Klanggeschichten

Christian Reichelt

Irgendwann in den Neunzigerjahren. Ich stehe am Straßenrand, unbewegt, ein Stereomikrofon in der Rechten haltend, und nehme die vorbeifahrenden Autos auf. Mit einer Klarheit, wie sie damals nur ein DAT-Recorder wiederzugeben vermochte, erlebe ich diese Sequenz jetzt erneut fernab des Straßenzuges. Unter meinem Kopfhörer rasen die Autos von links nach rechts – zisch – und umgekehrt. Die Reifen kleben auf dem Asphalt, das schnelle Näherkommen, schneidig durch die Luft sich bahnend, zack und weg, dumpf, Rauschen, Leere. Mein unmittelbares Empfinden: Dies ist echter als die Wirklichkeit. Beim Hören befinde ich mich mittendrin in der Szene. So habe ich die Straße noch nie gehört. Klänge, an denen ich Tag für Tag vorbeilief, im wahrsten Sinne des Wortes. Ist der Fokus ausschließlich auf die Ohren gerichtet ist, hören wir detailreicher.

Was passiert, wenn wir hören? An welcher Stelle kann uns Musik und Klang berühren? Schwingt etwas in uns mit? Fördert es Erinnerungen zu Tage? Die Geräusche im Wartezimmer eines Zahnarztes, die ein surrender Bohrer verursacht, wirken sicherlich anders auf uns als das Schnaufen einer Espressomaschine in einem Café. Aber auch der Einfluss von Musik ist uns allen vertraut. Was wären Filme auf den Kinoleinwänden ohne Musik, Klänge und Geräusche? Wer hat in solch einer Situation nicht schon einmal eine Gänsehaut bekommen, oder wem sind nicht schon einmal unverhofft die Tränen gekommen? Als wenn der Geist außer Kraft gesetzt würde, durchdringen uns Klänge in Sekundenschnelle. Der Körper reagiert, ob wir wollen oder nicht. Mitverantwortlich dafür ist zu einem großen Teil die Musik. Sie entscheidet darüber, welche Emotionen bei uns aufploppen. In der Filmmusik werden gerne die Kirchentonarten verwendet, um Stimmungen zu erzeugen. Uns kann es in diesem Fall verkrampft in den Kinosessel drücken, uns bleibt der Atem stehen, oder wir sind froh und erleichtert, lachen oder sind traurig. All das läuft weitgehend unbemerkt ab, weil die Töne ihre Arbeit im Hintergrund erledigen. Ein Grund mehr, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen.

Eine Geschichte erzählen ohne Sprache? Sind wir in der Lage, uns ausschließlich mit Klängen und Geräuschen auszudrücken? Eine andere Person tritt also in denselben Raum, den wir akustisch erschaffen haben. Wobei es hier mehr um Empathie als um Exaktheit geht. Also Augen zu und hören! Was geschieht um mich herum? Wie verändert sich die Lage? Nehme ich alle Feinheiten wahr? Welche Gefühle und Erinnerungen steigen auf? Wo befinde ich mich?

Wie fange ich an? Aufnehmen was die Umgebung hergibt, ist eine Form, sich dem Thema zu nähern. Klänge zu erzeugen, zu formen, zu kombinieren und zusammenfließen zu lassen, ist eine Kunst. Man muss allerdings keinen akademischen Grad erwerben, um sich auf dieses Experiment einzulassen. Das Grundsätzlichste tragen wir in uns. Den Willen, zu verstehen, Neugier und Experimentierfreude. Auf den Spielplätzen können wir uns dieses Verhalten jederzeit bei den Kleinsten anschauen. Es bleibt nichts unversucht, eine Idee zu verwirklichen. Selbst Schwierigkeiten führen nicht zu Resignation. Als wenn alles angenommen würde, was passiert. Welches Resultat auch immer zu Tage tritt, sie lassen es geschehen. Zurück bleibt höchste Freude.

Haben Sie Lust, etwas Ähnliches zu erleben? Geschichten mit Klängen zu erzählen? Sie haben sich mit dem Thema noch nicht beschäftigt? Gut so. Wir haben im Kulturhaus Baumschulenweg eine Woche für Sie reserviert, in der Sie Ihre Experimentierfreude ausleben können. Es handelt sich um eine Klangausstellung, in der Sie auf verschiedenen Wegen Zugang zu Tönen, ­Klängen und Geräuschen bekommen. Anders als in den meisten Ausstellungen ist hier sogar gewünscht, dass Sie selbst aktiv werden, die Geräte anfassen und ausprobieren. Bereit stehen Mischpulte, alles was für die DJ-Arbeit notwendig ist, elektronische Klangerzeuger sowie Bassgitarre und verschiedenste Perkussionsinstrumente, vom Xylophon bis zum Shaker. Und selbst einem alltäglichen Fahrrad können Sie Klänge entlocken. Lassen Sie sich überraschen.

Für alle, die mehr wissen wollen oder beim Tun Geschmack an der Sache gefunden haben, gibt es in dieser Veranstaltungswoche Workshops zum Thema Klanggeschichten. Probieren Sie es aus. Sie werden erstaunt sein, was zu Tage tritt, wenn sich die Aufmerksamkeit vollständig auf diesen einen Sinn richtet. Es wäre schön, von Ihnen zu hören.

PS: Verschiedene unserer Einrichtungen haben Audioschnipsel produziert. Sie können sie sich hier anhören, viel Freude dabei.

Aktionswoche „Klanggeschichten“ 
im Kulturhaus Baumschulenweg

12. bis 16. Mai 2025

Alles dreht sich um Klänge und Geschichten. Das Thema für eine Geschichte wird gefunden: Stadtleben, Frühlingserwachen, atmosphärische Stille und so weiter. Mit Geräuschen, Tönen und Kängen Geschichten erzählen.

Mo 12.5., 16 Uhr bis 19 Uhr: Grundlagen 
Aufbau, Verkabelung, Equipment verstehen, Erzeugung erster Klänge

Mi 14.5., 11 Uhr: Workshop I
Thema festlegen, Ideen für die Umsetzung finden, Audio aufnehmen, Anhören des Materials

Do 15.5., 18 Uhr: Workshop II
Arrangieren und Mixen bestehender Aufnahmen vom Workshop I, Hinzufügen eigener Klänge, Varianten erstellen

Fr 16.5., 10 Uhr bis 16 Uhr: Experimente
Zeit für Experimente, Equipment verstehen und frei nutzen