "Gesang der weißen Wände" (Roman)
Autorin und Sprecherin: Kornelia Boje