Mehr als 60 Sekunden

Ingo Knechtel interviewt Alexandra von der Heyde

Oft schon musste ich schmunzeln, als ich auf der Kulturring-Website vor dem Videolink die Bemerkung Armin Hottmanns las: „Ich komme fast nicht mit dem Anschauen und Freigeben nach!“ Ich sehe dazu eine freundlich lachende Frau, unterwegs mit Video-Ausrüstung. Und ich erkenne sie sofort wieder, begrüßte sie mich doch immer mit großer Herzlichkeit, wenn wir zu vielen Kulturring-Veranstaltungen aufeinander trafen. Bereitwillig und gern erzählt sie über ihr Engagement und wie es dazu kam.

Was führte Sie als Kolumbianerin zum Kulturring? 
Das war das Kooperationsprojekt „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg, wo es um die Biografien jüdischer Opfer des Nationalsozialismus geht. Mit Unterstützung der argentinischen Botschaft erarbeitete ich die Dokumentation über die Tänzerin Renate Schottelius, eine Elevin der Städtischen Oper Berlin, die mit vierzehn Jahren 1936 allein ins Exil nach Argentinien ging, um der Bedrohung als sogenannte Halbjüdin in Nazideutschland zu entgehen. Als das vollendet war, begann mein komplizierter Weg, die Suche nach einem neuen Projekt oder nach der Möglichkeit, mich einem bereits bestehenden anzuschließen. Ein Weg, der anfangs von Zweifel, Erwartung und doch auch enormer Neugier gezeichnet war.

Was haben Sie unternommen?
Ich stand vor einer neuen Tür, die ich als Bundesfreiwillige öffnete, in der Ernststraße in Baumschulenweg. Unter der Leitung von Armin Hottmann, Geschäftsführer des Vereins, wurde ich dort Teil der Gruppe Videopädagogik. 

Was ging Ihnen damals durch den Kopf? Hatten Sie einen Plan oder eine Idee?
Meine erste Wahrnehmung war: ein Labyrinth, ein Verein, viele Räume unter einem Dach, viele Stimmen in einem Chor, viele Facetten und Gesichter, und ich mittendrin, unsicher, wo mein Platz sein würde. Kulturring.berlin erschien mir wie ein Geflecht aus Wegen, die sich gleichzeitig kreuzen, voneinander entfernen, ineinander münden und doch auf ein gemeinsames Zentrum zulaufen.
Nach einigem Suchen, Lesen und Betrachten stieß ich schließlich auf zwei verloren geglaubte Videos, versteckt in einem längst vergessenen YouTube-Kanal. In diesem digitalen Archiv fand ich meinen Ausgangspunkt, und zugleich die Antwort auf meine Fragen: Wie lässt sich die Fülle der Aktivitäten des Kulturrings sichtbar machen? Wie vermittelt man Kultur in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer wird und Informationen in Sekundenschnelle durch soziale Netzwerke fließen? Meine kurze und präzise Antwort war dann „60 Sekunden Kulturring“.

Leichter gesagt als getan, denke ich. Hatten Sie denn ein Konzept? Oder wie gingen Sie an die Arbeit?
Ich schnappte mir meine Kamera, packte Mikrofon, Stativ, Kabel, Broschüren, Namen, Adressen, und alles, was ich noch für nötig hielt, in meinen Rucksack und machte mich auf, das kulturelle Leben von Kulturring.berlin zu erobern. Na ja, so einfach war es denn doch nicht. Früher war mein Leben so gestaltet, dass Berlin für mich am Alexanderplatz endete, und alles darüber hinaus ein unbekanntes Terrain darstellte. Doch mit dem Kulturring öffnete sich nun eine neue Welt: Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Pankow, Treptow, Lichtenberg. Das waren Orte in Berlin, die mir zunächst fremd waren und in denen ich mich wortwörtlich erst einmal verlaufen habe. Ich erinnere mich an meinen ersten Abend dort. Orientierungslos und unsicher irrte ich durch die Straßen, eine Kolumbianerin, die sich verloren fühlte in Berlin. Und dennoch registrierte ich die erstaunlich beruhigende Wirkung bestimmter Straßenschilder: Simón Bolívar, Pablo Neruda, vertraute Namen aus meiner eigenen kulturellen Heimat, die mir plötzlich in der Fremde den Weg wiesen. Denke ich an all das zurück, so war es in der Tat der Beginn eines neuen Lebensabschnitts für mich, in dessen Verlauf meine neuen Erfahrungen mich künstlerisch, professionell, aber auch persönlich verändert haben. 

Können Sie das etwas genauer erläutern.
Ja, gern. Ich habe nicht nur Projekte dokumentiert, Netzwerke geknüpft und Freundschaften geschlossen, sondern auch ein Gefühl von Zugehörigkeit gefunden. Dieses Netzwerk wächst heute Tag für Tag weiter, getragen von einer Gemeinschaft, die Vielfalt nicht nur als Schlagwort versteht, sondern lebt. Ich begann fast täglich, für „60 Sekunden” zu produzieren, und meine Kamera und ich durchstreiften Berlin von einem Ende zum anderen.

Was verbirgt sich hinter „60 Sekunden“?
„60 Sekunden“ bringt Kunst, Orte, Menschen und Ideen auf den Bildschirm. Es geht um den kompakten Eindruck: ein zentraler Gedanke, ein prägnantes Bild, ein kurzer Moment, der den Kern einer Ausstellung, einer Veranstaltung oder eines künstlerischen Schaffens sichtbar macht. Mittlerweile sind über dreihundert Clips entstanden, die Themen weit gefächert, von Lange Nacht der Bilder Lichtenberg, 30 Jahre Mauerfall, 100 Jahre Groß-Berlin, über Künstlerporträts, Ausstellungsberichten, bis zu Bildungsangeboten, die der Kulturring organisiert, etwa die Bildungstage für Bundesfreiwillige, Kinderkurse, Kurse für Erwachsene und Familienveranstaltungen. 

„60 Sekunden“ bietet einen Überblick und macht zugleich Lust auf mehr: Wer den Clip gesehen hat, möchte oft auch die Ausstellung besuchen oder den Künstler näher kennenlernen.
Woran denken Sie besonders gern zurück?
In Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Lichtenberg haben wir hautnah Künstler und alle Menschen, die hinter ihnen stehen, in mehr als 66 Kurzporträts dargestellt, einen Imagefilm und zwei digitale Touren für die 14. Lange Nacht der Bilder in deutscher und englischer Sprache erstellt. Für mich waren die Interviews mit Künstlern, auch auf persönlicher Ebene, eine besonders bereichernde Erfahrung. Ich habe gelernt, dass ich mit genauem Zuhören und mit ungeteilter Aufmerksamkeit die Künstler als Person und Kunstschaffende kennenlernen und deren Kunst und die Geschichten hinter der Kunst erkennen kann. Dabei habe ich nicht nur Einblicke in die kreative Welt anderer Menschen gewonnen, sondern auch meine eigene Sensibilität, Empathie und Offenheit weiterentwickelt. Es war faszinierend zu sehen, wie sich Persönlichkeit und künstlerischer Ausdruck gegenseitig beeinflussen. Diese Erfahrung hat mir geholfen, Menschen bewusster wahrzunehmen.

Also war und ist „60 Sekunden“ mehr als nur ein Projekt für Sie?
Ja, definitiv. Es war einerseits nicht einfach, jeden Tag öffneten sich neue Türen, aber an manchen musste ich oft klopfen. Eine tägliche, konstante, disziplinierte, aber vor allem sehr menschliche Arbeit war das. Ich sehe sie als Teil auch meiner Entwicklung, als Teil eines Integrationsprozesses. Gemeinsam sind das Projekt und ich gewachsen. Andererseits war es nicht nur die Arbeit hinter der Kamera, die umfangreicher ausfiel, als die Kürze der Videos vermuten lässt. Es ist vor allem der direkte Kontakt mit den Menschen, der menschliche Aspekt, der „60 Sekunden“ wirklich bedeutend macht und dafür sorgt, dass die Ziele, die ich mir vom ersten Tag an gesetzt habe, erreicht werden.

Sie sind also ein rundum zufriedener Mensch. Oder gab auf dem Weg Zweifel? 
In der Zeit der Pandemie gab es die schon. Sie war eine echte Herausforderung, und zugleich sah ich meine Arbeit als besonders wichtig an. Unsere menschlichen Beziehungen wurden auf eine Probe gestellt. Sie mussten nicht nur zu unserem Publikum auf digitalem Weg enger gestaltet werden. Wir mussten es in einer so schwierigen Phase schaffen, Menschen näherzukommen und auch denen beizustehen, die noch nie ein Smartphone oder einen Computer genutzt hatten. Denken Sie nur, dass uns einige ihre Texte schickten, die sie auf ihren alten Schreibmaschinen geschrieben hatten. Gemeinsam lernten wir, in eine digitale Welt einzutreten, und produzierten so mehr als 22 digitale Ausstellungen, darunter auch Ausstellungen von Künstlern, die ihre Werke noch nie in dieser Form gezeigt hatten. Dank „60 Sekunden” konnten wir nicht nur einen engen, dauerhaften Kontakt aufbauen, sondern wir konnten auch in Zeiten der Ausgangsbeschränkungen zumindest digital weiterhin durch die Straßen und Galerien streifen und am Leben teilhaben. Also haben wir es zum Glück geschafft, die Zweifel zu vertreiben und die Krise auch als Chance zu sehen.

Was ist heute Ihr Fazit? Wie kann es weitergehen?
Wir haben beschlossen, das Tempo der Veröffentlichungen beizubehalten und hoffen, dass uns das gelingt. Denn mit jedem Schritt, jedem Gespräch, jeder Aufnahme, wächst etwas in mir: ein Gefühl von Zugehörigkeit. Ich bin nicht länger Beobachterin, sondern Teil dieses Netzes, das mich trägt: Ein Netz aus Künstler:innen, Nachbar:innen, Kolleg:innen, ein Geflecht aus Erinnerungen, Erfahrungen, Aktionen und Visionen, an dem Tag für Tag weiter gewebt wird.