Uns fehlen Utopien

Ingo Knechtel

Ein Gespräch mit Ralf Neukirchen, neues Mitglied im Vorstand des Kulturrings

Ralf Neukirchen treffe ich im Kulturhaus Baumschulenweg. Wir sind dort verabredet. Ich kenne ihn inzwischen viele Jahre, regelmäßig ist er zu den Mitgliedertreffen des Vereins zugegen. Und er ist für mich nicht nur der ruhige, umsichtige Leiter der Gruppe ­ANDYMON im Kulturring, sondern auch der Experte in allen Fragen der Science-Fiction-Literatur, obwohl er den Begriff des Experten nicht so gern hört, da gäbe es andere. Seit vorigem Herbst arbeitet er im Vorstand des Kulturrings mit. In den Galerieräumen in der Ernststraße suchen wir einen Platz für das Gespräch, und ich bin überrascht, wie zielsicher er die richtige Kunstecke für unseren Einstieg findet. Die Kunst soll unser Gespräch anregen, „Affinities“ der Treptower Druckkünstlerinnen uns inspirieren, über Science Fiction (SF) und mehr zu sprechen.

Für ausreichend Bücher sorgten in Ralf Neukirchens Familie schon von Kindheit an die Eltern. Die Raumfahrt begann mit dem Sputnikstart 1957, und damit auch das große öffentliche Interesse, verbunden mit vielen Geschichten in Abenteuerheften und Büchern zum Thema. Ralf interessiert sich für Naturwissenschaften. Auf Anhieb fällt ihm eines der ersten Bücher ein: Horst Müllers „Signale vom Mond“, erschienen 1960. Auf seinem Schulweg macht er oft Station in der Stadtbibliothek und kennt bald auch etliche Antiquariate. Die Mutter hat auf ihrer Arbeitsstelle Zugriff auf den Vorankündigungsdienst des Buchhandels, und so ist die Versorgung mit neuen utopischen Büchern deutlich leichter. Ralf liest nicht nur viel über Abenteuer, er lässt sich auch auf eines ein, das seine Zukunft bestimmen sollte. Nach dem Abitur beginnt er sein Berufsleben bei der Polizei der DDR und wird sogleich zum Studium delegiert. Die Fachrichtung Mathematik klingt zwar überhaupt nicht wie Abenteuer, aber die 1970er Jahre sind auch in der DDR die Anfangsjahre der Digitalisierung. Der junge Absolvent wird ab 1979 im Rechenzentrum der Polizei in Biesdorf eingesetzt. Dort wird die Personendatenbank der DDR aufgebaut, die 1984 in Betrieb geht. Ohne dass ich danach frage, sprudelt es aus Ralfs Mund geradezu heraus: Orwells 1984. Ja, er hat das Buch schon damals als Student gelesen. In den 1950er Jahren riskierte man noch Gefängnisstrafen dafür, später war es wohl nicht mehr ganz so gefährlich. Der Überwachungsstaat sieht sich im Spiegel – die Big-Brother-Fiction von 1948 findet ihre Getreuen im Realsozialismus. „Es war nun keine Science Fiction mehr. Wir hatten die DDR-Bevölkerung auf der Platte.“ Beide wollen wir nun nicht weiter darüber fabulieren, wie sehr ein fiktives Wahrheitsministerium in der heutigen Zeit mit Sprachregelungen, KI und Bots für Unruhe, aber auch erzwungenes Schweigen sorgen könnte. 

Wir wenden uns lieber den SF-Clubs in der damaligen DDR zu. Ralf Neukirchen weiß bestens Bescheid, erzählt darüber auch mit Mitgliedern von Andymon in diesem Heft. Im Internet kann man ihn sehr sachkundig über SF in der DDR in einem Interview für die Stiftung Aufarbeitung von 2022 hören. „Solaris“, der Film von Andrej Tarkowski nach dem Roman von Stanislaw Lem, begeistert Ralf damals sehr und lässt ihn zum Fan werden. Er bringt uns im Gespräch darauf, dass Science Fiction in den verschiedensten Kunstgenres zu finden ist. Es gibt „Solaris“ neben dem Buch als Film, Bühnenstück und Oper. Zur Science Fiction ganz allgemein entstanden unzählige Illustrationen, Poster und andere Kunstwerke, aber auch die Rock- und Popmusik greift Sujets aus der SF auf. Auf die Frage, ob es genau dieses Übergreifende, Interdisziplinäre ist, das die Gründer von Andymon zum Kulturbund gebracht hat, meint er: „Ja, doch vor allem war es die Möglichkeit des Dialogs, des gegenseitigen Austauschs. Wir haben viele Autoren, aber auch Wissenschaftler, persönlich kennengelernt, sie eingeladen und uns von ihnen inspirieren lassen.“ Er erzählt von den Tagen der Phantasie, die der Club veranstaltete. Ich frage Ralf, ob der Kulturring nunmehr einen Visionär im Vorstand hat, und er lacht. Ich bohre weiter und will wissen, ob der Gesamtverein von Andymon lernen kann, welche Ideen er in die Vereinsarbeit einbringen will. Er fängt klein und bescheiden an, spricht von Berliner Kiezbezogenheit, von Pflichtbewusstsein, davon, dem Verein etwas zurückzugeben, aber auch davon, Leute zusammenzubringen. „Ein Vorstand gehört nunmal dazu, ohne ihn ist ein Verein nichts. Und natürlich sind die Mitglieder mit ihrem Engagement entscheidend dafür, wie stark ein Verein ist und was er auf die Beine stellen kann. Aufgabe des Vorstandes ist es, dies zu unterstützen.“

Ich spüre, wie die Adrenalinkurve nach oben geht. Er spricht davon, dass ein Verein vielleicht zehn Prozent Durchreißer, Ideengeber hat, vielleicht fünfzig Prozent aktive Mitglieder. Das sind in seinen Augen wichtige Grundlagen. „Auch beim Kulturring kommt es darauf an, übergreifend zu arbeiten, in die Breite zu gehen, möglichst viele einzubeziehen. Dann werden wir auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen.“ Ich frage, was er von Themenmonaten hält, in die alle Sparten und Gruppen des Kulturrings einbezogen werden. Er erinnert sich an das vergangene Jahr sowie die Beiträge mit dem Blick aus dem Fenster und sagt dazu: „Ein Blick in die Zukunft ist wie ein Blick aus dem Fenster.“ Und schon sind wir bei Themen wie der näherkommenden Klimakatastrophe oder Krieg und Frieden. Auf meine Frage, ob wir uns eigentlich nur noch Dystopien, also Schreckensfiktionen, gegenübersehen, sagt er. „Sie haben ihre Berechtigung, sie sollen mahnen und warnen. Aber was uns heute fehlt, sind Utopien!“ 
Was sagt ein Science-Fiction-Experte zur Aussage der Schriftstellerin Julia Schoch, die kürzlich in einem Interview der Berliner Zeitung, als es um Neigungen zu einer Neubewertung der DDR ging, äußerte: „… es ist offenbar eine deutsche Spezialität, dass man sich in die Vergangenheit rettet, wenn man nach Lösungen für die Zukunft sucht.“ Ralf überlegt lange. Ihm fällt ein Abschnitt seines Berufslebens ein, als er im Land Brandenburg im Aufgabengebiet Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft tätig war. Sicher würde er es so nicht sagen. „Denn wir haben eine Verantwortung, aus der Vergangenheit zu lernen. Dazu muss man sie aber auch kennen.“ Er ist sofort wieder beim Kulturring und spricht davon, dass der 80. Jahrestag der Befreiung, des Kriegsendes, anstehe, dass sich der Vorstand dies als wichtigen Termin in seiner Jahresplanung vorgenommen hat. „Dazu werden sicher nicht nur die Geschichtsfreunde Karlshorst einen Beitrag leisten.“ Ich freue mich, dass wir immer wieder auf ganz konkrete Vorhaben zu sprechen kommen, die zeigen, dass kulturelle Begegnungen und Dialoge dringend gebraucht werden. Übrigens wird Ralf Neukirchen bei einem Freiwilligentag am 3. April für die Teilnehmer des Bundesfreiwilligendienstes im Kulturring mitwirken. Mir bleibt am Ende des Gesprächs nur, Dank zu sagen für ein außergewöhnliches Engagement und inspirierende Gedanken.