Überraschung. Auf die Frage nach seiner Herkunft bringt mein Gesprächspartner den Weißwurstäquator ins Spiel. Heimatliche Wurstvergleiche sind mir als Thüringer nicht fremd, hat mich doch die Bratwurst immer begleitet. Somit ist klar, wo unser neues Kulturring-Vorstandsmitglied herkommt. An seiner Sprache merkt man Corvin Jordan nicht an, dass er in München geboren wurde und in Lützelsachsen, einem Stadtteil von Weinheim an der Bergstraße, zur Schule ging. Auch erklärt er den Unterschied zwischen Deutschland nördlich und südlich des Weißwurstäquators auf eine neue, für mich interessante Weise: Kommt ein Einheimischer im Süden ins Wirtshaus mit reichlich freien Tischen, setzt er sich mit zu einem anderen Gast an den Tisch, in den nördlicheren Regionen wählt er vorzugsweise einen freien Tisch für sich. Da ist sicher was dran und – obwohl wir uns im Garten in der Ernststraße treffen, ohne Wurst und Bier – spüre ich, dass ein Gesprächsfaden schnell gefunden ist.
Corvin wuchs mit seiner jüngeren Schwester wohlbehütet und umsorgt von den Eltern auf. Die Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete im Siemens-Management. Mit seinen Eltern zog er 1979 nach West-Berlin. Er begann ein Physikstudium an der Freien Universität, zu einer Zeit, als Berlin, wie er sagte, noch „umgrenzt“ war. Irgendwann wollte er auf eigenen Füßen stehen, selbst Geld verdienen. Corvin nabelte sich vom Elternhaus ab. Als die Grenzen fielen, wechselte er an die Humboldt-Uni, um sich dort einen Fachhochschulabschluss als Diplom-Bibliothekar zu erarbeiten. Teil der Ausbildung war ein Praktikum an der Staatsbibliothek. Dies und ein Studentenjob in der Bibliothek des Max-Planck-Instituts brachten ihm erste Erfahrungen für den Beruf. Als sich anschließend die Suche nach einem dauerhaften Arbeitsplatz als hoffnungslos erwies – überall wurde eingespart – zog es den Absolventen wieder gen Süden, diesmal nach Mainz. Im Forschungszentrum des internationalen Schott-Konzerns, bekannt für seine optischen Gläser und auch den traditionellen Standort im thüringischen Jena, leitete er allein eine wissenschaftliche Bibliothek. Später übernahm er eine befristete Stelle in einer neuen Bibliothek in Bischofsheim, nicht weit von Mainz, auf der hessischen Seite des Rheins. Diese Zeit hinterließ bei Corvin Jordan Spuren. Hier merkte er in der täglichen Arbeit, wie wertvoll Bibliotheken für Menschen vor Ort, wie wichtig für sie kurze Wege und ein einfacher Zugang sind. Allerdings fehlten ihm mittlerweile die vielen guten Freunde in Berlin. Corvin entschloss sich 2006, zurückzugehen und Verschiedenes auszuprobieren, „kleinere Experimente und Praktika“. Da ihn historische Recherchen interessierten, engagierte er sich in einem Forschungsprojekt zu 300 Jahre evangelische Luisenkirche in Charlottenburg und zum Schoeler-Schlösschen, dem ältesten Gebäude Wilmersdorfs in der Wilhelmsaue. Er sagte sich, ich such mir was Interessantes aus, keine „sinnfreien Projekte“, als das Jobcenter ihn in verschiedene Maßnahmen vermitteln wollte. So kam er schließlich zum Kulturring. Sechs Jahre lang arbeitete er im Projekt „Rosa Winkel“. Die Schicksale homosexueller Verfolgter im Nazideutschland wurden erforscht, Publikationen erarbeitet und eine vielbeachtete Ausstellung erstellt, die nach dem Start im Paul-Löbe-Haus des Bundestags als Wanderausstellung bundesweit zu sehen war. Corvin Jordan arbeitete im Landes- und Bundesarchiv, wertete Polizei- und Gerichtsakten aus, die in einer Datenbank zu einem Findbuch für Forschungszwecke erfasst wurden.